Die neue Schaubuehne und die Lesekultur
"Wirkliches Leben ist echt, einfach und wahr. Deshalb keine Pose, keine Rührmätzchen. Im Film nicht, nicht auf der Leinwand, nicht im Bau. Zeigt, was drinsteht, was dran ist, was draufgeht. – Bühnenhaus? – keine Spur! … Bildleinwand -– die Außenwelt. Filmbild – das bunte Leben, Tränen, Zirkus und Meermondschein. Wir Zuschauer – tausend, zweitausend Objektive, die aufsaugen und reflektieren …" (Erich Mendelsohn zur Eröffnung des Kino Universum 1928)
Am Theater passiert derzeit etwas. Besonders vielleicht an der neuen Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Hier hat nicht nur ein Wechsel in der künstlerischen Leitung stattgefunden. Es ereignet sich noch etwas anderes, dessen Horizont möglicherweise noch nicht abzusehen ist. Zum einen gibt das Ensemble seinen Einstand mit einer rasanten Folge von neuen Stücken, Premieren, Erstaufführungen: Körper, Personenkreis 3.1, Das Kontingent, Gier, Vor langer Zeit im Mai etc. Diese Stücke finden zwar geteilten Widerhall in den Kritiken und Feuilletons, aber ein fast ungeteiltes Wohlwollen für den Versuch der Erneuerung, für diesen neuen Realismus des Theaters. Zum anderen veröffentlicht die Crew um Thomas Ostermeier Manifeste, in denen eine radikale, laute Kritik am gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft formuliert wird. Das Theater wird dabei zu einer utopischen Hoffnung auf einen Ort der Repolitisierung und Bewußtwerdung. Die Atmosphäre und tumultähnliche Zustände, die ein Sonntagmittagstermin, ein Streitgespräch mit dem eigens eingeladenen und angereisten Pierre Bourdieu, in der Schaubühne auslösten (noch nie wurden soviele Fahrräder vor der Schaubühne gesichtet!), geben diesen Manifesten für einen neuen Realismus bestätigendes Feedback. In solchen Momenten erscheint es so, als könnte das Theater tatsächlich den Ort politischer Gegenkultur, den einst die Universitäten bildeten, wieder revitalisieren.
Das besondere Experiment der neuen Schaubühne besteht aber gerade in der Verknüpfung von beiden Aspekten. Mit ihrer ungeheuren Produktivität befinden sich die Theatermacher auf der Überholspur, d.h. auf der Seite eines Turbokapitalismus. Sie treten nicht nur mit der hohen Anzahl von neuen Stücken hervor, sondern sie verdichten diese selbst noch so, daß abendfüllende Vier-Stunden-Stücke in 90 Minuten spielbar werden oder manche Szenenfolgen mit der Schnittgeschwindigkeit von Spielfilmen konkurrieren. Die Manifeste aber richten sich gerade gegen die alleinige Orientierung an Marktgesetzen und fragen danach: 'Wie eigentlich sollten wir leben?' Aus diesem bewußten (kalkulierten?) Widerspruch bezieht die neue Schaubühne eine Position, die einem utopischen Ort ähnelt, dessen Charakter aber eher vom Paradox bestimmt ist. Und es scheint gerade dieses Paradox zu sein, über das sich der proklamierte neue Realismus mit der notwendigen Authentizität und Echtheit auflädt.
Neben den Manifesten zur Repolitisierung und zur Erneuerung des Theaters, enthalten die Reflexionen dieser neuen Generation auch Wünsche und Vorstellungen über ihr zukünftiges Publikum. In bezug auf die Zuschauerschaft gibt es statt der fundamentalen Kritik ganz realistische Utopien. Man hofft auf neue Besucher, jene 'Intuitiven', die gerne gut erzählte Geschichten hören und dafür gewöhnlich ins Kino gehen. Obwohl man, um die Kinogänger zu begeistern, vor allem auf Autoren setzt, die ihre Geschichten erzählen ('die Verbindung des Theaters zur Welt ist der Autor'), so scheint die heimliche Leitlinie des neuen Realismus doch das Kino zu sein. Es wird schließlich zugestanden, daß Autoren um der realistischen Inspiration Willen nicht nur im Kosovo vor Ort recherchieren, sondern eben auch ins Kino gehen, weil dieses Medium offenbar den Zugang zur Wirklichkeit irgendwie offen hält.
