Skizze einer Luhmann’schen Kommunikationstheorie des Films
‚Ein Mann stirbt!‘ Diese Information haben bereits zahlreiche Filme im Lauf der Filmgeschichte vermittelt, allerdings mit sehr unterschiedlichen Ausdrucksmitteln. Damit ist gemeint, dass sich zum Beispiel die Einführungsszene von CITIZEN KANE (USA 1941) andersartiger Kadrierungen, Kamerabewegungen, Schnitte, Lichtverhältnisse, Bild-Ton-Verhältnisse usw. bedient als die Schlussszene von BIUTIFUL (MX/ES 2010). Trotz dieser Unterschiede haben die beiden Filmszenen aber eine Gemeinsamkeit: In beiden wird suggeriert, dass ein Mann stirbt. Das Sterben eines Mannes könnte aber im Film einfach in einer Totalen mitgeteilt werden: Ein Mann, der krank im Bett oder verwundet an der Kriegsfront liegt, oder mit einer Giftflasche in der Hand zu Füßen seiner Geliebten kniet und zusammenbricht. Stattdessen sehen die Zuschauenden in CITIZEN KANE mehrere Schnitte zwischen unterschiedlichen statischen Einstellungsgrößen, während die Kamera in BIUTIFUL ohne Schnitt in einem sanften Rhythmus hin- und herschwenkt und hauptsächlich Großaufnahmen von Händen und Gesichtern zeigt.
Angesichts ihrer sehr unterschiedlichen Ausdrucksmittel müssen diese Filme doch etwas mehr mitteilen als die bloße Information, dass ein Mann stirbt. Das ist tatsächlich auch der Fall, weil sich im ersten Falle konkretisieren ließe, dass ein mysteriöser Mann, der vor seinem einsamen Tod ein bedeutsames Wort ausdrückt, stirbt. Im zweiten Falle ließe sich dagegen beschreiben, dass der sterbende Mann sanft und schmerzlos übergeht in die Zeitlosigkeit des ewigen Lebens. Die Unterschiede dieser (möglichen) Informationen entstammen den filmästhetischen und -technischen Differenzen, die in beiden Filmszenen gemacht wurden. Ausgehend von dieser Beobachtung möchte ich hier die These aufstellen, dass filmische Kommunikation aus Differenzen besteht und ihre Sinngebung durch ebendiese ermöglicht wird. Diese Differenzen sind aber, anders als beim strukturalistischen Ansatz, nicht als Bausteine des Films zu begreifen,1 sondern als aktive Überschreitungen der Grenze zwischen Aktualität und Potenzialität.
Die Begriffe Differenz, Sinn, Aktualität und Potenzialität sind der Kommunikationstheorie Niklas Luhmanns entlehnt und bedürfen einer Erläuterung, da Luhmann selbst nur marginal über Film als ein Massenmedium geschrieben hat (vgl. Luhmann 1996a). Umgekehrt hat seine Systemtheorie der Gesellschaft, für welche seine Kommunikationstheorie einen wichtigen Baustein bildet, bislang nur kursorisch in filmwissenschaftlicher Forschung Anwendung gefunden.2 Sie wird hier anhand der Analyse der oben erwähnten Filmszenen für eine Kommunikationstheorie des Films fruchtbar gemacht. Des Weiteren wird skizzenhaft gezeigt, wie das systemtheoretische Begreifen des Films als eine Summe von Differenzen zwischen zwei bestehenden Theorien filmischer Kommunikation – die einander ausschließen und je nur eine Beobachtungsebene des Films seitens der Zuschauenden thematisieren – vermittelt, um dadurch den Grundstein einer neuen Theorie mit erhöhter Komplexität zu legen, welche die Kommunikationsweise des Films auf mehreren Ebenen seiner Beobachtung beschreiben kann. Bevor ich mit den Filmanalysen beginne, möchte ich zunächst die hier angewendeten Luhmann’schen Begriffe kurz erklären, weil sie filmwissenschaftlichen Leser*innen möglicherweise nicht geläufig sind.
Eine Kommunikationseinheit ist für Luhmann die Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen, wobei Verstehen erst dann zustande kommt, wenn Ego (die Partei, der etwas von Alter mitgeteilt wird) von Alters Mitteilung eine Information unterscheidet.3 Während die Mitteilung ein sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck durch ein Kommunikationsmedium (wie etwa verbale Sprache, Schrift, Kunst etc.) ist, kann sie nicht mit Information gleichgesetzt werden. Esposito beschreibt anhand eines Beispiels, wie eine Information durch Ego von Alters Mitteilung unterschieden wird und wie demzufolge Verstehen zustande kommt:
Zusammen mit der Information, die mit den Lauten verbunden ist, versteht Ego auch, dass sein Kommunikationspartner bestimmte Gründe hat, die Information mitzuteilen. Wenn etwa Alter sagt ‚es ist elf Uhr‘, versteht Ego die Uhrzeit, aber er versteht auch, dass Alter dies mitteilen wollte – vielleicht etwa deswegen, weil er der Ansicht ist, dass die Zeit gekommen ist, nach Hause zu gehen. Ego versteht demnach nicht lediglich eine Information, sondern er begreift den Unterschied zwischen Information und Mitteilung; nur aufgrund dieses Unterschiedes handelt es sich bei dem Ereignis um Kommunikation (und nicht um eine bloße Wahrnehmung, wie etwa für den Fall, dass Ego auf die Uhr schaut, der man in der Regel keine Mitteilungsabsichten unterstellt). (Esposito 2002: 15)
Wie bei allen anderen medialen Kommunikationsformen abseits der Sprache ist in diesem Beispiel ein weiteres Medium beteiligt, das es überhaupt ermöglicht, zwischen Mitteilung und Information zu differenzieren und dadurch die Kommunikation in einer gewissen Weise zu verstehen. Dieses Medium nennt Luhmann, in Anschluss an Edmund Husserls Phänomenologie, Sinn:
Sinn ist – in phänomenologischer Diktion – dann gegeben, wenn Ereignisse als Selektionen beobachtet werden, für deren Verstehen der Horizont der Auswahl kopräsent fungiert. Die Sinnform entspricht der Unterscheidung von Aktualität/Potentialität, wobei Sinnoperationen (Kommunikationen, Kognitionen), jenseits derer das Sinnmedium keine Existenz hat, die Aktualität fortwährend herstellen als eine, die sich konstituiert vor dem dadurch aufgespannten Projektionsschirm der Potentialität. (Fuchs 2000: 247)
Die Differenz zwischen Aktualität und Potenzialität macht das Medium Sinn aus. Je nachdem, welche Mitteilung aktualisiert und welche anderen, möglichen Mitteilungen durch diese Aktualisierung ausgeblendet wurden, kann die Mitteilung für Ego eine unterschiedliche Bedeutung haben, also anders Sinn ergeben. Im oben von Esposito genannten Beispiel einer verbalen Kommunikation kann die aktualisierte Mitteilung „es ist elf Uhr“ verschiedene Bedeutungen haben, welche ihrerseits auch anders mitgeteilt werden könnten. Alter könnte etwa alternativ sagen: „Jetzt müssen wir aber nach Hause gehen. Es ist sehr spät.“ Alter könnte sich auch für freundlichere, indirektere oder kritisierendere Mitteilungen entscheiden, die anstelle der aktualisierten Mitteilung „es ist elf Uhr“ möglich wären.
