Eine Skizze zur komplexen Untersuchung von Differenz/en im Film
Meine Überlegungen beginnen mit der Beschreibung einer filmischen Szene. Sie findet sich zu Anfang des ersten Teils „La caméra impossible“ von Louis Malles fast sechsstündiger Serie L’INDE FANTÔME: RÉFLEXIONS SUR UN VOYAGE (F 1969–1969). Diese wurde zunächst im französischen Fernsehen, dann von der BBC in England ausgestrahlt und basiert ebenso wie der Kinofilm CALCUTTA (F 1969) auf Malles fast fünfmonatiger Reise in Indien.1 Hier dient die Szene als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit einer methodischen Frage, nämlich: Wie lässt sich der Komplexität der Machtverhältnisse in einer Analyse gerecht werden, die die Filme, ihre Produktionsgeschichte, ihre Ästhetik, aber auch ihre Rezeption vor dem Hintergrund der relationalen Gefüge aus Menschlichem, Nicht-Menschlichem, Technologischem, Diskursivem/Epistemologischem begreift, die diese möglich gemacht haben? Diese als Entanglements – als Verflechtungen oder Verstrickungen – zu verstehen, ist mit Blick auf die transdisziplinäre Konjunktur des Begriffs nicht gerade eine neue Erkenntnis. Um was es mir hier vielmehr geht, ist der Versuch, das Verstricken selbst mit Bezug zu Rey Chows Überlegungen zum Begriff methodisch produktiv zu machen, um dem (Film-)Material gerecht zu werden. Hierfür entfalte ich nach der Beschreibung der Szene zunächst die verschiedenen Dimensionen der Entanglements, die mir nicht nur für diese Filme, sondern für transnationale Filmpraktiken insgesamt wirksam und relevant erscheinen. Damit möchte ich einen Vorschlag zur Analyse zu unterbreiten, der am Ende des Aufsatzes mit einem kursorischen Vergleich mit einer weiteren Filmszene, dem Beginn von S. Sukhdevs INDIA 67 (IND 1968), exemplarisch werden soll.
Die Ausgangsszene steht bei Malle nicht direkt am Anfang der Episode, sondern folgt auf einen kurzen Prolog, einer Montage aus kurzen Interviewsequenzen nach dem Vorspann. Der Vorspann selbst besteht aus wechselnden Großaufnahmen von Gesichtern indischer Menschen, die auf der Straße aufgenommen wurden und jeweils in die Kamera blicken. Über diese läuft, von Musik unterlegt, der Rolltext. Der Prolog greift das Prinzip der Großaufnahme des Gesichts auf und zeigt eine Reihe indischer Intellektueller (um wen es sich handelt, bleibt unbekannt), die auf Englisch über die politische und soziale Situation Indiens zum Zeitpunkt der Produktion, Anfang 1968, sprechen, bis Malle den On-Ton leiser werden lässt und sein eigener Voice-Over-Kommentar2einsetzt:
Only 2% of Indians speak English, the official language after colonization. This 2% talks a lot, in the name of all the rest. Politicians, businessmen, intellectuals, bureaucrats – all explained their ideas to me at length, and I immediately sensed that the real questions weren’t being addressed. In learning English, they also learned to think as our civilization does. Their words about their country were ordered by Western symbols and logic. I’d heard them all before. I recognized them as my own. Tattered ideas, worn-out phrases, like Nietzsche’s birds so exhausted from flying that one can catch them in one’s hand.3
Der Kommentar endet und der diegetische Ton wird eingeblendet, um nach wenigen Sekunden wieder ausgeblendet zu werden. Nach einem einfachen Schnitt beginnt die Szene, auf die es mir hier ankommt (Clip 1): Sie zeigt zwei Frauen bei der Arbeit auf einem kargen Feld zunächst aus der Distanz. Nach zehn Sekunden nähert sich die Kamera ihnen langsam, der Kommentar setzt ein: „Thursday, January 18. Delhi, the first day of shooting. We leave the city. Behind a small factory in the suburbs, a barren vacant lot, scattered clumps of grass, crouching women.“ Als die Kamera und damit Malle und sein Team (Kameramann Étienne Becker und Tonmann Jean-Claude Laureux) bei den Frauen ankommen, steht eine der beiden auf und setzt ihre Arbeit in einiger Entfernung fort: „On our arrival, one of the women curses us and flees.“ Die Kamera rückt nah an die verbliebene Frau heran, zeigt ihre Handarbeit im Detail, ihr Gesicht ist nicht zu sehen, während im Off das Gespräch zwischen dem Übersetzer und der Frau zu hören ist. Malle kommentiert: „Her curses are translated: She doesn’t want to be filmed. It’s evil, a spell we cast upon her.“ Während Malle weiter spricht, fängt die Kamera die Frau erneut ein – allerdings mit größerem Abstand, so dass ihr gesamter Körper im Bild ist: „Being filmed will steal from her everything she is.“ Nach einer kurzen Pause wechselt Malle die Ebene:
The camera’s fundamental brazenness is something I’ve constantly experienced, even in Paris, even with actors, even on film sets. Here it’s worse. These women have absolutely nothing. They spend the morning on their knees to glean a handful of fodder, and I steal a bit more from them. To them, we’re Martians. We enter their universe without permission. Our camera is a weapon, and they’re afraid of us.