Das Kino taucht wie eine magische Größe in den Diskursen um den neuen Realismus des Theaters auf, ohne daß man sagen könnte, welches Kino hier gemeint ist. Das Hollywoodkino kann es eigentlich nicht sein, obwohl es doch ein Meister im Erzählen von Geschichten ist. Den politischen Vorstellungen der Schaubühne kommen vielleicht das neue französische oder britische Kino am nächsten oder auch die Produktionen der dänischen Regisseure von Dogma '95, aber sicher kann man sich dabei nicht sein. Vielleicht treibt die 'neuen Herren' der Schaubühne auch die Geschichte ihres eigenen Hauses um. Nicht die Geschichte der politischen Schaubühne, die sich in den 70er Jahren am Halleschen Ufer etablierte und die sich als 'Haus' (als festes Theater) ins Stadtgedächtnis einschrieb, sondern vielmehr die ältere Geschichte des Hauses am Lehniner Platz, die als Architektur eines Lichtspielhauses begann: als 'Universum'.
Daß es ein unbewußtes Verhältnis zum Kino und insbesondere zu jenem Universum geben könnte, erfährt man auch von der Website der neuen Schaubühne (www.schaubuehne.de). Mit Stolz präsentiert sich das neue Ensemble dort mit Fotos und Modellen der Architektur des Hauses. Der Schwung der Frontseite des Gebäudes hat auch im Jahr 2000 wenig von seinem Charme der 20er Jahre verloren. Jetzt wirbt er für das Programm der neuen Schaubühne, auch gut! Dennoch ist es auffällig, daß in der Selbstdarstellung der neuen Schaubühne im Internet der Architekt Erich Mendelsohn im historischen Abriß zwar genannt wird, aber nicht der Zweck seines Baus, was aber gerade der architektonischen Konzeption angemessen wäre. Schon 1981 im Jahr des Einzugs der Schaubühne, hatte Julius Posener in einem Brief an die (alte) Schaubühne angemahnt, die schwierige Geschichte der Wiederherstellung des Gebäudes nicht im Dunkeln zu lassen. Gleichwohl schreibt sich bis heute die Geschichte der Kinoarchitektur in jedes stolze Foto der Schaubühne ein und bleibt selbst in seiner Vermittlung im Internet als Spur sichtbar.
Vor allem Dank der historischen Schrifttype der Leuchtschrift 'Schaubühne' über dem Eingang hat sich seit der Rekonstruktion und neuen Nutzung des Baus (seit 1981) die Erinnerung an das Kino Universum bewahrt. Die Zeichenfolge ist heute entstellt, weist aber immer noch darauf hin, daß sich die Architektur in Type und Buchstaben des Namenszugs Universum spiegelt. Das U gibt als erste Letter zunächst die Grundform des Gebäudes wieder und symbolisiert gleichzeitig das in sich gewendete Ganze, das Universum (etym. unus = ein + versus = gewendet). Der auffallendste Buchstabe ist aber das zentrale E, dessen mittlerer Querbalken in dieser Schrifttype nicht zentral, sondern ein Stück zu hoch gerutscht erscheint. Die Verschiebung des Balkens im zentralen Buchstaben korrespondiert mit der Achsenverschiebung im Grundriß des Gebäudes, die als verschobene Symmetrieachse zusätzlich im herausragenden Turm des Komplexes markiert ist.
