George Orwell hat, als er das Jahr 1984 zur Utopie des Totalitären stilisierte, vermutlich nicht gedacht, dass die Figur des Big Brother im beginnenden dritten Jahrtausend eine derartig positive Konjunktur erleben würde. Dass Tausende demokratisch gesinnter Staatsbürger sich darum reissen würden, unter seinem Namen zu erscheinen, ja ihr Selbstwertgefühl davon abhängig machen würden, ob und inwiefern sie mit ihm in Zusammenhang gebracht werden. Was Orwell in keinem Fall vermutet hat: dass die Fratze des besinnungslose Akklamation Erheischenden für viele zur Bedingung der Möglichkeit von erfüllter Existenz werden könnte.Big Brother scheint mit unserer Zeit besonders kompatibel zu sein. Freilich nicht, weil die westlichen Gesellschaften zu jenem romanhaften Zerrbild dirigistischer Lenkung und totaler Kontrolle entartet wären, sondern eher, weil sein Name für Gesichtlichkeit und Sichtbarmachung schlechthin steht, die nicht mit dem Totalitären identisch ist, vielmehr das freiwillig gesetzte Endziel unserer visuellen Medienkultur zu sein scheint. Sein Gesicht hinzuhalten als Ausweis anerkannter Existenz - was einst als Element staatlicher Registratur normiert wurde, funktioniert heute als selbstgewählter, lustbesetzter Existenzbeweis.
Dabei ist die Bezeichnung "Big Brother" schon in Orwells Roman zwieschlächtig, stellt sie doch eine mehr als ironische Anspielung auf das, was in kommunistischen Gesellschaften als Brüderlichkeit ausgegeben wurde und uneingestandene hierarchische Verhältnisse implizierte, dar. Schon das Attribut "Big" verrät, dass hier anderes gemeint ist als nur brüderliche Solidarität. Dass der "Große Bruder" darüber befindet, welche gleicher als andere sind, klingt in der Verbindung des Gleichrangigen mit dem Rangälteren durchaus an.
In 1984 wird denn auch der Unterschied zwischen dem "Großen Bruder" und der "Brüderschaft" - einer Untergrundarmee im Dienste des Gegners des Großen Bruders, der in der täglichen "Zwei-Minuten-Hass- Sendung" als Hassobjekt schlechthin verunglimpt wird - ausgespielt. Der Große Bruder ist eine Unperson, insofern er nur unverständliche Worte von sich gibt, ein Neutralgesicht ausstellt, das von Slogans wie: Krieg ist Frieden / Freiheit ist Sklaverei / Unwissenheit ist Stärke abgelöst wird. Schlimmer freilich als diese Art Demagogie ist für den Protagonisten Winston die Observation durch den Überwachungsapparat, ist die Tatsache, dass selbst Gedanken überwacht werden und man sogenannter Gedankenverbrechen überführt werden kann. Winston wird denn auch gegen Ende verhaftet, weil er "Nieder mit dem Großen Bruder!" gedacht und sich zur Revolte gegen ihn entschlossen hat.
"Nieder mit Big Brother!": Alle Medienkritiker, die vor der gleichnamigen TV-Show ob ihrer Analogie zum literarischen Vorbild zu warnen versuchten, wurden als rückwärtsgewandte, die Bedürfnisse der Masse nicht respektierende Mahner allein schon von der Zuschauerquote widerlegt. Besserwisser, Propheten, Autoritätsfiguren: Mir scheint der Verlust der Überzeugungskraft der Väter, die Ablehnung jeglicher Hierarchie für diesen Boom des Großen Bruders, der unter dem Decknamen des Ranggleichen ja durchaus Autoritätsfunktion übernimmt, zuständig zu sein. Der Große Bruder scheint genau das zu garantieren, was sich der allzeit partizipierende Jedermann der Mediengesellschaft wünscht: Telepräsenz und Ausstrahlungskraft.
Sollte indes das Zurücktreten der urteilenden väterlichen Instanz, die über Gut und Böse befand und diese Einteilung an die folgenden Generationen weiterzugeben versuchte, dem wachen Zeitgenossen die Fähigkeit geraubt haben, zwischen Orwells wahren und falschen Brüdern zu unterscheiden? Glaubt der Fernsehzuschauer allein an die zur Schau gestellten Solidaritätsakte als den wirklichen und wahren, weil Millionen sie sehen? Folgt ein Schuss selbstgewählter Blindheit aus dem Diktat der Sichtbarkeit? Dass die Überwachung gewünscht wird, weil sie als Auszeichnung und Erfolgschance gehandelt wird, zeigt uns der Erfolg der Reality Show gleichen Namens.