Inzwischen zeigt die Kamera wieder die andere Frau; auch nachdem der Kommentar abbricht, verweilt die Kamera auf ihr, bis sie aufsteht und in Richtung der Frau, die gegen die Aufnahme protestiert hatte, aus dem Bild läuft (siehe Header-Abbildung).
Malle spricht über die der Kamera und damit dem Medium Film innewohnende Gewalt und verknüpft diese mit den globalen sozioökonomischen Differenzen, die das Verhältnis zwischen ihm bzw. dem Filmteam hinter der Kamera und den Frauen vor der Kamera bestimmen. Währenddessen fangen Kamera und Montage die Frauen ein, allerdings nicht ohne gleichzeitig ihren Widerstand gegen das Filmteam und die Kamera hörbar und sichtbar werden zu lassen. In Kombination mit dem Prolog wird hier von Beginn der Serie an klar, dass nicht die zwei Prozent englischsprachigen Inder_innen zu Wort kommen sollen, sondern die anderen, mit denen die Kommunikation ungleich schwieriger ist. Etwas später in der Episode sagt Malle: „Words are useless between us. The image is our only connection.“ (vgl. Cortade 2018: 174) Mit dieser Beschreibung gerät das Filmbild selbst als gleichermaßen oberflächliche wie eingefangene Kontaktzone in den Blick, die als ästhetisch-technischer Effekt und materielle Spur des Settings entsteht.4
Die erste Episode dient der reflexiven Problematisierung und der Erklärung von Malles Projekt, das sich nicht nur der eigenen Position, sondern auch der epistemischen Gewalt (vgl. Spivak 2008: 42) bewusst ist, die in diese eingeschrieben ist: „Westerners with a camera, Westerners twice over.“ Um damit einen Umgang zu finden, erhebt Malle die Blicke der Inder_innen in die Kamera zum Leitmotiv. Ohne einen übergeordneten Plan beschließen Malle, Becker und Laureux der Kamera zu folgen, die diese Blicke einfängt: „We’re not filming to defend an idea, or demonstrate one.“ Vielmehr wollte Malle, wie er im Rückblick beschreibt, „ganz in Indien aufgehen, im wirklichen, nicht dem verwestlichten, und dann sehen, was dabei herauskam – mit der Kamera sehen“ (Malle in French 1998: 102). Trotz der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit dem „cinema of exploration“ (vgl. Cahill/Caminati 2021) und seiner kolonialen Genealogie entkommen Malles Filme dessen Logik nicht, sondern werden konstant von dieser heimgesucht, wie Erika Balsom in ihrer Lektüre der Serie deutlich macht, die sich auch auf die beschriebene Szene zu Beginn der ersten Episode übertragen ließe: „Louis Malle’s Phantom India (L’Inde fantôme, 1969) and Calcutta (1969) constantly circle back to this founding trauma, interrogating it and repeating it, interrogating it by repeating it.“ (Balsom 2009: 125)
Mit ihrem Befund nimmt Balsom den Titel der Serie, eine Anlehnung an Michel Leiris’ surrealistischen Reisebericht Fantôme Afrique (1934), wörtlich. Das stetige Hinterfragen der eigenen Position bzw. der Kamera-Funktion ist auch vor dem Hintergrund von Malles Interesse an damals geführten ethnologischen Debatten zu Subjektivität und Objektivität, teilnehmender Beobachtung und der Bedeutung des filmischen wie kulturell codierten Blicks zu verstehen; nicht umsonst hatte er Claude Lévi-Strauss’ Tristes Tropiques (1955) im Gepäck (vgl. Panchasi 2011: 334). Aber muss sich nicht ein solcher Versuch zwangsläufig in der Genealogie des (ethnografischen) Reisefilms und der Dokumentarfilmpraktiken verfangen? Statt bei diesem Befund stehenzubleiben, nehme ich diesen als Ausgangspunkt für die Erkundung der Frage, ob sich Verstricken nicht auch methodisch fruchtbar machen lässt.