Aber woher kann Ego wissen, was anstelle der aktuellen Mitteilung auftreten könnte? Dieses Wissen ist dank des Gedächtnisses der Kommunikation vorhanden. Unter Gedächtnis versteht Luhmann aber nicht etwa einen Speicher, sondern eine dynamische Funktion der Kommunikation:
Allein dadurch, dass jede Kommunikation bestimmten Sinn aktualisiert, wird ein soziales Gedächtnis reproduziert; es wird vorausgesetzt, dass die Kommunikation mit dem Sinn etwas anfangen kann, ihn gewissermaßen schon kennt, und es wird zugleich durch wiederholten Gebrauch derselben Referenzen bewirkt, dass dies auch in künftigen Fällen so ist. (Luhmann 1998: 584)
Der „wiederholte Gebrauch“ gewisser Referenzen weist auf die Erinnerungsfunktion der Kommunikation hin. Das Gedächtnis der Kommunikation kann gleichzeitig erinnern und vergessen. Erinnert werden bei jeder gegenwärtigen Kommunikation Themen und Unterscheidungen zwischen Aktualität und Potenzialität, die bei vergangenen Kommunikationen häufig vorgekommen und dadurch zu Schemata kondensiert worden sind. Diese Schemata können bei aktuellen Kommunikationen erwartet werden, wobei alle Themen und Unterscheidungen, die nur einmalig auftauchen oder unwichtig sind, vom Gedächtnis der Kommunikation vergessen werden. Mit Luhmann
sortiert das Gedächtnis aus Anlaß von Auffälligkeiten (die immer nur an den eigenen Schemata auffallen), ob es das Bemerkte der Situation zurechnen oder in ein neues Schema verwandeln will, das für Wiedererkennen ähnlicher Sachverhalte zur Verfügung steht. Auf diese Weise können Systeme, die über ein Gedächtnis verfügen, nicht nur Ballast abwerfen, indem sie vergessen. Sie können sich auch vorübergehend auf vorübergehende Lagen einstellen und dabei selbst (vielleicht oft irrig) bestimmen, was sie als vorübergehend ansehen und was sie in die Form eines Schemas bringen und in diesem Sinne lernen wollen. (Luhmann 1996b: 313)
Im obigen Beispiel einer verbalen Kommunikation weiß Ego womöglich – durch seine früheren Interaktionen mit Alter – dass letzterer seine Wünsche indirekt ausdrückt. Deswegen sucht Ego in Alters Mitteilung „es ist elf Uhr“ nach einer anderen Information als der bloßen Bekanntgabe der Uhrzeit. Diese Kenntnis gehört zu den Schemata, die vom Gedächtnis der Kommunikation zwischen den beiden immer erinnernd erwartet werden. Diese Schemata machen ihrerseits den Horizont der Potenzialitäten aus, aus denen gewisse Mitteilungen aktualisiert werden und durch ihre Differenz zu den ausgebliebenen Potenzialitäten Sinn ergeben.
Hier ist eine Anmerkung zum Zusammenhang von Sinn und Gedächtnis notwendig: Ego muss – beim Unterscheiden einer Information von Alters Mitteilung durch das Medium Sinn – nicht bewusst darüber nachdenken, wie sich Alter sonst noch ausdrücken und was die aktuelle Mitteilung durch den Ausschluss dieser bewusst-gemachten Potenzialitäten bedeuten könnte. Das Potenzielle ist, dank der Erinnern-Funktion des Gedächtnisses der Kommunikation, immer als Horizont gewisser Erwartungen in der Kommunikation präsent. Diese Erwartungen muss Ego nur dann bewusst aufrufen und verarbeiten, wenn sie nicht erfüllt werden. Nach dieser kurzen Einführung in zentrale Begriffe von Luhmanns Kommunikationstheorie folgt im nächsten Abschnitt die aktive Anwendung dieser Begriffe im Rahmen exemplarischer Filmanalysen.