In der Schaubühne sind U und E des Schriftzug Universum erhalten geblieben (eine Buchstabenkombination, die im kulturellen Feld gewöhnlich als Gegensatz konnotiert wird). Allerdings findet sich das U der Schaubühne fast in der Mitte des neuen Schriftzugs wieder, während das E markant am Ende von Schaubühne aufragt. Diese Verkehrung von Zentrums- und Randposition der Lettern spiegelt auf eigene Weise das problematische Verhältnis der beiden Künste nicht nur in bezug auf den speziellen Mendelssohnbau. Darüber, daß man sich seiner Zeit bei der Rekonstruktion und Umnutzung des Baus für eine zehnbuchstabige Schreibweise der 'Schaubühne' mit Ü in den historischen Lettern entschieden hat, die aber dem Schriftzug ihren zentralen Buchstaben raubt, können möglicherweise noch die Architekten dieser Rekonstruktion, die Theaterleute als neue Hausherren oder die damaligen Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses Rechenschaft abgeben (die immerhin bei der allerletzten Baukostensteigerung nur für diesen Schriftzug nocheinmal 51000 DM bereitstellten). Nachträglich erscheint diese Entscheidung zumindest als wenig reflektierter Kompromiß. Die zehnbuchstabige Schreibweise der Schaubühne betont jedenfalls die Gliederung des Wortes in zwei gleiche Teile, die die konventionelle Trennung des Guckkasten-Prinzips wiedergibt, welches ausdrücklich zwischen Zuschauerraum und Bühne unterscheidet, Schau / Bühne. Im Namen spiegelt sich demnach noch deutlich die Zerlegung, dem zumindest die bauliche Konzeption dieses Theaters mit seiner Ausstattung eines flexiblen Bühnenaufbaus dreier Bühnen und des gesamten 'mobilen' Zuschauerraums entgegen steht.
Erst im Zeitalter des Internet wird man plötzlich – zumindest in der url – auf eine andere Schreibweise verpflichtet: SCHAUBUEHNE. Diese Schreibweise gibt dem neuen Theater zumindest virtuell in einem B das verlorene zentrale Element des damaligen Namens des Kinos zurück. In der spezifischen Type am Bau erscheint im B wie im E die Verschiebung der zentralen Achse im Buchstaben. Gleichzeitig erscheint das U im B im Sinne einer Verdoppelung des Bogens und erzählt von der Geschichte des Gebäudes. Das B der Buehne (und der Baracke) überformt heute das U des Kinos und erläutert gleichzeitig das spannende Experiment der neuen Schaubuehne, die mit zwei Universen hantiert und die in den zwei unterschiedlichen Bögen des B zum Ausdruck kommen: ihrer kapitalistischen Produktivität und deren Kritik in den Manifesten.
Was aber die neue Schreibweise der SCHAUBUEHNE zusätzlich in ihrem Zentrum birgt, ist der Titel des einzigen historischen Stoffs der ersten Spielzeit, die Inszenierung von Ubu nach Alfred Jarry. Ubu stellt als Kurztitel (eigentlich: König Ubu, frz. Roi Ubu, von 1896) die Geschichte der Verdoppelung der Bögen, die Überformung des U durch das B noch einmal aus. Mit Ubu gedenkt die neue Schaubuehne einem historischen Punkt des fin de siècle des 19. Jhs., von dem ausgehend sich die Auffassungen von 'Realismus' im 20. Jahrhundert grundlegend verändern werden: mit der Psychoanalyse, d.h. mit der Entdeckung des Unbewußten und mit der Erfindung des Kinos.
An dieser Stelle kann man innehalten und sich nocheinmal fragen, was es heißt, daß sich die neue Schaubuehne so ausdrücklich mit dem Schwung der Mendelsohn'schen Kinoarchitektur identifiziert. Wären die neuen Theatermacher nicht doch heimlich (auch im weiteren Sinne von Heim und Haus) vom Kino beseelt, könnte man ihnen den Vorwurf machen, daß sie uns ein X für ein U vormachen wollen. Darin, daß sie die Kinoarchitektur ihres Hauses ausdrücklich nicht als Bezugspunkt zum Kino vorstellen und benennen, vollziehen sie eine Ausstreichung: X. Eine Ausstreichung ist aber etwas anderes als eine Täuschung, und in diesem Sinne steht der sprichwörtliche Volksmund (ein X für ein U) der Dekonstruktion näher, als man gemeinhin denkt. Was die neue Schaubuehne uns vormacht, ist die Ersetzung des U (des Universum, des Einen und Ganzen) durch seine inszenierte Verdoppelung im B und im UBU. Wer neben dem einen Universum ein weiteres notiert, durchkreuzt die Basis der Auffassung eines solchen. In diesem Sinne zeigen sich die Theatermenschen der Schaubuehne nicht nur dem Kino verbunden, sondern einem Realismus des Buchstaben, den sie selbst nicht sprechen wollen und der sich dennoch vor allem schreibt und einschreibt in ihre(n) Aufführungen und in ihre(n) Manifeste(n) und Selbstdarstellungen.