Ich betrachte Malles Serie und seinen Film im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts, das die Verflechtungen von westeuropäischem und indischem Kino nach der Unabhängigkeit (1947–1977) untersucht und dabei von den Produktionen europäischer Filmemacher ausgeht.5 Anhand dieser sollen die „dynamics of exchange and cross-fertilization“ (Jhaveri 2013: 9) in den Fokus rücken, die nicht nur einen neuen Blick auf die Herausbildung des künstlerischen/filmischen Modernismus in Indien (vgl. ebd.; Kapur 2000, 2008),6 sondern gerade auch im Westen ermöglichen. Es geht also bei der Betrachtung der diese Begegnungen begleitenden Prozesse der „appropriation and conveyance of thought and art forms between India and the West“ (ebd.) um nichts weniger als um eine Provinzialisierung (Chakrabarty 2008) europäischer Filmgeschichtsschreibung und -theoretisierung zum modernen Film. Dies bedeutet mit Chakrabarty, nicht nur die europäische, sondern auch die indische Perspektive einer Befragung zu unterziehen. Sie macht jenseits oder auch in Ergänzung zum gängigen Narrativ der Chronologie der neuen Filmwellen „the radical transformation that occurred in the aftermath of World War II, when Western notions of universal subjectivity were severely impacted by social processes under way in non-Western countries“ (Jhaveri 2013: 7f.) zum Ausgangspunkt der Betrachtung. Als Untersuchung transnationaler Filmpraktiken folge ich diesen durch die Rekonstruktion der Reisen, Reiseberichterstattungen, administrativen Vernetzungen, intellektuellen Begegnungen und künstlerischen Kollaborationen, die die Filme ermöglichten und häufig über sie hinausreichen, aber auch der Rezeption und kritischen Bezugnahme auf die Filme in Indien und West-Europa (vgl. Fuhrmann/Kuhn/Köhler 2019). Darüber hinaus interessieren mich vor allem die ästhetischen Verbindungen oder auch Trennungen, die in diesen Begegnungen entstehen. Allerdings ist wichtig zu betonen, dass dabei die „Bewegungen, Verbindungen, Netzwerke, Einflüsse, Austauschprozesse und Veränderungen zwischen nationalen Kinematografien“ (ebd.) weniger von Belang sind; vielmehr soll eine Problematisierung des Nationalen vorgenommen werden, ohne die lokalen Spezifika und Differenzen aus dem Blick zu verlieren:7 Film ist von Beginn an als mobiles und transkulturelles Medium zu denken, und dies nicht nur wegen der ‚travelogues‘, sondern vor allem auch wegen der reisenden Kopien und Aufführungen vor unterschiedlichsten Publika (vgl. Chow 2000).8 Auch wenn der Begriff des Transnationalen dem des Weltkinos oder Globalen Kinos vorzuziehen ist, gerade weil er auf Bewegungen und Interdependenzen, grenzüberschreitende und historisch spezifische Relationen und Verbindungen fokussiert (vgl. Stam 2019: 30–36), führt er wie die beiden anderen genannten ähnliche Schwierigkeiten mit sich. Diese rühren aus der Geschichte bzw. den Politiken der Komparatistik her und sind im Kontext der Erfahrungen der Geschichte der kolonialen Moderne verbunden mit Behauptungen der Überlegenheit bestimmter Kulturen und der Inferiorität anderer (vgl. Chow in Bennett/Marciniak 2016: 286). In einem Gespräch mit Bruce Bennett und Katarzyna Marciniak betont Chow die Verstrickung in diese. Auch wenn sie vor allem über den Begriff ‚Welt‘ spricht, schließt sie ‚global‘ und ‚transnational‘ explizit in ihre Problematisierung mit ein. Denn diese Begriffe haben für Menschen, die sich in nicht-westlichen Kontexten bewegen und arbeiten, bislang immer „the Euro-American West and a move out of one’s native culture toward this West“ (ebd.) bezeichnet. „It is ironic“, folgert Chow daraus, „that when we use ‚world‘ as a designator in the Euro-American academic context these days, we intend a move toward non-Western literatures and cinemas“ (ebd.). Es gilt also, diese Politiken des Vergleichs zu reflektieren, damit nicht ‚Welt‘ oder ‚transnational‘ weitere Begriffe werden „whose aim is not exactly to give non-Western literatures and cinemas their due recognition but rather to renovate Western practices with ‚cool‘ (because exotic) contents“ (ebd.). Sich „dem transformativen Potenzial zwischen Europa und dem Rest der Welt“ (Chow 2013: 137) zu widmen, setzt also voraus, die Gewalt und die daraus resultierenden Ungleichheiten in die Betrachtung mit einzubeziehen. Chow beschreibt die „epistemic burden“ (Chow 2014: 17), die das Verhältnis zwischen Westen und Osten (in Chows Fall China, hier bezogen auf Indien) bestimmt, als gekennzeichnet von einer Lücke, die angesichts des zunehmenden Kontakts im Zuge der Globalisierung größer wird: „As bearers of specific attitudes and perspectives, so-called native informants and foreign observers are partners in a long historical relationship, the complexity of which lies not in either position alone but rather in their entanglement.“ (ebd.) Sie geht aber noch darüber hinaus, wenn sie die These formuliert, dass sich dieses Entanglement durch eine Nicht-Beziehung auszeichne, in der einheimische Informant_innen und fremde Beobachter_innen untrennbar zusammengeworfen sind und koexistieren, kollaborieren und kommunizieren müssen, als ob eine Verbindung zwischen ihnen bestünde (vgl. ebd.). Für Chow ist die implizite moralische Beurteilung, die diese Nicht-Beziehung zu kennzeichnen scheint, Teil der epistemischen Bürde:
In the post-colonial world, this epistemic burden, typically borne by those on the side of the colonised, fundamentally has structured the way that images continue to be produced and consumed, so much so that even when faced with the same images, those who identify with the native informant typically see very different things from those who identify with the foreign observer. This gap between native informant and foreign observer is perhaps most pronounced when the images involved are of a documentary nature, whereby the claim to the real that has been associated with the photographic medium since its inception becomes part of the conceptual problem of what counts as the documented content. As mutuality, reciprocity, agreement and consent – all those ideals of civilised sharing – seem increasingly sensitive and elusive in the course of global interactions, how to talk cross-culturally about seemingly straightforward-looking images has become something of a formidable task. (ebd.)