Die Differenzen im Film, von denen hier die Rede ist, befinden sich auf der Ebene des Sichtbaren und Hörbaren und können durch eine genaue Szenenanalyse erkannt werden. In der Einführungssequenz von CITIZEN KANE (Clip 1) sieht man, nachdem einige Einstellungen den riesengroßen und menschenleeren Garten eines Palasts zeigen, in einer Totalen die Silhouette einer männlichen Figur (Orson Welles), die im Gegenlicht des Fensters auf einem Bett liegt. Diese ganze Sequenz wird von Beginn an bis zum Ende der hier analysierten Szene durch eine traurige und gleichzeitig gespenstische Musik untermalt. Durch eine Überblendung wird der Bildkader vom fallenden Schnee gefüllt, aber dieser Schneefall wird zügig von einem Haus in einer dunklen schneebedeckten Landschaft überblendet. Ein Zurückzoomen zeigt, dass es sich dabei nicht um ein echtes Haus im echten Schnee, sondern um ein Häuschen in einer Schneekugel handelt, die in der Handfläche eines Mannes liegt. Schnitt zur Detailaufnahme eines männlichen Mundes, der das Wort „Rosebud“ flüstert. Hier hört die extradiegetische Musik für wenige Sekunden auf, damit auf der Tonebene nur das Flüstern des Mannes, und zwar mit einer außergewöhnlichen Verstärkung, zu hören ist. Mit einem Schnitt zur Hand, die kraftlos die Schneekugel fallen lässt, setzt die Musik wieder ein. Man sieht, wie die Kugel über zwei Treppenstufen herunterrollt und in einem Gegenschuss den Boden berührt und zerbricht. Schnitt zur (durch das konkave Glas der gebrochenen Kugel) verzerrten Totalen einer Krankenschwester, die den Raum betritt. In einem Gegenschuss ist schließlich die Krankenschwester in einer amerikanischen Aufnahme zu sehen, wie sie die Arme des verstorbenen Mannes auf dessen Brust verschränkt und sein Gesicht – von dem durch den Lichteinfall des Fensters immer noch die Silhouette erzeugt wird – mit der Decke verhüllt. Der einzige diegetische Ton in dieser Szene ist das geflüsterte Wort „Rosebud“, das vom sterbenden Charles Foster Kane ausgesprochen wird. Die hier analysierte Szene dauert knapp eine Minute.
Der von mir ausgewählte Ausschnitt aus der Todesszene in BIUTIFUL (Clip 2) ist etwa doppelt so lang und verläuft ohne harte Schnitte. Hier schwenkt die Kamera sanft hin und her zwischen Uxbal (Javier Bardem), der krank im Bett liegt, und seiner Tochter Ana (Hanaa Bouchaib), während sich die beiden flüsternd im Bett unterhalten. Am Anfang dieses Ausschnitts sind Uxbals Augen noch geöffnet. Seine Tochter hält seine linke Hand und zieht einen Ring von seinem Finger. Uxbal legt seine Hand, die immer noch die Hand seiner Tochter hält, langsam auf das Bett und atmet tief ein. Die Kamera zeigt beide Hände in einer Großaufnahme und schwenkt wieder auf Uxbals Gesicht in derselben Einstellungsgröße, das mit offenen Augen und starrem Blick bewegungslos geblieben ist, während das flüsternde Gespräch mit seiner Tochter immer noch zu hören ist. Die Kamera schwenkt wieder nach rechts zurück auf Anas Gesicht, die ihrem Vater zuhört und den Ring an ihrem Finger betrachtet. Hier schwenkt die Kamera nicht mehr nach links und in Uxbals Richtung, sondern weiter nach rechts, um im Spiegel nicht nur die im Bett nebeneinander liegenden Ana und Uxbal zu zeigen, sondern auch einen zweiten Uxbal, wie er auf einem Stuhl neben sich selbst sitzt und sich und seine Tochter im Bett mit traurigen Augen betrachtet. Die Kamera fährt hier langsam auf das Spiegelbild des sitzenden Uxbal zu, während durch einen J-Cut schon der Ton der nächsten Szene zu hören ist. Die Kamera fährt so nah an Uxbals Gesicht im Spiegel heran, bis nur seine Augen in einer Detailaufnahme zu sehen sind, während Ana ihn ruft, ohne dass er antwortet. Anas Stimme wird zittrig, als ob sie festgestellt hätte, dass ihr Vater nun tot ist. Hier finden ein kurzer L-Cut und ein unsichtbarer Match-Cut statt, bei dem weiterhin Uxbals Augen zu sehen und gleichzeitig die Stimme seines jungen verstorbenen Vaters zu hören ist. Nach einem Schnitt sieht man darauffolgend seinen Vater in einer Über-die-Schulter-Totalen. Uxbal und sein junger Vater befinden sich in einem schneebedeckten Wald und ihr Gespräch wird von nun an im konventionellen Schuss-Gegenschuss-Verfahren inszeniert. Hierdurch wird, so meine Lesart, mit filmästhetischen Mitteln das Ineinanderschieben von den Lebens- und Todeswelten ausgedrückt.
Schon in der Einleitung wurde angedeutet, was die oben analysierten Szenen für Zuschauende in erster Linie ‚bedeuten‘ oder was sie ‚sagen‘ können. Aber wie sind diese Filmszenen überhaupt in der Lage, die genannten Informationen, die letztlich auch sprachlich ausgedrückt werden können, durch ein nicht-sprachliches Medium zu kommunizieren? Meine Antwort lautet: Durch die Differenz von dem, was durch den Film aktualisiert wurde, und allem Potenziellen, das an seiner Stelle aktualisiert werden könnte, ergeben filmische Kommunikationen – mit Luhmann – Sinn und können entsprechend verstanden werden. Im Folgenden möchte ich genauer erläutern, wie diese Differenzen ‚gemacht‘ werden.
