Im Fokus der Filmwissenschaft standen bislang überwiegend Einzeldifferenzen, die die Fachgeschichte maßgeblich geprägt haben. Hierzu zählen vor allem die Geschlechterdifferenz, aber auch Ethnizität, Nationalität und Klassenunterschiede. Darüber hinaus wird mit Blick auf nicht-menschliche Tiere oder künstliche Intelligenz zunehmend die anthropologische Differenz schlechthin zur Disposition gestellt. Jenseits dieser Großerzählungen spielen auch mediale Unterscheidungen – etwa die Rede von Formaten wie ‚die kleine Form‘, ‚die große Leinwand‘, fiktional oder dokumentarisch, analog oder digital etc. – eine bedeutsame Rolle in Theoriebildung und wissenschaftlicher Praxis.
Die No 20: Einen Unterschied machen reagiert darauf und nimmt die Produktion von Differenz und Differenzen im Film und den produktiven Umgang mit ihnen in der Filmwissenschaft in den Blick. Die einzelnen Beiträge der Ausgabe widmen sich unterschiedlichen Materialien und Kategorien, die sie in unterschiedlichen Weisen ins Verhältnis zueinander setzen. In der Gesamtschau der versammelten Perspektiven erweist sich nicht nur die gemeinsame Methodik des Relationierens, sondern eben auch die analytische Spezifik als von enormer Bedeutung für eine aktuelle filmtheoretische Annäherung an Differenz/en.
Durch ihre offensichtliche Heterogenität hindurch – im Sinne von Karen Barads (2007) diffraktiver Methodologie des ‚Durcheinanderhindurch-Denkens‘ – ist allen Beiträgen der No 20 eines gemein: die kritische Diskussion des Verhältnisses filmischer zu anderen kulturellen Differenzen. Ohne die konkreten Gegenstände und Argumentationen der Beiträge tilgen zu wollen, ließe sich resümieren, dass die aufgerufenen Einzeldifferenzen als solche in Frage stehen: Jenseits ihrer vorläufigen (analytischen) Benennung zur Verständigung können einzelne Differenzkategorien kaum als für sich gegeben verstanden werden. Und doch sind die Effekte dieser Differenzierungen so real wie prekär. Die hier versammelten Diskursbeiträge deuten insofern klar darauf hin, dass sowohl das Verhältnis soziokultureller Differenzkategorien untereinander als auch jedes Verhältnis ästhetischer zu diskursiven Differenzen stets als verflochten, dynamisch, prozessual und im strengen (ko-konstitutiven) Sinne relational gedacht werden müssen. Diese Verflochtenheit stellt Differenz jedoch keinesfalls der Beliebigkeit anheim oder eine Utopie der Auflösung von Differenzen in Aussicht. Vielmehr hat gerade diese Relationalität auch ausgrenzende, verletzende und wortwörtlich fatale Folgen, etwa wenn sich mehrere Diskriminierungsformen intersektional verstärken. Relationieren – bestimmten Verhältnissen nachzugehen, ihre Effekte ernst zu nehmen – bedeutet folglich nicht relativieren. Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit je spezifischer Analysen und materialorientierter Theoretisierungen von Differenz/en. Denn, wie Donna Haraway die Spezifik von Relationalitäten auf den Punkt gebracht hat – die auch für sämtliche Differenzverhältnisse innerhalb dieser Ausgabe gilt: „Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden.“ (2016: 48)