Diese Frage verkompliziert die Analyse transnationaler Filmpraktiken, vor allem bezogen auf die Produktion, Distribution, Zirkulation und Rezeption von Filmen, indem sie das Augenmerk auf Fragen der transkulturellen Repräsentation – hier in Dokumentarfilmpraktiken – richtet, die auch für Malles Filme relevant sind. Für Chow ist die Komplexität der Bedingungen jedoch nicht nur durch die zunehmende Globalisierung, sondern auch durch die digitalen Medientechnologien bestimmt, weil sich in diesen trotz der zunehmenden Mobilität und Zirkulation sowie der Interaktionen zwischen geografischem und virtuellem Raum die alten Einteilungen und Kulturalismen zu halten scheinen. Diese versucht sie mit einer von der Akteur-Netzwerk-Theorie inspirierten Betrachtung von Entanglements aufzubrechen (vgl. Chow/Maitra 2016). Was aber genau meint hier Entanglement und wie wird das Verstricken bei Chow zur Methode?
Bevor ich auf Chows methodische Vorschläge eingehe, eine kurze Einordnung des Begriffs Entanglement, wie er in der Soziologie und vor allem in der Geschichtswissenschaft verwendet wird. Der Begriff zielt darauf, die asymmetrischen Beziehungen zwischen europäischen und nicht-europäischen Modernen zu fassen und dabei in einer relationalen Perspektive die historischen wie gegenwärtigen, kolonialen wie postkolonialen Verflechtungen zu berücksichtigen. In der deutschsprachigen Debatte wurde der Begriff von der Soziologin Shalini Randeria als „entangled modernity“ als eine relationale Perspektive vorgeschlagen, die „den westlichen historischen Erfahrungen und Verläufen kein epistemologisches oder normatives Privileg einräumt“ (Randeria 2004: 156; vgl. auch Randeria 1999). Insbesondere in der Geschichtswissenschaft hat sich (unter anderem mit Randerias Beteiligung, vgl. Conrad/Randeria 2002) der Bereich der entangled history herausgebildet, mit dem Anliegen, methodologische Nationalismen und eurozentrische Perspektiven zu überwinden (Bauck/Maier 2015). Von den zahlreichen Beiträgen zur Debatte scheint mir vor allem der Ansatz produktiv, den Kris Manjapra in The Age of Entanglement (2014) vorgeschlagen hat. Manjapra betont das Vermögen des Begriffs „[to capture] both the multiplication of boundaries and claims of difference, as well as the accelerated mutual implications and transnational feedback loops developing among discrepant national groups around the world in this period despite their power differences“ (Manjapra 2014: 4). Während er sich auf den Zeitraum ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Unabhängigkeit Indiens bezieht, lassen sich diese Überlegungen doch – gerade aufgrund des Fortwirkens der epistemischen Gewalt – auch auf die Phase der Dekolonisierung übertragen. Für Manjapra entstehen Entanglements, wenn verschiedene Gruppen anfangen „to need each other like crowbars or like shovels to break apart or to dip up problems of the most pressing concern for themselves“(ebd.: 6). Deutlich wird hier, dass es sich nicht notwendigerweise um die gleichen Interessen handelt, die in den Austauschbeziehungen verfolgt werden. Auch in diesem Ansatz wird die Differenz oder auch die Lücke zwischen den in Entanglements verstrickten Gruppen betont. Diese Idee, dass sich die Verflechtungen weniger durch Ähnlichkeit als durch Differenz auszeichnen, ist auch der Grundgedanke von Chows Konzeption des Begriffs:
Beyond this intimation of a tangle, of things held together or laid over one another in nearness and likeness, my aim is to ask if entanglement could not also be a figure for meetings that are not necessarily defined by proximity or affinity. What kinds of entanglements might be conceivable through partition and partiality rather than conjunction and intersection, and through disparity rather than equivalence? (Chow 2012: 1f.)
Ihren Ausführungen in der Einleitung von Entanglements, or Transmedial Thinking about Capture (2012) stellt Chow ein Foucault-Zitat aus dem Jahr 1978 als Motto voran. Darin schlägt dieser vor, die Bearbeitung der Frage, wie „es sich mit den Machtbeziehungen [verhält], in denen wir festsitzen und in die die Philosophie selbst seit mindestens hundertfünfzig Jahren verstrickt ist“ (Foucault 2003: 682), als Aufgabe der zeitgenössischen Philosophie zu verstehen. Foucault verwendet im Französischen das Verb empêtrer, was in der deutschen Übersetzung als verstricken übersetzt wurde, aber auch verfangen oder verwickeln bedeuten kann. Dies verweist darauf, dass es bei den Verflechtungen, mit denen Entanglements zumeist übersetzt werden, nicht einfach nur um Verbindungen geht, sondern um Verhältnisse, in die man sich nicht notwendigerweise absichtsvoll oder bewusst begeben hat und aus denen nicht so einfach wieder herauszukommen ist. Chow dient der Begriff zu Beginn ihres Buches dazu, das Verhältnis der versammelten Aufsätze und der sich darin überlappenden Themen konzeptuell zu begründen als „topological looping together that is at the same time an enmeshment of topics“ (Chow 2012: 1). Chow bezieht sich hier unter anderem auf Karen Barads Überlegungen zur Intraaktion von Quantenverschränkungen, von der aus es möglich wird, bisher ungesehene oder auch potenzielle Verbindungen zu konstellieren (vgl. Barad 2007; Chow 2012: 2). Während es Chow um die Verwicklung von unterschiedlichen medialen und kulturellen Formen geht, übertrage ich diese auf die Untersuchung der Entanglements, die sich ausgehend von den Reisen/Filmproduktionen der europäischen Filmemacher in Indien entfalten. Hierfür ist Chows Betonung instruktiv, dass Entanglements vor dem Hintergrund des zunehmenden Interesses an Beziehungen zwischen Menschen und Dingen sowie zwischen verschiedenen Medien als Assemblagen gelesen werden können. Für Chow ist die Hinwendung zu diesen Relationen durch eine Relativierung von agency begründet, die im Zuge der digitalen Kultur durch das Verschwinden zeitlicher, geografischer oder persönlicher Abstände oder Distanzen herbeigeführt werde:
As Bruno Latour suggests, many ideas tend to make sense only when they are kept segregated from one another as distinct, specialized domains of knowledge; once they are put side by side, the very sense that they have been making in isolation begins to evaporate. One outcome of entangled relationships, then, would be the fuzzing-up of conventional classificatory categories due to the collapse of neatly maintained epistemic borders. The state of an intermixing, of a diminution of distances among phenomena that used to belong in separate orders of things, necessitates nothing short of a recalculation and redistribution of the normativized intelligibility of the world, including a realignment of the grids, sets, and slots that allow for such intelligibility in the first place. (ebd.: 10f.)
