die realität ist tot - es lebe die realität.de
Den Performance- und Installationskünstler Ansgar Vogt interessiert die Grenze zwischen Show und Realität - wie eins ins andere umkippt. Er läßt sich vom grassierenden Reality-Kult zu Arbeiten anregen, die thematisieren, wie man durch ritualisierte Shows von Intimität zur Wirklichkeit kommt und umgekehrt. Für nach dem film beschreibt Ansgar Vogt Motivationen und Ambitionen seines Shower-Project. Es fand ein den Künstler selbst überraschendes Echo bei freiwilligen Teilnehmer/innen und bei den Medien.
SHOW REALITY / REALITY SHOWS - Dezember 2000. Seit über elf Monaten befinden sich die meisten Menschen dieses Planeten im dritten Jahrtausend. Das habe ich bisher jedenfalls gedacht. Aber zum Jahresende hin verwirren mich böse Zungen, die raunen, der wahre, echte Wechsel fände erst in der kommenden Silvesternacht statt. Na, was denn nun?
Man muss sich wohl darauf verständigen, dass das Jahr 2000 zum Jahr des Übergangs avanciert ist. Die wesentlichen Aktionen dauern einfach länger, klare Definitionen bleiben aus. Niemand weiß wirklich, wann der Millenniumswechsel vollendet ist. Ebenso weiß niemand, wie die Wahl im Lande unseres großen Bruders ausgegangen ist. Hochrechnungen und Statistiken, denen unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten unermessliches Vertrauen entgegen brachte, enttarnen sich als illusionäre Behelfe der menschlichen Vorstellungskraft. Sie versagen gegenwärtig als Maßnahme und Mittel für jedwede Bestandsaufnahme. Die Welt wehrt sich gegen Definitionen, berauscht sich statt dessen an ihrer eigenen Instabilität. Die Realität ist mit bewährten Instrumenten nicht mehr erfassbar.
Aber so porös unser vertrautes Koordinatensystem zur Erfassung der realen Welt wird, so perfekt funktioniert die Inszenierung dieser Welt. Immerhin dominierte der Jahrtausendwechsel die Gemüter in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres. Dabei zielte der Hype jedoch nicht auf den rechnerisch festgelegten Wechsel, also den realen Fakt (der sich ja offenbar erst in diesem Jahr vollzieht), sondern nur auf die Show um diesen realen Fakt. Also nicht wie sonst üblich Brot statt Böller, sondern Show statt Reality?
Nicht nur unser Kalenderjahr scheint sich in einem hybriden Übergangszustand zu befinden, sondern auch vieles, was in diesen 365 Tagen geschieht. Seit Ende der 90er Jahre bildete sich eine Strömung heraus, die noch nicht vollständig als solche erfasst wurde. Die Realität hält wieder einmal Einzug in die Kunst. Nicht nur in einem bestimmten Sektor, sondern gleich in allen. Die neue Schaubühne am Lehniner Platz präsentiert sich authentisch. Das TV recycelt ausnahmsweise keine Amifilme, sondern liefert ganz avantgardistisch reality soaps und Big Brother.
Gute Zeiten auch im Internet. Seit einigen Wochen bieten RTL und ZDF authentische Soap-Serien, die "aus dem Leben gegriffen sind". Zeitgenössische Literatur verkauft sich derzeit am erfolgreichsten, wenn die Autoren nicht mehr schreiben, sondern lediglich beschreiben - Stichwort Benjamin von Stuckrath-Barre. Bekanntermaßen hat Dogma 95 Filme aussehen lassen wie die Homevideos meines Vaters aus den 70er Jahren. Alles so, wie es auch wirklich ist. Auch Dokumentarfilme werden heute dem Genre "non-fiction" zugeordnet. Letzteres bedeutet, dass ein ehemals eigenständiges Genre seinen Namen aufgibt und sich von nun an über die Negation eines anderen Begriffs definiert. Hilflosigkeit? Die Realitätssucht also eine bloße Reaktion auf die Show, die Inszenierung? Eine Ablehnung dessen, was man nicht mehr möchte?