In CITIZEN KANE wird etwa das Gesicht des sterbenden Mannes stets als Silhouette gezeigt oder durch die Detailaufnahme seines Mundes teilweise außerhalb des Kaders gelassen, während eine andere Entscheidung des Regisseurs bezüglich der Beleuchtung oder Einstellungsgröße die Zuschauenden dazu befähigen würde, dieses Gesicht zu sehen. Dies kommt in den folgenden Sequenzen des Films dann tatsächlich auch vor. Ein weiteres Beispiel aus dieser Szene ist der Moment, in dem die extradiegetische Musik für wenige Sekunden verstummt, sodass das geflüsterte und verstärkte Wort „Rosebud“ die ganze Tonebene einnimmt. Hier kann die Frage gestellt werden, warum die Musik und das Wort nicht gleichzeitig zu hören sind. Nicht zuletzt könnte die Schneekugel schon von Anfang an in der Handfläche des Mannes zu sehen sein. Warum sollte aber zunächst die Illusion entstehen, dass sich die Kamera in einer realen Schneelandschaft befindet, was sich jedoch letztlich durch ein schnelles Zurückzoomen als Täuschung entpuppt? Ähnliche Fragen lassen sich an die Schlussszene von BIUTIFUL richten: Warum schwenkt die Kamera zwischen Vater und Tochter hin und her, statt sie im Schuss-Gegenschuss-Verfahren zu zeigen? Warum gibt es die L- und J-Cuts und den Match-Cut zwischen dem Schlafzimmer und dem Wald, statt Bild und Ton synchron zu montieren und dadurch einen klaren Ortswechsel der Handlung anzudeuten?
Wenn diese Fragen bis zu einem gewissen Grad abstrahiert werden, lassen sich dabei vier Hauptmuster erkennen:
Auf dieser Abstraktionsebene wird erkennbar, wie all diese Fragen sich auf die Differenz zwischen Aktualität und Potenzialität bei Mise en Scène, Kameraführung, Tontechnik und Montage beziehen, also das Verhältnis adressieren, zwischen dem, was ist, und dem, was stattdessen sein könnte. Wie bereits oben mit Luhmann erklärt, geht es bei dieser Differenz um das Medium Sinn. Die Antwort auf jede der obigen Sinn-bezogenen Fragen führt zu einer Informationseinheit des Films. Diese Fragen müssen sich die Zuschauenden nicht bewusst stellen, um den Film zu verstehen. Wie schon gesagt, sind sämtliche Potenzialitäten in der filmischen Kommunikation als Horizont der Erwartungen beim Anschauen des Films präsent. Die filmästhetischen Erwartungen der Zuschauenden müssen ihnen nicht bewusst sein. Die Zuschauenden werden erst dann darauf aufmerksam, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden.
Es lohnt sich hier, das Sinngebungsverfahren der genannten Differenzen in den ausgewählten Filmszenen detailliert zu untersuchen: Das Zeigen von Kanes Gesicht wird durch die Lichtverhältnisse und Einstellungsgrößen vermieden, während die Zuschauenden sein Gesicht klar zu sehen bekommen könnten. Diese Differenz suggeriert, dass er ein mysteriöser Mensch gewesen ist. Außerdem könnte die extradiegetische Musik weiterhin gehört werden, als Kane das Wort „Rosebud“ flüstert. Aber nicht nur die Musik hört kurz auf, sondern Kanes flüsternde Stimme wird auch verstärkt, obwohl diese Verstärkung im Raum, in dem er sich befindet, unplausibel ist. Dies ist also keine Verstärkung durch die Akustik des diegetischen Raums, sondern deutlich eine tontechnische. Diese Differenz bedeutet, dass die Zuschauenden diesem Ausdruck besondere Aufmerksamkeit schenken müssen sowie dass das Wort höchstwahrscheinlich im Laufe des Films eine Schlüsselrolle spielen wird. Schließlich erfahren die Zuschauenden durch die Differenz zwischen der Illusion einer realen Schneelandschaft und der Korrektur dieser Illusion durch das Zurückzoomen der Kamera, dass es sich dabei nicht nur um einen erwachsenen Mann handelt, der kindlich eine Schneekugel in Händen hält, sondern um den Zusammenhang zwischen einer realen Schneelandschaft und ebenjener Kugel. Später im Film erfahren die Zuschauenden, inwiefern dieser Zusammenhang Kanes Kindheit entstammt (vgl. Header-Abbildung).
Im Falle von BIUTIFUL weist der Unterschied zwischen den genannten Kontinuitäten der Ton- und Bildebene und dem potenziellen harten Schnitt – welcher den Zuschauenden durch ihr ‚Filmgedächtnis‘ bekannt ist – darauf hin, dass es sich bei Uxbals Tod nicht um einen Bruch zwischen Sein und Nicht-Mehr-Sein handelt, sondern um ein sanftes Gleiten von einer Welt in die nächste. Der Spiegel dient hier als die Schwelle, durch die Uxbal und die Kamera ins Jenseits gleiten. Die ‚realen‘ Menschen und Orte, die in dieser Szene durch die Kontinuitäten auf den Ebenen der Kameraführung, des Tons und der Montage visuell und auditiv präsentiert werden, weisen wiederum eine Differenz zu der filmästhetischen Möglichkeit auf, dass etwa ein computergenerierter und transparenter Geist sich von Uxbals Körper trennen und durchs Dach zum Himmel fliegen oder dass das Jenseits anders dargestellt werden könnte als der in diesem Film aktualisierte ‚Naturraum‘. Was könnte diese Differenz bedeuten? Sollten vielleicht die Zuschauenden dadurch Uxbal zum Leben nach dem Tod begleiten und bei dieser Begleitung auch selbst erahnen, wie sich das Sterben anfühlt?