So oder ähnlich könnte man sich den Weg der Gedanken eines Kinogängers auf dem Weg in jenes Theater denken, das früher einmal ein Kino gewesen ist und das heute versucht, Kinogänger ins Theater zu locken, um ihnen etwas von der Welt zu erzählen. Daß die Welt der Kinogänger nebenbei bemerkt von jeher mit dem Alphabet verbunden ist, darauf verweisen die Namen der Kinos. In kleineren Städten der Bundesrepublik, in denen es manchmal nur drei Kinos gibt, heißen diese fast immer Astoria, Babylon, Capitol oder Apollo, Broadway, Camera. Und es sind jedenfalls immer die Schriftzüge der Kinos, zusammen mit der Architektur der Kinobauten, die ihnen ein Gesicht geben. Im Gegensatz zu den festen Theatereinrichtungen wechseln in den Kinos die Regisseure und Ensembles gleich mehrmals am Tag. Das Kino ist somit ein reines Gastspielgeschäft. Man geht zwar ins Delphi wegen einer bestimmten Atmosphäre (und läßt sich die Karten auch zwei Mark mehr kosten), oder aber man geht ins Babylon oder ins Cinema Paris wegen der OmU-Filme. Aber nur selten, um ein Ensemble oder einen Regisseur zu sehen, den es 'in seinem Haus', anders als im Theater, nie zu sehen gibt.
Aus dieser Konstellation ergibt es sich, daß der Einstieg in die Lektüre beim Gang ins Kino A, B oder C anders verläuft. Beim Kinobesuch muß man schon frühzeitig anfangen zu lesen, die Plakate in Schrift und Bild, die Filmstandbilder und möglicherweise auch ein paar Filmkritiken, um die Orientierung nicht zu verlieren. Sonst landet man am Ende im falschen Film. Im Theater ist die Gefahr, daß man in ein falsches Stück gerät, eher klein, alles ist dort viel geordneter und übersichtlicher. Man weiß von vornherein, ob man es mit Schlingensief, mit Marthaler, mit Ostermeier oder mit Zadek zu tun hat. Selbst größte Irritationen, und es gab schon viele in der Geschichte des Theaters, veranlassen die Zuschauer nicht zu glauben, sie seien im falschen Stück. Entweder ist das Stück schlecht oder die Inszenierung des Regisseurs. Die Identitätslogik des Theaters ist in dieser Hinsicht beeindruckend.
Geht man also zur Schau- oder Volksbühne, so muß man nicht lesen, aber man kann, wenn man will. Dazu erwirbt man am besten eins der Programmhefte, die neben Paratexten und Fotografien gelegentlich auch ganze Stücke als Text enthalten. Neben dieser grundsätzlich anderen paratextuellen Struktur eines Theaterbesuchs (das Lesen als Option), lassen sich am Programmheft bereits sehr unterschiedliche Ausrichtungen und Theaterauffassungen der unterschiedlichen Häuser festmachen. Bei der alten Schaubühne verbeugt man sich z.B. vor dem Text. Das merkt man mit oder ohne Textheft. Hat man eins, dann kann man bei einer kompletten Textausgabe im Theater sitzen und mitlesen. Daß man sich dabei gelegentlich wie ein Schüler vorkommt, korrespondiert mit der klassischen Auffassung vom Theater als moralischer Anstalt, in der sich Belehren und Erbauen verbinden.