Auch im performativen Sektor fokussiert man verstärkt das Thema 'realistischer Alltag'. Das bewies in diesem Jahr die Aktion weiß 104 (104 Waschmaschinen auf dem Berliner Alexanderplatz). Eine weitere zeitgeistige reality show der jüngsten Zeit machte als The Shower Project auf sich aufmerksam. Menschen wie Du und ich waren aufgefordert, an einem Sonntag Nachmittag im Oktober in einer Privatwohnung nacheinander öffentlich zu duschen. Sie sollten dabei fotografiert und videodokumentiert werden. Also die Inszenierung einer Alltagshandlung. Der Ansturm war unerwartet groß. The Shower Project traf sowohl bei den Performern (die Duschenden) als auch bei den Medien einen Nerv. 120 Menschen drängten und drängelten, um endlich in der Duschinstallation ihre speziellen Duschtechniken präsentieren zu dürfen. Eine Badewanne bildete das zentrale Element der Aktion. Sie war auf Brettern installiert. Bretter, die die Welt bedeuten, ihrem Theaterkontext entrückt – und dennoch ein Hinweis auf die Theatralität der Aktion. Darüber hinaus war die Installation beidseitig eingerahmt von Vorhängen, wie im Theater. Die Blicke der Zuschauenden auf die Darsteller wurden gefiltert durch einen transparenten Duschvorhang. Die Polaroids, die geschossen wurden, steckte der Fotograf in die ebenfalls durchsichtigen Taschen, die auf dem Vorhang angebracht waren. Je später man also an der Aktion aktiv teilnahm, desto blickdichter wurde der Vorhang, desto weniger war vom Akteur zu sehen. Es war auch nur denjenigen vergönnt zuzuschauen, die selber schon am Duschprozess aktiv mitgewirkt hatten. Ergänzt wurde die Rauminstallation durch Hafenklänge und Brandungsgeräusche mittels einer CD. Die speziell eingemessenen Polaroids verwiesen in ihrer Ästhetik auf Röntgenbilder und Ultraschalldokumente. Die Duschperformance stand unter der Fragestellung, ob eine Trennung zwischen "Echtsein" einerseits und "Inszenierung" andererseits erkennbar sei. Wieviel Show steckt also im Shower?
Interessanterweise ließen beinahe alle Teilnehmer ihre Hüllen vollständig fallen, selbst für die Kameras – ohne Widerwillen oder Einwände. Die meisten Duschenden verdeutlichten im Anschluss, ihre Wahrnehmung habe sich während ihres Duschens verändert. Zwar war man sich anfangs der Zuschauer bewusst, verlor dann aber offenbar jegliche Reflexion der Existenz dieses Publikums und war irgendwann in einem in sich abgeschlossenen Raum – so das Gros der Stimmen, unabhängig voneinander eingefangen. Konsens herrschte auch über die persönlichen Duschtechniken. Man schenkte der eigenen Methode erstmals Aufmerksamkeit, reflektierte also bewusst über eine Alltagshandlung, die ansonsten möglicherweise automatisch und ohne Nachdenken durchgeführt wird.
Eines zeigte sich allein durch die Resonanz auf diesen Versuchsablauf: Alltag ist in. Wirklichkeit ist angesagt. In einer Gesellschaft, die hoch technologisiert und bis ins kleinste Detail erforscht zu sein scheint, wissen wir einfach immer noch zu wenig über die intimen Handlungen des Durchschnittsbürgers. Die Zeit ist offenbar reif, sich ungeniert zu seiner Neugier zu bekennen. Und ein neuer Begriff präsentierte sich: Die "non-fiction-performance" oder auch die "Dokumentarperformance". Die Medien bedankten sich mit ausführlicher Berichterstattung.