Entanglement kann aber, so Chow, nicht nur im epistemischen Sinn verstanden werden, sondern auch bezogen sein auf affektive oder emotionale Verwicklungen mit einer Person oder Sache, aus der man nicht herauskommt (ebd.: 11). Diesen Aspekt von Entanglements findet Chow vor allem im Bereich der Kunst oder des Ästhetischen: „Entanglements: the linkages and enmeshments that keep things apart; the voidings and uncoverings that hold things together.“(ebd.: 12)
Des Weiteren will Chow die einzelnen Kapitel des Buches als verschiedene „scenes of entanglements“ verstanden wissen, und zwar im Hinblick auf die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Szene, insbesondere aber
as the assemblage or installation of a critical aperture, a supplemental time-space in which perhaps even the roughest crossings can be approached with a sense of innovation and creativity, and the most painful entanglements understood, if somewhat counterintuitively, as evolving states of freedom (ebd.: 12).
Der Begriff der Assemblage taucht an anderer Stelle, in einem Gespräch mit Ulrike Bergermann über den practice turn in der Medienwissenschaft, wieder auf (Bergermann/Chow 2021). Chow argumentiert darin, dass die Verschiebung hin zu Praktiken erlaube, horizontale Anordnungen, wenn nicht von Gleichem so doch von Vergleichbarem anzulegen. Zudem ließe sich die Frage nach Machtverhältnissen mit Bezug zur Akteur-Netzwerk-Theorie komplexer fassen, und zwar im Hinblick auf einen produktiven Machtbegriff im Sinne Foucaults (Chow in Bergermann/Chow 2021: 234). Im Gespräch wird dies durch die Beschreibung einer (Film-)Szene konkret, zusammengesetzt aus „a racialized or gendered body, a certain movie camera, a history of documentary practices, and a landscape“ (ebd.), und den Fragen, die sich aus diesem Gefüge ergeben. An dieser Stelle wird das Verstricken als Methode plausibel, indem nämlich alle Aspekte sowohl einzeln betrachtet werden als auch in ihrem Zusammenwirken im Hinblick auf die darin wirksamen Machtverhältnisse:
We can think of each of these components of the scene as a minor assemblage with its own micro-history, but we also need to ask how they all work together as a singular group (though not a totality). And it is this process of working together that must be analyzed in terms of the politics of power, of multiple actors and their interactivity with one another, correct? The absence of any one of these components would alter the nature of the analysis – for example a movie camera, a history of documentary practices, and a landscape, without a racialized or gendered body; or a racialized or gendered body, a movie camera, and a landscape, without the history of documentary practices, and so on. (ebd.)
Dieses Setting erinnert in gewisser Weise an die Szene aus L’INDE FANTÔME, die ich eingangs beschrieben habe; auch hier gibt es rassifizierte und vergeschlechtlichte Körper, eine Landschaft, eine bestimmte Filmkamera und eine spezifische Geschichte von Dokumentarfilmpraktiken. Allerdings lässt sich das Vorgehen im Rahmen dieses Aufsatzes nur skizzieren bzw. einige Fährten legen. Auf die Körper vor und hinter der Kamera und deren (Nicht-)Verhältnis bin ich zu Beginn kurz eingegangen. Hier interessieren mich nun vor allem die Kamera und die Dokumentarfilmpraktiken, die Malle im selbstreflexiven Kommentar konstant adressiert. Malle wollte sich explizit vom cinéma verité abgrenzen und stattdessen mit seinem Projekt die ästhetischen und politischen Möglichkeiten des cinéma direct, die mit der Einführung der leichteren 16-mm-Handkameras und der Direkttonaufnahme entstanden waren, weiter beforschen (vgl. Cortade 2018: 177). Ludovic Cortade bezieht sich hier auf Malles retrospektive Beschreibung des Unterschieds zwischen cinéma verité und cinéma direct:
Also, cinéma verité ist ein Begriff, den ich nicht gerne verwende; cinéma verité ist cinéma mesonge. Cinéma verité hat eine moralische Dimension; es will die Wahrheit definieren, was sehr anspruchsvoll klingt und nicht unbedingt zutrifft. Ich mag den Begriff cinéma direct, weil es eher eine Technik ist als etwas anderes. Was ich cinéma direct nenne, ist eine Art von Dokumentation, bei der man hundertprozentig improvisiert, mit einer minimalen Crew arbeitet; man versucht nicht, die Realität zu organisieren, sondern versucht einfach, etwas zu zeigen, was das Interesse oder die Neugier weckt; man filmt, was man interessant oder überraschend findet, und versucht später im Schneideraum, das Material sinnvoll zu organisieren. […] Das ist meine private Definition. Für mich ist cinéma direct der beste Ausdruck, das zu beschreiben, was ich in Indien oder 1972 in den französischen, später auch in den amerikanischen Dokumentarfilmen zu machen versuchte. (Malle in French 1998: 210, Herv. i. O.)