Bei der neuen Schaubuehne verhält es sich anders. Dort verbeugt man sich vor den Autoren, vor Mark Ravenhill, Sarah Kane und Roland Schimmelpfennig. Der Schriftteil und die Programmhefte dieser Bühne sind insgesamt eher schmal. Man setzt nicht auf das Spiel der Signifikanten, das jede Schrift mehr oder weniger eröffnet. Man verehrt den Autor im gesprochenen Wort, bei dem man die Signifikate fokussiert, die Bedeutung seiner erzählten Geschichte jenseits des Geschriebenen wird als Realismus erkannt. In einem gewissen Sinne eifert diese Haltung dem Kino nach – und hier muß man hinzufügen dem Ton- bzw. Sprechfilm – auch wenn sie es gerade darin verkennt. Hier meldet sich nocheinmal die Geschichte des Universums zurück, die man fast tragisch nennen kann. Dieses Stummfilmkino weist unter der 'Bühne' einen eigenen Orchesterraum auf. Es ist also gewissermaßen als Lichtspielhaus und Konzertsaal konzipiert, dessen Akustik von den zeitgenössischen Feuilletonisten ausdrücklich hervorgehoben wird. Die Tage der Stummfilmkinos waren 1928 bereits gezählt, als das Universum eröffnete, aber der Sprechfilm seinen Siegeszug antrat. Zur Eröffnung des Universum wurde ein Zirkusfilm gezeigt, LOOPING THE LOOP (D 1928). Ist es ein Zufall, daß dieser Film von Arthur Robison eine Reise nach England unternimmt und zeigt, in jenes Land also, dessen heutige junge Autoren die neue Schaubühne so verehrt? Ein weiterer Höhepunkt des Films ist nach Ernst Blass der stumme Monolog eines Clowns mit seinem Ebenbild. In dieser tragikomischen Figur wird das historisch-ökonomische Scheitern des Universums, das dann 1931 konstatiert wurde, bereits während der Eröffnung des Kinos vorweggenommen.
Worin die neue Schaubühne mit dem Kino gleichziehen möchte, ist seine Fähigkeit die zahlreichen Zuschauer-Ichs mit seinen Geschichten zu verschlingen. Aber im Kino herrscht ein anderes Dunkel, sodaß immer ausreichend Spielraum bleibt für anderes, z.B. eine Dose Bier zu öffnen. Das Zischen einer solchen Dose läßt sich problemlos in die meisten Filme integrieren oder besser gesagt als erfahrener Kinogänger findet man immer einen passenden Moment zum Zischen, der mal mehr, mal weniger gut sitzt. Glaubt man der Kinogeschichte, so lassen sich in dieses Dunkel noch ganz andere Vergnügungen integrieren. Im Texttheater der alten Schaubühne versteht es sich dagegen von selbst, daß man aus Respekt vor dem Lesetext die Getränke in der Pause zu sich nimmt. In der neuen Schaubühne gerät man in eine eher unklare Situation. Man kann sich von der Geschichte erfassen lassen, aber man hat keinen Raum für ein Zischen, für ein lässiges Bier zur selben Zeit, selbst dann nicht, wenn die Protagonisten gleichfalls mit ihren Dosen auf der Bühne stehen. Im Theater ist es in dieser Hinsicht nie dunkel genug.
Was kann man in diesem Zwielicht anstellen, wenn man weder zum Lesen noch zum Aufsaugen angehalten wird? Wohin mit den Affekten, die man im Kino ausagieren kann und zu denen man hier einerseits aufgefordert wird, für die aber keine Praxis, kein zusätzlicher Raum zur Verfügung stehen? Will man es nicht mit Oropax versuchen, um sich einem reinen visuellen Exzess der Körper der Schauspieler zu widmen, und die Intention des Dargebotenen gänzlich zu konterkarieren, so hilft vielleicht ein Opernglas, noch besser eins mit verschiedenen Brennweiten. Dann kann man sich zu schaffen machen an diesen Stücken und sich hier und da ein Stückchen herausschneiden, was sich anbietet, z.B. eine heraushängende Zunge, eine salzige Schweißperle, ein falscher Busen. Man kann sich damit sogar in Kameraschwenks versuchen und nimmt man nicht Hollywood sondern Dogma '95 als Maßstab, sogar mit ästhetischem Erfolg.
Ist man völlig unbewaffnet, so bleibt einem nur das stille Gebet. Und manchmal wird es auch erhört. Nicht von jenem Deus ex machina, den man gewöhnlich vom Theater kennt; nein, eher noch von einem Deus spectator. So geschehen in einer der letzten Aufführungen vor der Sommerpause, in Shoppen und Ficken von Mark Ravenhill, einer Produktion, die von der Baracke mit den Theatermachern an die Schaubuehne wanderte. Zwölfte Szene, schon ziemlich am Ende des Spiels, an einer der wenigen Stellen, an denen die Dialoge dieses Vorzeigestücks des jungen britischen Theaters für ein, zwei Augenblicke in eine philosophische Reflexion umschlagen und für uns, die Zuschauer, noch einmal verfremdende Effekte einstreuen.