Diese konkreten Betrachtungen der Art und Weise, wie Differenzen im Film zur Herstellung von Sinn führen, fügen sich zu einem theoretischen Modell, das im nächsten Schritt dem Skizzieren einer Kommunikationstheorie des Films dienen kann. Die Unterscheidungsoperationen, welche die Zuschauenden der beispielhaften Szenen durchführen, nennt Luhmann in Anlehnung an George Spencer-Brown „Beobachtungen erster und zweiter Ordnung“ (vgl. Luhmann 1997: 92ff.).
Hier ist es vor allem wichtig, dass der Luhmann’sche Beobachtungsbegriff von jeglichen visuellen Metaphern, die sich beim Verwenden dieses Begriffs anbieten, abgehoben wird. Etwas zu beobachten, heißt im Luhmann’schen Verständnis nicht, es visuell wahrzunehmen. Vielmehr ist mit Beobachtung die Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung gemeint.
Jede Beobachtung benutzt eine bestimmte Unterscheidung (System/Umwelt, Ganzes/Teil, Gestalt/Hintergrund etc.), die es ihr ermöglicht, ein Netzwerk weiterer Unterscheidungen aufzubauen und damit Informationen [...] hinsichtlich des Beobachteten zu gewinnen. (Esposito 1997: 125)
In dem logischen System, das er durch die Zuhilfenahme seines Formenkalküls entwickelt hat, bezeichnet Spencer-Brown eine Beobachtung vereinfacht wie folgt:4
Diese Formel besagt, dass A, das auf der Innenseite des Kreuzes steht, von B unterschieden und durch diese Unterscheidung bezeichnet wird. B kann, je nach Kontext, alles andere sein, was nicht A ist. Die Einheit der Differenz von A und B und die daraus resultierende Bezeichnung von A macht die Form der Beobachtung aus. Selbstverständlich erfolgen diese Prozesse – also Unterscheidung, Bezeichnung und demzufolge Beobachtung – durch einen „Beobachter“.5 Diesen nennt Luhmann „Beobachter erster Ordnung“.
Ich behaupte, dass die Beobachtung erster Ordnung eines Films bei dessen unmittelbarer Wahrnehmung stattfindet. Dabei spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle, und zwar Zeit und Realität. Der „Beobachter erster Ordnung“ kann in einem bestimmten Augenblick nur A beobachten und nicht B, das ausgeschlossen werden muss, damit A bezeichnet werden kann.6 Wenn er B beobachten möchte, braucht er Zeit, um eine neue Unterscheidung zu treffen und dadurch etwas anderes, was auf der Außenseite des Kreuzes steht (s.o.), zu bezeichnen. Zurück zu den Filmbeispielen: Bei ihnen machen die konkreten Bilder und Töne sowie deren Zusammenhänge, wie sie von den Zuschauenden wahrgenommen werden, die von B unterschiedene und durch Beobachtung bezeichnete Seite der Form aus, was in der obenstehenden Formel durch A repräsentiert wird.
Neben der Synchronität von Unterscheidung einerseits und Bezeichnung andererseits, die für die Beobachtung erster Ordnung konstitutiv ist, gehört zu den Eigenschaften dieser Beobachtung auch die Tatsache, dass dabei keine Unterscheidung zwischen Realität und Nicht-Realität getroffen wird. Das erläutert Luhmann anhand eines einfachen Beispiels:
Man sieht, dass die Sonne ‚aufgeht‘, und kann es nicht anders sehen, obwohl man weiß, dass man sich täuscht. Anders gesagt: Auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung, die nie ganz aufgegeben werden kann, kann zwischen Realität und Realitätsillusion nicht unterschieden werden. (Luhmann 1998: 93)
Ähnliches tritt bei der Wahrnehmung der Filme auf, und zwar, „dass auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung zwischen Illusion und Realität und darum auch zwischen realer Realität und imaginärer Realität nicht unterschieden werden kann.“ (Luhmann 1996a: 162) Die Beobachtung erster Ordnung bei der Filmwahrnehmung – wie sie hier von Luhmann in Bezug auf die Massenmedien beschrieben wird – kann mit denjenigen Filmtheorien verkoppelt werden, die sich mit dem Konnex Film/Realität, der filmischen Realitätsillusion oder mit der Wahrnehmung des Films als eigenständiger Wahrnehmungsform auseinandersetzen, und das mit einem phänomenologischen Ansatz.7 Diese Beobachtungsebene ist diejenige, auf welcher der Film vor allem leiblich und affektiv wahrgenommen wird. Auf dieser unmittelbaren Wahrnehmungsebene, die den Fokus der phänomenologischen Filmtheorie ausmacht, müssen die Zuschauenden zwischen Realität und Nicht-Realität (oder Fiktion oder Realitätsillusion, wie man die Außenseite der Form auch immer nennen möchte) nicht unterscheiden.
Mit Realitätsillusion auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung ist hier nicht nur die immersive Filmwahrnehmung gemeint, sondern eher die Beschränkung der Beobachtung auf die Filmszenen, die synchron wahrgenommen werden. Die Zuschauenden wissen natürlich, dass es sich bei dem Film nicht um Realität handelt, aber das, was vor ihren Augen geschieht, ist erst einmal auf seine wahrnehmbare Ebene beschränkt. Anders gesagt, stimmt die filmische Kommunikation bei einer Beobachtung erster Ordnung mit der Wahrnehmung der Diegese überein. Es ist den Zuschauenden überlassen, inwiefern sie ihre Aufmerksamkeit der Diegese schenken und dabei die ‚reale‘ Realität ihrer Anwesenheit im Kinosaal oder Wohnzimmer vergessen. Natürlich können die Beobachtung erster Ordnung des Films und der dadurch entstandene Realitätseindruck jederzeit unterbrochen werden, damit die Zuschauenden beispielsweise mit der Person, die neben ihnen sitzt, ein paar Worte austauschen oder auf die Toilette gehen können.