In seinem Aufsatz „Der Umweg über das direct“, 1969 in zwei Teilen in den Cahiers du Cinema veröffentlicht, versteht Jean-Louis Comolli den Akt des Filmens als „produktiven Eingriff, der das aufgenommene Material entstellt und transformiert“ (Comolli 2012: 219; Herv. i. O.). Zentral ist der Gedanke, dass das cinéma direct nicht für mehr Realismus sorge, sondern einen Fiktionseffekt produziere (ebd.: 220), während sich das direct zunehmend auch im fiktionalen Film finden ließe (ebd.: 218). Den politischen Einsatz des cinéma direct lokalisiert Comolli insbesondere in der Montage; in dieser besinne es sich zurück auf ein politisches Kino, wie es etwa Dziga Vertov mit Kino Prawda entworfen hatte. In der 1970 im Auftrag der UNESCO verfassten Studie Living Cinema findet Louis Marcorelles hingegen das Politische in Praktiken der Filmbewegungen der im Zuge der Dekolonisierung neu gegründeten Staaten, die sich durch einen „deep fighting spirit“ auszeichneten (Marcorelles 1973: 19). Ich verweise darauf, weil sich auch Louis Malle mit dem zeitgenössischen indischen Kino beschäftigte, was sich in den Filmen nur implizit wiederfindet: Insbesondere bei seinem ersten Aufenthalt in Indien Ende 1967 traf er mit Kolleg_innen wie u.a. Vijaya Mulay, Satyajit Ray und Mrinal Sen zusammen und sah zahlreiche Filme.
Um nun die Frage nach der Geschichte der Dokumentarfilmpraktiken zu verkomplizieren, möchte ich eine andere Szene neben die Szene aus „La caméra impossible“ legen; nicht um Ähnlichkeit zu konstatieren, sondern vielmehr um das Setting durch das Nebeneinanderlegen bislang ungesehener Verbindungen, die sich durch Unterschiedlichkeit auszeichnen, zu verkomplizieren. Damit sind zwei Anliegen verbunden: Zum einen geht es um die Frage der Situierung – also: Was kann ich als europäische Forschende mit Blick auf die Assemblage sehen, verstehen, wissen? Für die Beantwortung reicht es nicht aus, eine partiale Perspektive zu konstatieren, ebenso wenig ist es einfach möglich, eine Sichtweise der „less powerful“ anzunehmen, wie Donna Haraway (1988: 583f.) betont hat. Auch Chow warnt im Gespräch mit Bergermann vor der Gefahr, dass insbesondere eine marginalisierte Situiertheit eine Festlegung auf bestimmte, an diese gebundene Gegenstände nach sich ziehen und Situiertheit damit „easily […] into a form of reification (of class, race, gender, location, cultural origin, or ancestry) despite its political astuteness“ kippen könnte, die Stereotypen reproduziere (Chow in Bergermann/Chow 2021: 235). Wie kann ich also mit meiner partialen Perspektive, dem damit einhergehenden Nicht-Verstehen, Nicht-Wissen und fehlenden Sprachkenntnissen – ähnlich wie Malle – umgehen? Diese Frage ist auch verbunden mit dem zweiten Anliegen, nämlich die bislang verfolgte Lesart der Filme mit Blick auf die Entanglements zu erweitern.
Bei der zweiten Szene, mit der ich diejenige aus L’INDE FANTÔME verstricke, handelt es sich um die Anfangsszene (Clip 2) von S. Sukhdevs INDIA 67, den dieser für die staatliche Dokumentarfilmorganisation Films Division anlässlich des 20. Jahrestags der Unabhängigkeit drehte.9 Louis Malle kannte den Film, wie aus einem Interview mit dem damaligen Korrespondenten der Times of India in Paris, Dileep Padgoankar, hervorgeht (Malle in Padgoankar 1970).10 Ähnlich wie im Fall von Sukhdev, der sich mit dem Titel INDIA 67 explizit auf INDIA 58, den Arbeitstitel von Roberto Rossellinis INDIA: MATRI BHUMI (IT/F/IND 1959), bezog (vgl. Rajadhyaksha/Willemen 2012: 392), trug auch Malles Projekt bis kurz vor Abschluss der Postproduktion den Arbeitstitel INDIA 68 (vgl. Grélier 2005: 82f.). Zwischen Sukhdevs und Rossellinis Film scheint es noch eine direktere Verbindung zu geben: Auch INDIA: MATRI BHUMI entstand in Kooperation mit der Films Division und verfolgte das Anliegen einer filmischen Untersuchung Indiens zehn Jahre nach der Unabhängigkeit (vgl. Rossellini 1995: 121). Malles und Sukhdevs Vorgehen nähern sich darin an, dass beide bei ihren Reisen sehr viel Material drehten, von dem dann ca. jeweils ein Viertel in den fertigen Filmen landete (vgl. Balsom 2009: 127; Sutoris 2016: 178). Die drei travelogues über das postkoloniale Indien, in denen Indien in einen „filmed space“ (Jaikumar 2019) transformiert zur Aufführung kommt, verfügen also über eine geteilte Geschichte.