Die spezifische Mischung aus Beistand und Verhör, die unter diesem Namen ein neues Spektakel-Genre begründet hat, artikuliert sich denn auch in den Regeln, die den verschiedenen Container-Bewohnern an die Hand gegeben wurden, in der "Big-Brother-Philosophie". Zu den am meisten an Orwells Phantasma erinnernden Regeln gehört jene Verpflichtung zum Monolog im Sprechzimmer, die eine Mischung aus psychoanalytischer Situation und erzwungenem Geständnis darstellt. Es ist täglich ein zweiminütiger Bericht abzugeben, in dem zwar nur gesagt werden soll, was einem gerade durch den Kopf geht, andererseits kann man von Big Brother aber auch willkürlich in den Raum zitiert werden. Zusätzlich zu der visuellen Überwachung durch 28 Kameras werden mithin gewisse Geständnisrituale auferlegt, nicht nur wegen der angebrachten 47 Mikrofone, sondern auch aufgrund des Zwangs zur Spiegelung in Rede und Gegenrede. Das solchermaßen visuell und auditiv relativ transparent gemachte Mikrosystem wird in seiner Künstlichkeit noch verstärkt durch seine Abschottung von der Außenwelt und das Verbot für nachträglich ins Haus entsandte Bewohner, über die Rezeption der Sendung zu sprechen, da dies die Situation im Hause erschweren würde, wie gesagt wird. Neben der solchermaßen nach außen gezogenen Grenze gibt es aber auch eine nach innen: den Zwang zur Anonymität bei der Bewertung der Anderen, worüber sich die Bewohner der ersten Staffel allerdings munter hinwegsetzten. Big-Brother-Philosophie meint also: Eine Auflage zum Sprechen bei gleichzeitig aufgezwungener Zensur; zwar keine Gedankenüberwachung, wohl aber Gedankengängelung. Offenheit bis zu dem Punkt, da sie gefährlich werden könnte: eine Art Infrarot-Offenheit.
Die Medienverantwortlichen sprechen im Zusammenhang mit ihrem "multimedialen Spektakel" von "Schicksalsspiel" im Fernsehen, welches die Intimsphäre "gesellschaftsfähig" mache. Schicksalsspiel, hier nicht verstanden als Bewältigung von äußeren Gewalten, sondern als bestmögliche Erfüllung der von der Sendeanstalt verfaßten Regeln innerhalb dieses künstlichen Biotops, wobei die Intimsphäre nicht wirklich intim und für Andere zugänglich sein soll. Vielmehr ist derjenige, der seine Alltagspraxis am beobachtungsgerechtesten handhabt und in ihr nichts tut, was sich der Beobachtbarkeit entzieht, der beste little Brother. Dazu gehört die Fähigkeit, die Zuschauer für sich einzunehmen, jenes Gefühl telegener Zugehörigkeit in ihnen zu wecken, das sie zu Brüdern werden lässt.
Insofern erscheint mir die senderinterne Begründung, dass der Erfolg der Sendung auf ihrer Unvorhersehbarkeit beruhe, nicht stichhaltig zu sein. Liegt das Unvorhersehbare doch im Bereich des Bekannten und Wiedererkennbaren und allenfalls darin, dass Verona Feldbusch auch ihre Zähne nicht anders als andere putzt - der Neuigkeitswert bleibt unterhalb dessen, was eine Wohngemeinschaft an Überraschungseffekten zu bieten hat. Eher geht es um Minimaldifferenzen im Bekannten. Spannung wird erzeugt durch ungleiche Verteilung, durch die Tatsache, dass gewisse Personen für etwas Beachtung erhalten, das andere selbst täglich ungesehen durchexerzieren - und in der Tat in keinster Weise beachtenswert ist. Da die Sendung von der Paradoxie lebt, etwas auszustellen, das jeder für nicht ausstellenswert hält, kann sich die Attraktivität der Partizipation nur aus der Suggestion ergeben, sich unter Seinesgleichen, auf einer medialen Party, zu befinden, einschließlich des Versprechens, beim nächsten Mal selbst im Blickpunkt zu sein. Eigentlich möchte jeder selbst Zlatko werden und seine Brusthaare vor laufender Kamera ausreissen. Aber wenn das nicht geht, ist die Teilnahme am Zuschauen, Darüberreden und Mitvotieren auch schon nicht schlecht. Gerade das Versprechen auf Nichtüberbietung der Erwartung, die maximale Zurschaustellung des ungefährlich Normalen und Unspektakulären ermöglicht dieses hohe Maß an brüderlicher Partizipation.
Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass paranoische Wahrnehmungsformen, die dazu führen, dass der Andere in der Realität perhorresziert wird als Bedrohung, beispielsweise als potentieller Virenträger, und ihm daher mit allen Mitteln der Zutritt ins Haus verwehrt wird, häufig einhergeht mit der totalen Ausstellung der eigenen Person, bis in die kleinsten sexuellen Obsessionen hinein. Nicht nur gibt es das Beispiel gewisser Personen, die ihre Intimsphäre per Kamera ins Internet übertragen, während sie ansonsten den Umgang mit realen Personen peinlichst vermeiden - im Licht der Öffentlichkeit gestanden zu haben, und sei es noch so kurz, scheint für die Legitimation dieser Existenzen entscheidend zu sein. Der Ausstellungswahn der eigenen Person wäre mithin ein Indikator für die Nichtbeachtung, ja Verwerfung des Anderen - und damit für das Ende von Gesellschaftlichkeit. Die Verführung des Big Brother liegt so gesehen auch darin, uns an solidarisches Verhalten glauben zu lassen, an gesellschaftliche Rücksichten, wo es nur um ein maximales Einrücken des Einzelnen in die Sichtbarkeit geht. In ihrer Ausstellung des Allerbanalsten, des kleinsten gemeinsamen Nenners von gesellschaftlichem Zusammenleben, kamoufliert die Sendung auch die Tatsache, dass es in der Gesellschaft nach wie vor hierarchische Anerkennungsverhältnisse gibt.
So liefert sich die Gesellschaft des neuen Jahrtausends das Spektakel der scheinbaren Ausstellung des Intimen und der vorgeblichen Rücksichtnahme auf Seinesgleichen - gezeigt wird letztendlich nichts, wohl aber wird um Anteilnahme geworben an dieser simulierten Normalität. Selbstverständlich geht es nicht um die Spannung wiedergegebener Wirklichkeit - das Besondere dieser Art Sendungen scheint eher darin zu liegen, dass sie einen bestimmten Menschentyp produzieren, ja dass die Bewerber zum Zweck des finanziellen und des Anerkennungsgewinns sich selbst maximale Medientauglichkeit verordnen. Ausgeblendet müssen mithin alle Problembereiche werden: Gewinnen wird der kommunikationsfähigste, der jede Zumutung von vornherein für coolness-kompatibel hält. Mit Michel Foucault ließe sich hier ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Normalisierungsgesellschaft erkennen, zu der, wie Baudrillard sagt, Selbstausstellung und Eigenwerbung gehört. Ideal ist der allzeit vorzeigbare Mensch, der sich und andere geil findet, ohne sie geil finden zu müssen, der stellvertretend für all die zuschauenden Millionen sein Glück als Ausstellungs- und Werbeobjekt macht. Das Leben dieser Personen wird mit dem Ende der Show definitiv verändert sein - es wird, wie ich vermute, von diesem Zeitpunkt an neu gerechnet und beschrieben werden. Ihre Biographie beginnt noch einmal mit dem Tag X des Big Brother-Gnadenakts. Sogar als Verlierer werden die Teilnehmer glorreiche Helden einer neuen Geburt werden, vater- und mutterlos diesmal, medienvermittelt, Produkte einer Medienpräsenz, der Firma Endemol geschuldet.