Die Erfahrung eines Films lässt sich aber nicht auf seine Beobachtung erster Ordnung beschränken. Die Zuschauenden des Films werden auf einer weiteren Beobachtungsebene zu Rezipient*innen der filmischen Kommunikation und versuchen, diese Kommunikation zu verstehen. Diese Beobachtungsebene nennt Luhmann „Beobachtung zweiter Ordnung“. Erst auf dieser Ebene geschieht es, dass die im vorigen Kapitel erwähnten Unterscheidungen getroffen und dem Film von den Rezipient*innen ein Sinn verliehen wird.
Anders als der „Beobachter erster Ordnung“, der zu jedem Zeitpunkt nur eine Seite einer Unterscheidung bezeichnen kann und die andere Seite zwangsläufig ignoriert, kann der „Beobachter zweiter Ordnung“ beide Seiten gleichzeitig beobachten. Anders gesagt, ist der „Beobachter zweiter Ordnung“ in der Lage, die Beobachtung eines „Beobachters erster Ordnung“ zu beobachten. Wenn es zum Wahrnehmen eines Films und Rezipieren des Films als Kommunikation kommt, stimmen die „Beobachter erster und zweiter Ordnung“ miteinander überein, was heißt, dass dieselben Zuschauenden immer beide Positionen einnehmen können. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Beobachtung zweiter Ordnung immer und zwangsläufig nur mit einer zeitlichen Verschiebung möglich ist. Erst rückblickend kann man beide Seiten der Differenz beobachten, durch welche die Filmform entstanden ist, also erst dann, wenn die Beobachtung erster Ordnung der bezeichneten Seite der Form schon in der Vergangenheit liegt.
In der Eröffnungsszene von CITIZEN KANE beobachten die Zuschauenden etwa als „Beobachter erster Ordnung“ Folgendes: Mann auf dem Bett, Schneekugel in der Hand, Mund und „Rosebud“, Kugel rollt herunter und zerbricht, Schwester tritt ein, lebloser Körper des Mannes wird bedeckt. Durch die Montage wird zwischen diesen Einstellungen eine zeitliche und räumliche Kontinuität hergestellt. Die Zuschauenden können somit etwa verstehen, dass die Hand und der Mund demselben Mann gehören, dessen Silhouette sie am Anfang gesehen haben. Bei Beobachtung erster Ordnung handelt es sich also um ‚Dinge‘, die gesehen und gehört werden. Aber erst nachträglich, nachdem die beschriebenen Einstellungen vorbei sind – sei es beim Anschauen der nächsten Szene, sei es, nachdem der Film zu Ende ist, sei es eine Woche nach einem Kinobesuch – ergeben diese einzelnen Einstellungen für die Zuschauenden Sinn. Erst dann können die Zuschauenden nämlich diese Einstellungen im Unterschied zu dem abwägen, was potenziell an ihrer Stelle erscheinen könnte. Die Differenz der Großaufnahme des Mundes zu einer Nahaufnahme, in der das ganze Gesicht zu sehen wäre, ‚bedeutet‘ etwas. Im Zusammenhang mit den anderen Verweigerungen – in dieser Szene: die Identität des sterbenden Mannes zu verraten – kann diese Differenz bedeuten, dass es sich dabei um einen mysteriösen Menschen handelt. Diese Differenz kann gleichzeitig auch als eine Betonung des Wortes verstanden werden, das durch den groß abgebildeten Mund ausgesprochen wird. Zwischen der Mysteriosität dieses Mannes und seinem letzten Wort kann also ein Zusammenhang hergestellt werden.
Außer den genannten Informationen können diese Differenzen noch viele andere Bedeutungen mit sich tragen, je nachdem, was der Außenseite der durch sie entstandenen Formen bei der Beobachtung erster Ordnung zugeschrieben wird und von wem (also von welchem „Beobachter zweiter Ordnung“). Das Verstehen des Films ist also stark von den Individuen abhängig. Mit Luhmann kann und möchte ich nicht nach festen Informationen in den hier analysierten Filmen suchen und sagen, was sie bedeuten, sondern – und darin besteht die Stärke von Luhmanns Kommunikationstheorie – ich möchte beschreiben, wie Film überhaupt etwas bedeuten kann. Dass filmische Kommunikation aus Differenzen besteht, heißt, dass diese Kommunikation immer anders verstanden wird, je nachdem, was der Film auf den Ebenen Bild, Ton und Montage aktualisiert und gegenüber welchen potenziellen ästhetischen Entscheidungen diese Aktualitäten von den individuellen Zuschauenden als Differenz beobachtet werden.8
Die Beobachtung zweiter Ordnung des Films markiert den Bereich der kognitivistischen Filmtheorie, die mit der hier skizzierten Kommunikationstheorie des Films verkoppelt werden kann. Laut David Bordwell gibt jeder Film den Zuschauenden ‚cues‘ oder Hinweise, um bei seinem Verstehen zu triftigen Unterscheidungen zu führen. Diese cues weisen nach Bordwell auf den Zuschauenden bereits bekannte Schemata und Normen hin, damit die Zuschauenden den wahrgenommenen Film, vor dem Hintergrund dieser Schemata und Normen, als die Außenseite einer Form beobachten.9 Schemata sind für Bordwell die kulturell oder durch vergangene Filmerfahrungen etablierten Handlungen und Charakterzüge der Filmfiguren, die den Zuschauenden bereits bekannt sind und deswegen von ihnen verstanden werden, wenn sie in einem aktuellen Film wieder auftauchen. Unter Normen versteht er hingegen das Beiprodukt der redundant wiederholten Formen in den vergangenen (filmischen) Kommunikationen.10 In Bordwells Worten bestehen Normen aus „gewohnheitsmäßige[n] Praktiken“ auf unterschiedlichen Ebenen der filmischen Mitteilung wie der Kameraführung, der Tontechnik oder der Montage:
Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: seit Mitte der zehner Jahre gilt es als eine Norm des Hollywood-Studiosystems, daß eine dramatische Handlung in einem kohärent einheitlichen Raum stattzufinden hat. Dieser wird durch Hilfsmittel wie continuity editing, gleichbleibende Orientierungspunkte und andere dargestellt. (Bordwell 1992: 8, Herv. i. O.)