Entsprechend lässt sich die Ausgabe als Fadenspiel im Sinne Haraways lesen. „Einen Unterschied machen“ kann sich, folgen wir den Fäden der Einzelbeiträge, zunächst auf basale mediale Differenzen und Systematiken beziehen, wenn Olga Moskatova vorschlägt, Personalisierung im Small Screen Cinema von Netflix & Co. als Modus nicht nur der Empfehlung, sondern vor allem der Klassifikation zu begreifen. Dieser Modus kann Tullio Richter-Hansen zufolge daneben als entscheidende Sphäre sportfilmischer Klassen-Wettkämpfe verstanden werden, insofern sich im Zuge situierter Differenzrelationen im Klassenbegriff – zugänglich gemacht oder verstellt in Tennisdarstellungen – Implikationen von Klassenkampf und übergreifend klassifizierender Mechanismen treffen. Differenzerfahrungen und Klassenfragen sind somit, wie auch Guido Kirstens Blick auf FISH TANK zeigt, keinesfalls identisch, sondern letztere stets intersektional mit anderen Analysekategorien wie Geschlecht verschaltet. Inwiefern das Verhältnis von Klasse, Gender und der Mensch-Tier-Unterscheidung auf eine gegenseitige Vervielfältigung von Differenz und damit auf die Historizität der Idee der Einzeldifferenz verweist, lässt sich an Sabine Nessels Analyse materiell-semiotischer Knotenpunkte in BIRD PEOPLE nachvollziehen. Ähnlich der ausdifferenzierenden Metapher der Verknotung kann ein Verstricken als Methode des Zusammendenkens der diversen Fluchtlinien von Differenz dienen, das Maja Figge aus Rey Chows Theorien und (der Analyse von) Reisefilmen entwickelt. Eine andere methodische Wendung veranschlagt Golnaz Sarkar Farshis systemtheoretisch informierte Beobachtung ‚Film ist Differenz!‘ – nämlich als Kommunikationsform im Sinne eines fortwährenden Widerstreits von Potenzialen und Aktualitäten. Eine solche grundlegende Doppelwertigkeit findet Bettina Henzler auch Im (An-)Blick des Kindes, insofern die filmische Hinwendung zu schauenden Kindergesichtern deren Differenz zu Erwachsenen als nicht nur kulturell, sondern eben auch filmästhetisch konstruiert fassen lässt. Das dafür entscheidende Prinzip der Alterität bzw. Fremdheit ist ebenso für ‚Revenants‘ als filmische Figuren zentral, die Florian Flömer – anlässlich Denis Côtés ähnlich betitelten Spielfilms – an eine Ghost Town Hauntology im Sinne Derridas denken lässt. Im Fachgespräch von Linda Waack mit Julia Bee, Nicole Kandioler und Alena Strohmaier werden insbesondere epistemologische, methodologische und politische Facetten des Themas Differenzen in der Filmwissenschaft diskutiert, u.a. an Beispielen aus Indigenen, osteuropäischen und diasporischen Zusammenhängen.
Die Gesamtheit der Beiträge kennzeichnet eine weitere, nämlich genealogische Differenz: Einerseits versammeln wir hier überarbeitete Vorträge des Online-Workshops „Einen Unterschied machen – Differenz und Differenzen in der Filmwissenschaft“, der am 11. Juni 2021 als Kooperation der AG Filmwissenschaft der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) mit dem DFG-Forschungsprojekt „Figurationen der Differenz in filmischen Bewegungsbildern“ sowie als Zusammenarbeit der Freien Universität Berlin mit der Universität Bremen veranstaltet wurde. Andererseits sind im Nachgang einige zusätzliche Beiträge hinzugekommen, die den filmwissenschaftlichen Differenzdiskurs über den Workshop hinaus weitergedacht haben.
Neben unserem großen Dank an die (sichtbaren) Autor*innen und (unsichtbaren) Gutachter*innen dieser Ausgabe danken wir Paula Ziegler und Sophie Hartleib für ihre vielfältige tatkräftige Unterstützung sowohl bei der Durchführung des Workshops als auch in der redaktionellen Mitarbeit dieser Ausgabe ganz herzlich.
Natalie Lettenewitsch, Sabine Nessel, Winfried Pauleit und Tullio Richter-Hansen
Barad, Karen (2007) Meeting the Universe Halfway. Durham/London: Duke University Press.
Haraway, Donna (2016) Unruhig bleiben. Frankfurt/New York: Campus 2018.