Dass die neue Sucht nach authentischer Realität nicht nur in Einzelprojekten deutlich wird, sondern in einem Rundumschlag geradezu alles infiziert hat, liefert den Beweis für die gesamtgesellschaftliche Dimension des Unterfangens. Die Realität ist in 2000 zurück. Sie hat sich gewandelt und nennt sich neuerdings realität.de. Langsam und schleichend reiste sie an und blieb bisher ganz einfach unbemerkt, weil ihr Höhepunkt noch nicht erreicht ist. Jede Epoche kann erst eingegrenzt werden, wenn ihre charakteristischen Merkmale sich bereits verflüchtigt haben. Da dieser Zustand bisher nicht eingetreten ist, ist diese Epoche noch instabil. Sie ist noch nicht definiert.
Eines aber kann man bereits feststellen: Dem Alltagsleben kommt im gesamten Themenkomplex 'reality versus show' eine Schlüsselfunktion zu. Moderne Begrifflichkeiten wie 'soap vérité', 'non-fiction' etcetera lassen sich subsumieren unter der unverfänglichen Bezeichnung 'inszenierte Wirklichkeit'. Denn die Wirklichkeit von Dogma, Big Brother, Schaubühne usw. ist eine Wirklichkeit, die präsentiert wird. Eine Präsentation erfolgt von einer Person für mindestens eine weitere Person. Demnach kann ich jemandem etwas zeigen, und im Englischen würde man dann das Verb 'to show' verwenden. Zeigen also. Durch dieses Zeigen bekommt das Show-Produkt eine erhöhte, ungewöhnliche Aufmerksamkeit. Schlechte Zeiten für den klassischen Dokumentarfilm, der im Pool der Wirklichkeitsabbilder nur noch eine Nebenrolle spielt. Gute Zeiten für die Medienvertreter, die mit Big Brother etwas Gespieltes auch so zeigen, als ob es wirklich so wäre.
Die Methode ist immer gleich und erschreckend simpel. Ein Geschehen wird in eine Szene transferiert, also aus seinem ursprünglichen, 'natürlichen' Kontext entrückt, inszeniert. Die Realität wird gewissermaßen ein zweites Mal erschaffen und als Fiktion serviert. Die Imagination, die die fiktionalen Medien perfektioniert hatten, fusioniert in diesem Moment mit der Wirklichkeit, ist aber essenziell nicht mehr real, sondern so unecht wie die Plastikblumen in meinem Büro.
Und auch nicht ich selber oder irgendeine andere Person auf diesem Planeten ist echt. Wir leben in einer Welt der permanenten Inszenierung unserer eigenen Persönlichkeit. Wir haben die Möglichkeit, uns immer wieder neu zu erschaffen. All the world's a stage: im Büro, auf der Straße, selbst beim Sex - Stichwort "Wie war ich?" Sex nicht nur um des Sexes willen, sondern um eine Reaktion auf sich selbst zu erhalten.
Jeder einzelne von uns schleppt einen unsichtbaren Spiegel mit sich herum, und das 24 Stunden am Tag 365 Tage im Jahr. Die ultramoderne Kommunikationswissenschaft überführt jeden als Lügner, der behauptet, seine Präsentation im sozialen Umfeld nicht zu kalkulieren. Dieser Spiegel ist überall. Michel Foucault setzt sich mit diesem Begriff in "Andere Räume" auseinander. Er schreibt, der Spiegel sei ein ortloser Ort. Ein Ort, an dem ich bin, wenn ich vor ihm stehe, aber gleichzeitig auch nicht bin. Der Ort, den ich sehe, der doch da ist, ist schließlich eine Utopie. Die Realität, die der Spiegel doch ganz klar und deutlich abbildet, ist deshalb eine virtuelle Realität, somit 'nur' theoretisch denkbar.