Mit seinem Norm-Begriff weist Bordwell auf einen essenziellen Aspekt der Sinngebung filmischer Kommunikation hin. Bis jetzt habe ich bei Beobachtung zweiter Ordnung mit Luhmann immer von einer Außenseite des aktualisierten Films gesprochen. Während ein gegenwärtig geschauter Film für alle Rezipient*innen gleich und konkret präsent ist, bleibt die Außenseite bei Beobachtung erster Ordnung immer inexistent und abwesend. Wie kann aber überhaupt etwas vom „Beobachter zweiter Ordnung“ dieser Außenseite zugeordnet werden? Woher sollen die „Beobachter zweiter Ordnung“ überhaupt wissen, was anstelle des aktualisierten Films möglich wäre? Wie sollen sie also erahnen, dass beispielsweise in CITIZEN KANE die Schneekugel vom Anfang an als solche dargestellt werden könnte, statt der Reihenfolge: Illusion eines echten Schneefalls und dann Korrektur dieser Illusion durch Zurückzoomen? Oder wie sollen die Zuschauenden wissen, dass in BIUTIFUL das ganze Gespräch zwischen Vater und Tochter in einer Totalen gezeigt werden könnte, anstatt in Großaufnahmen durch eine schwenkende Kamera?
Diese Frage kann mit einer Luhmann’schen Interpretation von Bordwells Norm-Begriff beantwortet werden: Die Außenseite der Beobachtung erster Ordnung, die für die Sinngebung des Films auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung unentbehrlich ist, wird durch die Summe der in der Vergangenheit redundant wiederholten Selektionen des Films als ein Kommunikationssystem bestimmt, also durch die Schemata,11 die sich immer wieder in den vergangenen Filmen aktualisiert haben. Je nachdem, welche und wieviele Filme die Zuschauenden schon kennen, können sie sich die erneut vorkommenden Schemata aus diesen Filmen merken und bei dem gegenwärtigen Filmschauen auch erwarten. Das lässt sich anhand des konkreten Beispiels der Eröffnungsszene von CITIZEN KANE aufzeigen. Die ursprünglichen Zuschauenden dieses Films erwarteten wahrscheinlich eine ähnliche Filmstruktur wie diejenige, die sie aus dem Hollywood-Kino der 1930er und frühen 1940er Jahre kannten: einen ‚establishing shot‘, der keine Informationen verbirgt, und darauffolgende Schnitte, die immer mehr zur Klarheit der im establishing shot etablierten Handlungen und Ereignisse beitragen. In der Eröffungsszene von CITIZEN KANE passiert aber genau das Gegenteil: Nicht nur wird das Gesicht des auf dem Bett liegenden Mannes im establishing shot verborgen, sondern die darauffolgenden Einstellungen weisen zunächst keinen Zusammenhang auf, verwirren dadurch gar die Zuschauenden: die Illusion des Schneefalls; das ungewöhnliche Zurückzoomen; das Wort „Rosebud“, das nicht im Kontext eines Satzes oder eines Gesprächs, sondern spontan und zusammenhangslos ausgesprochen wird – diese inszenatorischen Entscheidungen ergeben erst im Kontext des Erwartungshorizonts der Zuschauenden Sinn. Die Erwartungen der Zuschauenden sind ihrerseits das Ergebnis der Redundanz von Schemata, die in den vorangegangen Filmen häufig vorgekommen sind. Die durch Redundanz entstandenen Schemata werden, mit Luhmann gesprochen, vom Gedächtnis der filmischen Kommunikation erinnert und beim Anschauen aktueller Filme erwartet.
Die Funktionen des Gedächtnisses sind für Luhmann, wie oben schon angemerkt, Erinnern und Vergessen. Im Falle der filmischen Kommunikation ist das Gedächtnis einerseits dafür zuständig, Redundanzen, also durch Wiederholung erzeugte Schemata in den vergangenen Filmen zu erkennen. Redundanz ist nämlich ein Anzeichen dafür, dass diese Schemata auch in der Zukunft vorkommen könnten. Alles andere, was einmalig bei filmischen Kommunikationen vorkommt und nicht zu einer Schemabildung beiträgt, kann vom Gedächtnis dieser Kommunikation vergessen werden. Vergessen ist für Varietät in der Kommunikation zuständig. Das bedeutet im Falle von Film, dass nicht alle strukturellen Differenzen aus den älteren Filmen von einem aktuellen Film wiederholt werden müssen. Die hier analysierten Filmszenen liefern passende Beispiele für Varietät: Durch ihre innovativen strukturellen Differenzen zu den etablierten Film-Schemata ergeben sie anders Sinn als Filme, welche die für das Gedächtnis bereits bekannte Differenzen zwischen aktuell und potenziell reproduzieren.