Auf ganz andere Weise wird das Bruderthema von dem französischen Regisseur Jacques Doillon thematisiert. In seinem letzten Spielfilm PETITS FRÈRES (FRANKREICH 1998) inszeniert er auf die von ihm bekannte pseudodokumentarische Weise das Leben von Kindern und Jugendlichen in dem Pariser Vorort Pantin, einer Trabantenstadt, in der vornehmlich gewohnt wird und die keine Freizeiteinrichtungen für Jugendliche hat. Der Film beginnt mit einer Quasi-Familienszene, die uns sofort die gesellschaftliche Misere und darin die familiäre Störung vorführt: Ein Mann, erkennbar als Stiefvater, streitet sich mit seiner Stieftochter, die daraufhin wütend mit ihrem Hund das Haus verlässt und davonrennt. Sie sucht einen Freund, der nicht da ist und den man auch später nicht zu Gesicht bekommt. Dafür taucht sie in einer Wohnung mit Arabern und Schwarzen unter, lauter Kindern und Jugendlichen, zu denen keine Eltern gehören, die aber unter sich klare Hierarchieverhältnisse nach dem Orgelpfeifenprinzip errichtet haben. Der jeweils Größere schlägt den Nächstkleineren, der wiederum den Nächstkleineren schlägt. Man gibt sich Hiebe auf den Kopf, haut sich und schreit sich an. Der Größte Bruder gibt den Ton an, übernimmt fraglos Vaterfunktion.
Hier wird gleich eingangs ungeschminkt gezeigt, dass - zumindest in dieser mehr oder weniger post-ödipalen, erneut quasi primitiv gewordenen Ordnung - der große Bruder für Herrschaftswillen und Gewaltbereitschaft steht. Eine gewisse Solidarität existiert nur unter den "kleinen Brüdern" (und vor allem Schwestern), unter jenen, die vorwiegend die Opfer sind. Das Mädchen kümmert sich umgehend um die ihr bis dahin unbekannten jüngeren schwarzen Mädchen, während ihr selbst von den größeren Jungs ihr Hund entführt wird. Diese verkaufen ihn weiter an noch größere Jungs, die ihn für einen geplanten Weiterverkauf dressieren. Das Mädchen ist über diesen Verlust entsetzt, da ihr der Hund näher als alle Personen stand. Ein einziger Junge bietet ihr seine Hilfe an, begibt sich auf die Suche nach den Entführern, verschafft ihr eine Pistole, mit der sie ein Ehepaar in dessen Wohnung überfällt, um an Geld zu kommen und den Hund zurückzukaufen. Letzteres gelingt ihr nicht, sie kommt zu spät - ihr Hund wurde in einem Zweikampf mit einem anderen Hund getötet und von ihrem Freund beigesetzt. Der Film kennt dennoch eine Art Happy End: Das Mädchen feiert zusammen mit diesem Freund in einem geklauten Brautkleid Hochzeit, die Gruppe der Jugendlichen, vor allem natürlich der kleinen Brüder und Schwestern, wird zuletzt als eine gezeigt, die zumindest in diesem kurzen Moment solidarisch ist, eine Art Ersatzfamilie abgibt und ein Überleben sichert in einer Welt, in der die Erwachsenen nicht mehr anrufbar sind. Sie sind entweder gar nicht mehr da oder vergewaltigen Mädchen, wie an der Figur des Stiefvaters nach und nach ruchbar wird: Die Schwester des Mädchens, aber auch eine Freundin wurden offensichtlich von ihm mißbraucht. Die kleinen Schwestern können mithin nicht zu starken Verbündeten werden, da sie bereits geschändet, kaputtgemacht sind. Das Mädchen zeigt den Stiefvater am Ende bei der Polizei an und wird von ihrer eigenen Mutter deswegen gerügt.
Der Film verdeutlicht mithin die Verwahrlosung von Jugendlichen in einer verwahrlosten Welt, zu der die Abwesenheit liebender Eltern ebenso wie das heruntergekommene Wohnsilo einer Trabantenstadt gehören. Die Kinder sichern ihr Überleben durch zahlreiche Kleindelikte, stehlen Fahrräder, um sie zu Geld zu machen, klauen auch mal einen ganzen Gemüsewagen. Ihr Widerstand gegen die gesetzliche Ordnung ergibt sich aus einer Mischung von Not, Gewohnheit und Spaß. Gegenüber den Vertretern des Gesetzes bilden sie tatsächlich Bruderschaftsverhältnisse aus: Wenn die Polizei auftaucht und zu intervenieren versucht, hält die Gang zusammen, zerschlägt das Auto der Bullen bzw. befreit denjenigen, der soeben verhaftet worden ist, auch wenn dieser dann sofort wieder das Kommando des großen Bruders übernimmt und die kleineren schikaniert.