Auf den ersten Blick besteht die Szene aus einer ähnlichen Assemblage wie diejenige in „La caméra impossible“: vergeschlechtlichte und rassifizierte Körper vor und hinter der Kamera, spezifische Kameratechnologie, Geschichte von Dokumentarfilmpraktiken, Landschaft. Auch hier befinden wir uns in einer ländlichen, kargen Gegend, es wird ebenfalls im weiteren Sinne weibliche (Sorge-)Arbeit gezeigt. Damit enden aber auch schon die offensichtlichen Gemeinsamkeiten. INDIA 67 beginnt mit einer Ansicht der Sonne und zeigt dann in Detailaufnahmen die Wohnstatt einer Familie in einer Wüste. Frauenhände backen Brot, Kinder essen, eine Schlange windet sich auf dem Sand und dann sehen wir in einer halbnahen Einstellung, wie eine Frau die Schlange erschlägt. Ein kleines Mädchen hilft einem Geschwister beim Einschlafen, ein Käfer rollt ein Korn über den Sand, während Gesang einsetzt, der das dominante Geräusch des Windes ergänzt; es ist der des Mädchens, wie nach einem Schnitt erkennbar wird. Dann folgt die Kamera wieder dem Käfer. In der nächsten Einstellung schwenkt die Kamera den Körper einer Frau entlang nach oben, zeigt ihr lächelndes Gesicht. Am Ende sieht diese für einen sehr kurzen Moment in die Kamera, bevor nach dem nächsten Schnitt ein kleines Mädchen in die Kamera blickt. Während der Gesang anhält, wechselt die Szene. Das Bild zeigt die Ansicht einer Festung, rückt näher heran, dann zoomt die Kamera auf einen Thron, aus dem Off ist ein Telefonklingeln zu hören. Nicht nur die Art der Aufnahme von Menschen, Tieren, Orten, Dingen unterscheidet sich, auch die Montage von Bild und Ton folgt einer anderen Logik als der in Malles Filmen. INDIA 67 verlässt sich vollständig auf die Montage, auf Kommentar oder Dialog wird verzichtet. Der Soundtrack besteht aus diegetischem Ton, der teilweise asynchron zum Bild montiert ist, so dass er verschiedene Szenen und Orte verbindet. Die vielen Nah- und Detailaufnahmen, gerade zu Beginn, rücken sowohl Vielfalt als auch Unterschiede in den Blick. Aber es ist vor allem die kontrastierende Montage, die das dialektische Prinzip freilegt, mit denen die Gegensätze und Widersprüche der indischen Gegenwart 1967 adressiert werden. Damit lassen sich die filmsprachlichen Mittel INDIA 67 sowohl vom cinéma direct unterscheiden, als auch als Bezüge zum sowjetischen Kino erkennen, etwa Eisensteins Montage, wie immer wieder betont wird, aber auch Vertovs Kino Pravda, in der Comolli das politische Potential des cinéma direct findet. Aber mehr noch nutzt Sukhdev die Montage, um seine Kritik auf ironische Weise zu adressieren:
The film begins in the sandy deserts of Western India. As the sun rises, the camera gently sweeps through the desolate wilderness. It meanders around a Rabari family struggling with their nomadic existence in the harsh environment – a snake beaten to death, an open hearth and a crawling beetle valiantly pushing a grain. Soon after, the first sardonic gesture of the film occurs: the camera placidly zooms into a vacant throne in an empty courtyard of the Shri Mohangarh Fortress near Jaisalmer in Rajasthan. In accented English, a voice asks the operator to be connected to ‚His Highness the Maharaja of Mohangarh‘. After a brief silence, the operator tersely informs the caller that the name is not listed. The film thus scathingly announces the end of feudal rule in India and the abolition of the Privy Purse. This ironic tenor becomes the tropological leitmotif of the film occurring at strategic moments. (Chadha 2014: 43)
Für Avijit Mukul Kishore sind neben der dialektischen Montage ebenfalls die Ironie und der Humor des Films zentrale Mittel der politischen Kritik von INDIA 67 (Kishore 2018: 229). Mit seinem marxistischen Subtext deutet INDIA 67 auch auf die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zunehmenden sozialen und politischen Kämpfe (Chadha 2014: 44). Diese Artikulation wurde möglich, als die damalige Ministerin für Information and Broadcasting, Indira Gandhi, Jehangir (Jean) Bhownagary, UNESCO-Mitarbeiter in Paris, einlud, von 1965 bis 1967 zum zweiten Mal als Chief Advisor der Films Division zu fungieren (Kishore 2019: 225).11 Obwohl Bhownagary eine Atmosphäre schuf „that encouraged inventiveness and an inter-disciplinary approach to the non-fiction film“ und die Filme mit Narration und Montage experimentierten, problematisiert Kishore eine vorschnelle Analogiebildung zwischen experimentell und politisch fortschrittlich (ebd.: 226). Die Produktionen waren gleichwohl institutionell eingebunden in die Films Division, die, aus der kolonialen Dokumentarfilmeinheit hervorgegangen, eindeutig propagandistische Absichten verfolgte, um die Nationenbildung voranzutreiben:
The new India was made up of vast regions with diverse geographies, populated by people of equally diverse ethnicities that included migrants, refugees, nomads, tribals and exiles – who had now become citizens. India and its peoples had to be brought together and administered. (ebd.: 225)
Priya Jaikumar weist darauf hin, dass die Films Division beabsichtigte, nicht nur die gesellschaftlichen und technologischen Fortschritte, sondern gerade auch unbekannte Landschaften in anderen Landesteilen des Subkontinents bekannt zu machen (Jaikumar 2019: 78). „[B]y synthesizing India’s varied topographical and ethnographic types into an imaginary whole“ sollten die indischen Bürger_innen im nationalen Credo „unity in diversity“ unterrichtet werden (ebd.: 27). Dies ist auch in INDIA 67 wirksam, wie K.P. Jayasankar und Anjali Monteiro beobachten. Für diese führt die Kompilation unterschiedlichster, teilweise kontextloser Aufnahmen aus verschieden Orten und Landesteilen zum Eindruck eines „placeless India“, das kulturelle und politische Spezifika negiere und „fixed and received ways of appropriating the local“ verstärke und essentialisiere (Jayasankar/Monteiro 2015: 11).