Dank des Gedächtnisses kann die Beobachtung zweiter Ordnung des Films zustande kommen und der Film wird dadurch dazu befähigt, Sinn zu ergeben. Eine Differenz zwischen den Gedächtnisfunktionen der zeitgenössischen Filmkommunikation und der Filmkommunikation der 1920er Jahre ist es, dass die Beschleunigungsszene in Abel Gances LA ROUE (F 1923) (Clip 3) für die damaligen Zuschauenden ein revolutionäres Erlebnis markiert, während heutige Zuschauende vermutlich kaum bemerken, warum diese Szene einen wichtigen Schritt in der Evolution der Filmsprache kennzeichnet (vgl. Bazin 2004: 91f.). In ähnlicher Weise kann auch die (ob nun wahre oder erdachte) Anekdote glaubwürdig wirken, nach der die damaligen Zuschauenden des Films L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (F 1896) vor dem projizierten Bewegtbild des einfahrenden Zugs geflohen sind. Die Anekdote kann so gedeutet werden, dass der frühe Film erst ein Gedächtnis entwickeln musste, damit er überhaupt auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet werden, also als Kommunikation gelten und Sinn ergeben konnte. Wenn die filmische Kommunikation über kein Gedächtnis verfügt, dann ist auch keine strukturelle Kopplung zwischen den Gedächtnissen der Individuen und des Films möglich, was dazu beiträgt, dass die Zuschauenden den Film nur als „Beobachter erster Ordnung“ wahrnehmen und ihn teilweise sogar nicht von Realität unterscheiden können.
In diesem Beitrag habe ich am Beispiel von Filmszenen aus CITIZEN KANE und BIUTIFUL zu erläutern versucht, wie der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Kommunikation beim Verstehen der filmischen Mitteilung systemtheoretisch gefasst werden kann. Um diesen komplexen Zusammenhang zum Gegenstand filmwissenschaftlicher Diskussion zu machen, habe ich vorgeschlagen, dass Filme auf einer abstrakten Ebene als Kommunikationssysteme gesehen werden sollten, die nicht nur aus Bildern, Tönen oder Zeichen, sondern auch und im Wesentlichen aus Differenzen bestehen. Eine Analyse der ausgewählten Filmszenen hat gezeigt, dass Filme mindestens auf zwei Ebenen beobachtet werden können, und zwar auf den Ebenen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung. Bei Beobachtung erster Ordnung werden Filme als Realität wahrgenommen, während sie bei Beobachtung zweiter Ordnung als Kommunikation empfunden werden und die Zuschauenden auf dieser Ebene nach ihrer Bedeutung fragen. Auch weitere Beobachtungsebenen sind anschließend an die Beobachtung zweiter Ordnung möglich, die aber nicht mehr den Film selbst beobachten, sondern die Informationen, die aus der Beobachtung zweiter Ordnung des Films gewonnen wurden.
Durch die Inanspruchnahme von Niklas Luhmanns Kommunikationstheorie habe ich die für filmische Kommunikation entscheidende Differenz als die zwischen aktuell und potenziell begriffen, welche bei Luhmann Sinn konstituiert. Die strukturellen Einheiten eines aktuellen Films ergeben demnach erst dann einzeln und zusammen Sinn, wenn sie gegenüber den potenziellen Wahlmöglichkeiten auftreten, die an ihrer Stelle realisiert werden könnten. Die Erwartung von potenziellen, nicht realisierten Mitteilungen beim Anschauen eines Films ist ein Produkt der Erinnerungsfunktion des Filmgedächtnisses. Auch das Gedächtnis arbeitet mit einer Differenz, und zwar der zwischen Erinnern und Vergessen. Ohne Differenz gibt es also kein Gedächtnis, keinen Sinn und keine Kommunikation, und dabei sind filmische Kommunikationen keine Ausnahme.
In meiner Skizze habe ich versucht, einerseits zwischen Luhmanns Kommunikationstheorie und Filmwissenschaft, andererseits zwischen zwei bestehenden Filmtheorien zu vermitteln. Die neophänomenologische und neoformalistisch-kognitivistische Filmtheorie beschäftigen sich, wie hier verkürzt gezeigt, mit je einer Beobachtungsebene des Films und schließen die andere aus. Neo-Phänomenologie thematisiert hauptsächlich die Beobachtung erster Ordnung, während die neoformalistisch-kognitivistische Filmtheorie sich mit der Kommunikationsweise des Films auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung beschäftigt. Ich schlage vor, dass filmische Kommunikation auf einer übergeordneten Ebene betrachtet wird, die dank Luhmanns Kommunikationstheorie eine Synthese zwischen diesen theoretischen Ansätzen bildet. Bereits Christian Metz hat versucht, zwischen der Wahrnehmung und der Kommunikation des Films einen Zusammenhang herzustellen. In seinem Buch Film Language – A Semiotics of the Cinema (1991) widmet er sich zwar diesen zwei Ebenen in getrennten Kapiteln, ohne sie aber anschließend miteinander zu verknüpfen. Dieser Artikel hat versucht zu zeigen, dass die filmtheoretische Lücke zwischen den Beobachtungen erster und zweiter Ordnung des Films, also zwischen Wahrnehmung und Kommunikation, anhand von Luhmanns Kommunikationstheorie geschlossen werden kann.
Mit Luhmanns Kommunikationstheorie kann nur die Kommunikationsweise von Filmen grundsätzlich erläutert, nicht die durch einen Film vermittelte (feststehende) Information bestimmt werden. Diese Kommunikationsweise basiert auf Differenzen. Je nachdem, welche Differenzen durch den Film und von den Zuschauenden ‚gemacht‘ werden, bedeutet der Film etwas anderes. Gleichzeitig steht in Luhmanns Kommunikationstheorie die Mitteilung im Mittelpunkt und nicht die psychischen Eigenschaften der Individuen, die am Kommunikationsverfahren beteiligt sind. Das bedeutet aber nicht, dass Individuen für seine Theorie keine Rolle spielen. Individuen sind im Sinne Luhmanns vielmehr diejenigen Instanzen, die bei der Mitteilung oder beim Verstehen im Kommunikationsverfahren Unterscheidungen treffen. Sie sind also schon in Begriffen wie Beobachter, Sinn und Gedächtnis präsent. Ich hoffe, dass die vorliegende differenzbasierte Skizze einer Kommunikationstheorie des Films zur weiteren Diskussion und Anwendung von Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft in der Filmwissenschaft beiträgt.
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