Die kleinen Brüder haben sich folglich gegen zwei Außen zu behaupten: Gegen die Rand- und Spitzenpositionen im eigenen Clan, die sich je nach Bedarf gegen ihr schwächeres Innen kehren, und gegen das Außen der Außenwelt, gegen welches der Clan in jedem Fall zusammenhalten muss. Stammes- und Staatsloyalitäten werden hier gegeneinander ausgespielt, demokatisch egalitäre und auf Kommunikation basierende Strukturen gibt es in dieser Welt so gut wie nicht. Bruderschaft erweist sich in dieser elternlos gewordenen Wirklichkeit als instabile Größe, die sich im Zwang der Stellvertretung für die fehlende Autorität umgehend selbst hierarchisiert und nur gegenüber der Autorität des Staates vorübergehend in eine Gemeinschaft der Gleichen mutiert. Keine Eltern - keine Brüder: An die Stelle des ödipalen Zwangmodells tritt angesichts des harten Überlebenskampfes dieser zur Nichtpartizipation am gesellschaftlichen Leben Verurteilten kein post-ödipal befriedetes Alternativmodell. Das einzige, was diese Kinder für ihre Zukunft imaginieren können, ist eine kriminelle Existenzform, eine relative Bruderschaft im Gangstermilieu.
Jacques Doillon zeigt uns in seinem Spielfilm PETITS FRÈRES viel deutlicher als die Reality Show Big Brother, was es mit den Brüdern auf sich hat, wenn in der Realität Vater und Mutter verschwunden und die Brüder als zudem Randständige einer Gesellschaft auf sich allein angewiesen sind. Während uns in der realen Versuchsanordnung von Big Brother ein auf scheinbare Solidarität gegründetes friedliches Leben in einer künstlich eingerichteten Bruderschaft vorgeführt wird, zeigt Doillon in der Fiktion die Härte realer Bruderschaft.
Eine Reality Show, die uns eine heile Welt der Brüderlichkeit in real künstlichem Ambiente offeriert, ein Spielfilm, der uns eine fiktive Welt schwer realisierbarer Bruderschaft vorführt - unter dem Zeichen des Big Brother sind die Familienbande derart gelockert und unter die Glashaube gesetzt, dass über die gegenwärtige Epoche des familiären Niedergangs wenig Reales ausgemacht werden kann. Allenfalls ist Big Brother ein heiter vorgetragenes Symptom dafür, dass an die Stelle der einstmals gesuchten Anerkennung durch die väterliche Autorität jene durch die Fernsehbruderschaft getreten ist. Die PETITS FRÈRES dagegen zeigen in dramatischer Weise, dass es in der postfamiliären Welt der Marginalisierten einer Gesellschaft keine dauerhafte Anerkennung gibt, dass das Faustrecht gilt und nur bei Bedrohung von außen der Kampf aller gegen alle zum Stillstand gelangt.
Der Film, der uns am besten über die Frage der symbolischen Ordnung in der heutigen Zeit aufklärt, scheint mir Almodóvars ALLES ÜBER MEINE MUTTER (SPANIEN / FRANKREICH 1999) zu sein: Zwar ist die Geschichte dieses Films dank seiner melodramatischen Verdichtung in höchstem Maße unwahrscheinlich, sind die Rollen der vier Protagonistinnen des Films überzeichnet, sind alle plakativen Elemente unseres zeitgenössischen Gesellschaftszustands in ihm kondensiert. Es gibt Aids, Kindstod und Herztransplantation, lesbische Liebe, Prostitution und Transsexualität, Nonnenschaft und Quasi-Leihmutterschaft usf., und es gibt neben einer einzigen todkranken Tunte nurmehr Frauen als Handelnde. Diese Spitzenwerte unserer performativ ertragreichen Gesellschaft sind zudem auf spektakuläre Weise miteinander verknüpft: Die im Titel genannte Mutter wird zu einer Pieta-Figur, da sie ihren begabten Sohn durch einen Unfall verliert, die lesbische Schauspielerin verzweifelt an ihrer drogensüchtigen Geliebten, die Nonne bekommt Aids, die Transsexuelle ist Prostituierte und wird von der Mutter gerettet usf. Selbst als Frauen stehen diese Protagonistinnen am Rande der Konvention, imitieren Lebensformen, mit denen sie nicht mehr identisch sind: Die Mutter wird zur Mutter eines nicht-leiblichen Kindes, die Nonne hat ein leibliches Verständnis von Nächstenliebe, die ihr Fleisch verkaufende Transsexuelle führt im Theater ihren Kunstkörper vor, die Lesbe ist sowieso Schauspielerin.... Nichts am Leben dieser Frauen ist - von außen wie von innen gesehen - in Ordnung, jede könnte am Gegenstand ihres Begehrens, den sie verliert, verzweifeln. Und Männer, die eine symbolische Ordnung repräsentieren könnten, gibt es weder als Väter noch Brüder, gibt es allenfalls als Kranke und Sterbende.