Bruno Cathomas – den man als Kinogänger in der Rolle des Viehjud Levi aus Didi Danquarts gleichnamigem Film kennt – spielt in diesem Stück Robbie und macht Gary seinem jüngeren Konkurrenten in einer Liebesangelegenheit eine Art Therapieangebot gegen Bares. Zur Unterstützung seines 'seriösen' Angebots gerät er in einen Ansatz philosophischen Deklamierens vor dem Publikum:
"Ich glaube, wir brauchen alle Geschichten, wir erfinden Geschichten, damit wir zurecht kommen. Und ich glaube, vor langer Zeit gab es große Geschichten. Geschichten, die so groß waren, daß man sein ganzes Leben in ihnen verbringen konnte. Aber sie sind alle gestorben, oder die Welt ist erwachsen geworden oder vergreist …"
und mit diesen Worten, die zunächst an Gary, aber darüberhinaus ganz allgemein ans Publikum gerichtet sind, trifft er plötzlich mit der Geste seiner Hand und seinem Blick auf einen Zuschauer, der ganz unerwartet durch dieses zufällige Zusammentreffen und obwohl er in der ersten Zuschauerreihe sitzen bleibt, zu Cathomas und Ravenhill auf die Bühne gerückt wird und sich dort in einen Deus spectator verwandelt: Ein ergrauter Mann, eher mittleren als gehobenen Alters mit Brille und schmunzelndem Gesicht.
Cathomas ist jetzt Cathomas, seiner Rolle doppelt entstiegen entschuldigt er sich bei dem Zuschauergott für das Adjektiv 'vergreist'. Doch nur an der Oberfläche wegen seiner unbeabsichtigten Unhöflichkleit. Der eigentliche Grund der Entschuldigung ist, ihn wieder loszuwerden. Dieser Deus spectator ist sowenig vorgesehen, wie der Polizist in der Sicht des Vagabunden in Chaplins THE KID (USA 1921). Um diesen Deus spectator, den er (Cathomas) irrtümlich anrief, wieder loszuwerden und um die Grenze der Bühne und seiner Rolle neu zu ziehen, um als Robbie wieder Ravenhill zu sprechen, fährt er fort: "also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten". Aber das ist hörbar nicht mehr Ravenhill. Der Text macht sich an dieser Stelle sichtbar selbständig, desertiert von seinem Autor, läuft über zu dem Grauhaarigen, ohne daß dieser seinen Mund zu öffnen braucht, und verstreut sich schließlich im Saal. Cathomas bricht in Lachen aus, läuft zum anderen Ende der Bühne, sucht den abwesenden Ravenhill und beginnt dann doch, dem Publikum seine Situation offenzulegen. Eine liebenswertere Semiotik des Filmriß, die die Zuschauer aus ihrem Dunkel reißt, kann man sich selbst im Kino kaum denken.
Wie merkwürdig ist es doch, als lesender Kinogänger ein Theater zu besuchen. Hatte man schon in der alten Schaubühne seine Mühe mit der moralischen Anstalt, so konnte man sich dort doch immer auf den Text als Text verlassen, mit all den sich anbietenden (heimlichen) Exzessen. Was aber ist durch die Neuerungen der jungen Theatermacher gewonnen, die sich ein Kinopublikum erobern wollen? Bisher ist es jedenfalls noch einem Zufall zu danken, daß ihr einer der schönsten Filmrisse der Kinogeschichte gelang. Man wird also in Zukunft verfolgen können, wie sich das schwierige Verhältnis zwischen Kino und Theater in diesem Haus mit seiner so aufregenden Geschichte weiter entwickelt. Gespannt auf ein 'Theater morgen' verläßt man schließlich das Gebäude – verabschiedet sich sorgsam vom U und vom E, die einem noch eine Weile nachleuchten, in die Berliner Nacht.
Schaubühne am Lehniner Platz, Der Mendelssohn-Bau am Lehniner Platz. Erich Mendelssohn und Berlin, Berlin 1981.
Mark Ravenhill (1998) Shoppen und Ficken. In: Theater heute, 3/98, S. 55 – 68.