Das Nebeneinanderlegen der beiden Assemblagen hatte den Zweck, nicht nur die Verstrickung und Verflechtung der Filme miteinander darzulegen, sondern vor allem zu zeigen, dass sie sich gleichermaßen durch eine Lücke oder auch eine Nicht-Beziehung auszeichnen, die aus den jeweiligen geopolitischen und epistemischen Verhältnissen herrührt, auch wenn in der jeweiligen Erprobung filmischer Formen eine Verbindung deutlich wird. Aber auch diese zeugt eher davon, dass jeweils Antworten für die eigenen Anliegen und Interessen gefunden werden. Zudem zeigt sich, dass die Filme zwar in ihren jeweiligen Kontexten situiert sind, aber sich keineswegs in nationale Rahmen pressen lassen und damit die Anforderungen an die Analyse verändern. Mit der Problematisierung von Sukhdevs travelogue geht es nicht nur darum, einer Essentialisierung nicht-westlicher Filmpraktiken vorzubeugen, sondern auch die Verfangenheit in die spezifischen postkolonialen Entanglements nachzuzeichnen, die auch im Nicht-Verhältnis zu Malles Filmen unauflösbar wirksam sind.
Enden möchte ich mit einer weiteren Verkomplizierung, die an die Kritik von Jayasankar und Monteiro anschließt. In einem Gespräch über transkulturelle künstlerische Praktiken formuliert Shuddabrata Sengupta, Mitbegründer des Raqs Media Collective, die These, dass alle Arbeiten in gewisser Weise transkulturell seien (Sengupta in Pfeifer/Sengupta/Hirsch 2013: 182). Was diese Aussage unterstreicht, ist die Eingebundenheit in die epistemische Bürde des Verhältnisses zwischen Europa und Indien, die die jeweiligen filmischen Artikulationen mitbestimmt und zugleich überraschende Effekte zeitigt. Malles Serie und Film wurden insbesondere für die Ausblendung des modernen Indiens und die Darstellung der Armut kritisiert. Während dies einerseits sein Versuch war, einen Umgang mit der epistemischen Bürde zu finden, war es andererseits motiviert von marxistischen Überzeugungen, wie sie auch Sukhdev zumindest in INDIA 67 verfolgte. Als CALCUTTA und L’INDE FANTÔME 1970 in England ausgestrahlt wurden, löste dies einen weitläufigen Skandal aus, der zu einer zeitweisen Schließung des BBC-Büros in Delhi führte. Auf dessen Filme angesprochen, kritisierte Sukhdev diese scharf, indem er die (aufmerksamkeits-)ökonomische Ungleichheit und Malles Position darin hinterfragt:
It depends which way you look at poverty. Malle is looking at poverty as a kind of vested interest – something that sells on TV abroad. It’s sensational. We cannot look down on the situation that does exist – this vulgarity of poverty. One has to understand it. Perhaps an outsider like Louis Malle could give us an insight into this and even a possible inkling into why he thinks this country needs Mao Tse Tung. (Sukhdev 1971)
Sukhdev bezieht sich hier vermutlich auf CALCUTTA und die Sequenz, in der Malle naxalitische Proteste zeigt, ohne sich von dieser maoistischen (Guerilla-)Bewegung zu distanzieren. Ich verstehe dieses Zitat aber mehr noch als Kommentar auf Malles Entscheidung, die Effekte der indischen Klassen- und Kastengesellschaft und damit auch die Armut zu zeigen, was von Sukhdev hier als maoistisch motiviert bezeichnet wird. Die Kritik fußt meiner Ansicht nach vor allem auf seiner Einschätzung, dass Malle zu wissen glaubt, was für Indien das Richtige sei und damit in eine paternalistische, imperiale Logik verstrickt ist. Mit Jhaveri lässt sich die Kritik an Malle als Zeichen werten, dass „new cartographies of power […] were forming in a postcolonial national landscape“ (Jhaveri 2017: 44). Hier steht sie am Ende dafür, dass das Verstricken als Methode nicht dazu führen kann, diese auflösen zu wollen. Eine Entwirrung dient vielmehr der komplexen Betrachtung der in transnationalen Filmpraktiken wirksamen Machtverhältnisse.
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