Aber nicht wegen seiner spektakulären Züge ist der Film sehenswert, sondern eher dank der sukzessiven Leerung all dessen, was herkömmlicherweise im Melodram an Leiden und Mangel miterzählt wird: Eine Mutter, die ihren Sohn verliert, müsste normalerweise am Rande des Selbstmords stehen... und steht sie auch, aber nur kurz. Die hier durchaus anzitierte Zuschauererwartung wird nach und nach widerlegt: In ihrem zunächst erwartungsgemäß hysterischen, mit der Zeit immer gelassener und melancholischer werdenden Umgang mit den Stationen des Scheiterns und Unglücks führen diese unterschiedlichen Frauen ein immer volleres Leben vor. Sie sind nicht zuletzt deshalb so überzeugend und ansteckend, weil sie nicht nur ihre schrägen Rollen mit maximaler schauspielerischer Lebendigkeit füllen, sondern hinter der gespielten Anteilnahme füreinander, die über das Uneingelöste hinweghilft, eine reale Affektivität unter Schwestern sichtbar werden lassen, die auf die Zuschauerin übergreift. Ihre subversive Geste beläuft sich im Grunde auf ein melancholisches Heben und Senken der Schultern, auf ein "es ist zwar alles daneben, aber wir machen das Beste daraus, denn schließlich mögen wir uns".
Die philosophische Überzeugungskraft des Films ergibt sich mithin aus einer gewissen Haltung des Kompromisses, die gleichwohl nicht mit Konformität identisch ist, sondern eher eine Art Überbietung der leeren Konventionen, ihre Übererfüllung durch Herzblut meint. Die Schwestern, die füreinander Mutterfunktionen übernehmen, erweisen sich als klüger als die echten Mütter, weil sie nicht mehr darauf achten, was die Gesellschaft verlangt, sondern darauf, was die Einzelne jetzt gerade zum Weiterleben braucht.
Es ist jene Position masochistischen Humors, die, wie Deleuze anhand der Literatur von Sacher-Masoch zeigt, das Gesetz übererfüllt und eben darin karikiert... Das Leben als Performanz und Spiel - trotz aller Übertreibung und melodramatisch hochgeputschter Momente ist der Realitätsgehalt dieser vermittelten Sicht auf die Dinge selten überzeugender vorgeführt worden, gerade weil das Spiel der Akteurinnen selbst von Humor und Affektion füreinander getragen ist. Eine besondere Art schuldfreier Nächstenliebe und affirmierter Schwesternschaft jenseits der herkömmlichen symbolischen Ordnung wird in ALLES ÜBER MEINE MUTTER vorinszeniert. Schwestern, die hier füreinander Mütter werden, weil weder Väter noch Brüder noch Männer vorhanden sind: In dieser Art mutterrechtlicher Solidarität beharren die Mütter nicht auf dem eigenen Fleisch und Blut, sondern lassen sich das Weiterleben an sich angelegen sein. Hierarchie gibt es hier ebensowenig wie Privilegierung der eigenen Brut: Mütterschaft wird vielmehr in einem apersonalen, kreativen, fast kreatürlichen Sinn vorgeführt. Und das Anrührende und Aufrührerische dieses Films ergibt sich aus der von den Frauen erlernten Affirmation der unbeabsichtigten Lieben wie der unerwarteten Verluste, in Aufmerksamkeit füreinander, in umsichtigen und großherzigen Gesten und doch wilden Lachanfällen, die den Mangel aufgrund des Fehlens des anderen Geschlechts und der fehlenden Beteiligung an der Verantwortung zumindest vorübergehend hinwegfegen. ALLES ÜBER MEINE MUTTER endet mit einem friedlichen Ausblick auf ein Kommen und Gehen der Menschen, das einem neuen ageschlechtlichen Naturzustand gleicht.
Orwell, George (1949) 1984, Gütersloh 1960.