Was bedeutet das nun? Begegne ich einer Person auf der Straße, so ist das eigentlich eine reale, echte, wahre, wirkliche Situation. Die Person steht vor mir. Was diese Person aber denkt, weiß ich nicht. Das Denken eines anderen ist umgeben von einem Spiegel, in den ich projizieren kann, der mir simultan das Echte nur trügerisch vermittelt. Ebenso die Bewegungen dieser Person, die kalkuliert sind oder nicht. Niemand wird 'das Echte' dieser Person jemals vollständig erfassen. Auch kein Dokumentarfilm.
Analog wäre der uns allen so vertraute TV-Bildschirm ein moderner Spiegel. Alles, was wir sehen, ist echt und gleichzeitig doch nicht. Auch Big Brother. Auch ein Dokumentarfilm im Dritten, auch die CNN-News. Auch The Shower Project, aber mit einem Unterschied. The Shower Project kann zwar auch nicht das Echte vom Unechten eindeutig trennen. Aber es hat im Bereich 'Darstellende Kunst' abseits der etablierten Bühnen den Versuch unternommen, dem Phänomen der Wirklichkeit durch eine sogenannte Alltagsinszenierung auf die Schliche zu kommen. Das Duschprojekt ist erfolgreich, weil die beteiligten Personen ihre intimsten, privaten Handlungen veröffentlichen und sie temporär auf einer zweite Realitätsebene positionieren. Die zweite Realitätsebene ist jedoch ein Paradoxon in sich, handelt es sich doch um eine inszenierte Realität oder unechte Echtheit - um die öffentliche Inszenierung einer üblicherweise privaten Inszenierung. Die zahlreichen Medien, die sich diesem Thema widmeten, haben vermutlich unterbewusst eine Seelenverwandtschaft verspürt. Denn Alltagsinszenierung bleibt Alltagsinszenierung - ob live und flüchtig oder medial-reproduziert aufbereitet.
Oder vielleicht doch nicht? The Shower Project war erst der Anfang. Es folgt eine weitere Produktion, die versucht, das Unmögliche möglich zu machen. Sie möchte nicht aufgeben, die Rundum-Inszenierung verschiedener Mitbürger einstweilig aufzubrechen, den Kern des Echten, potenziell nicht inszenierte Momente aufzuspüren. Es entsteht eine Versuchsserie, die unter dem Label Domestic Art Productions firmieren wird. Die Realität als wahre soap? In der zweiten Episode werden im Januar Menschen zusammenkommen, um sich so vehement zu betrinken, bis sie sich übergeben. Die Momente des Übergebens werden fotografiert. Die These lautet, der Zustand der Vergiftung mache jegliche Elemente der Inszenierung null und nichtig. Folglich ist der Moment des Übergebens ein Moment des Unkontrollierten. Jeder, der sich wegen einer anstehenden Alkoholvergiftung übergeben musste, weiß, dass man lieber sterben möchte, als den momentanen Zustand weiter zu ertragen. Alles ist in diesem Augenblick gleichgültig. Die Inszenierung wird zeitgleich zur Nichtinszenierung. Kotzen also als Nische, als letzter Rückzugsort der Repressalien unserer Gesellschaft? Wir werden sehen...
Klammert man das Kotzprojekt vorerst aus, so handelt es sich insgesamt um eine zwingende, überfällige Konsequenz, dass das reale Leben mit der realen Gegenoffensive der Medien konfrontiert wird. Wir müssen der Strömung 'inszenierte Wirklichkeit' dankbar sein. Sie klärt uns über das Wahre auf, indem sie eine universale Lebensstruktur sichtbar macht. Denn wir spielen permanent und überall eine Rolle. Wir spielen uns selbst und werden durch Big Brother und The Shower Project auf diese Tatsache aufmerksam gemacht. Deshalb gibt es keine wahre Realität. Es existiert nur eine Realität, die das Moment der Inszenierung untrennbar inkorporiert hat.
Foucault, Michel (1967): Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34-46.