Zu Wim Wenders Film SUMMER IN THE CITY (Dedicated to the Kinks)
"Die Lichter sind über den Raum verteilt. Sie harren still oder bewegen sich wie an Schnüren, und vorne, zum Greifen nah, leuchtet ein blendendes Orange, mit dessen Hilfe eine Großgarage ihren Ruhm weithin verbreitet ... die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft." (Siegfried Kracauer)
Wenn meine Mutter, als ich noch ein Kind war, zu mir sagte, "Kind, heute gehen wir in die Stadt", dann meinte sie die Strasse mit ihren Geschäften und Schaufenstern. Sie machte ihre Besorgungen, ich ging an ihrer Hand oder später, als ich grösser war, half ich ihr beim Tragen. Am schönsten war die Stadt im Winter, wenn die Geschäfte mitsamt der Auslagen schon am Nachmittag erleuchtet waren und bunte Reklamen von der anderen Strassenseite aus auf sich aufmerksam machten. Heute weiss ich, dass neben dem Kind, das ich damals war, auch dem Flaneur und dem Liebespaar die Strasse mit ihren erleuchteten Schaufenstern und bunten Reklamen (die man aus dem Auto heraus am besten sehen kann) ein besonderer, vielleicht der eigentlich magische Ort der Stadt sein kann.
Im Kino trifft man auf ein ähnliches Schauspiel wie man es von der nächtlichen Strasse kennt. Bunte Lichter beleben den dunklen Raum. Es gibt Reklame, an der man nicht mit dem Auto vorbeifährt, sondern die selbst in Bewegung ist. Man kauft ein Eis oder andere Süssigkeiten; die Ware, wie in den Geschäften, zirkuliert. Beleuchtete Schaukästen werben mit Filmstandbildern und laden zum Überwechseln ins Kino ein, dieser kinematografischen Variation der Strasse.
Mag Wim Wenders an diese zarten Fäden gedacht haben, die die Strasse und das Kino verbinden, als er in seinem ersten langen Film eine achtminütige Fahrt den Berliner Kudamm entlang in Originalzeit drehte? Sollte Wenders in besagtem Film mit dem Titel SUMMER IN THE CITY (D 1970), der die Stadt im Schneegestöber zeigt, Berlin buchstäblich als Kinostadt fantasiert haben?
Die Geschichte von SUMMER IN THE CITY ist schnell erzählt.
"Ein Mann – er wird von Hanns Zischler1 gespielt – kommt aus dem Gefängnis München-Stadelheim. Er besucht alte Freunde, macht lange Fahrten durch München und bemerkt allmählich, dass er verfolgt wird. Er flieht nach Berlin, besucht dort alte Freunde, macht lange Fahrten und Gänge durch die winterlichen Strassen von Berlin und ist wegen eines Zeitungsfotos bald wieder neuen Verfolgungen ausgesetzt. Schliesslich macht er sich nach Amerika auf."2
So schnell sie erzählt sein mag, geht es einem mit der Geschichte von SUMMER IN THE CITY, so ähnlich wie der Hauptfigur mit ihrer eigenen. Danach gefragt, was er im letzten Jahr gemacht habe, sagt Hans, er sei in Stadelheim gewesen. "Man müsste das ganze Jahr, das man drin war, erzählen. Ein Jahr Gefängnis, ein Jahr erzählen. Die ganze Geschichte fällt einem immer nur stückweise ein." Die Geschichte schnell zu erzählen, verfehlt im Fall von SUMMER IN THE CITY erwartungsgemäss den Nerv. Die kontemplativen Momente, zu denen die Lichtspiele der nächtlichen Strasse zu zählen sind, oder jene langen Einstellungen, die geduldig das Sprechen als ein Ringen um die Sprache dokumentieren, entgehen der Zusammenfassung im Zeitraffer. Dabei sind es diese Momente, die mal mehr auf die Stadt, mal mehr auf das Kino bezogen sind, die aneinandergereiht den Film ergeben.
Was zeigen die Bilder? Die verschneite Strasse, Reste der Schneedecke auf der Autoscheibe, eine Gestalt im dunklen Mantel, die die Strasse überquert. Der Schnee, Leinwand im doppelten Sinn, gibt den Bildern etwas Grafisches. Er beleuchtet die dunkle Stadt, verhält sich wie die Strassenlaternen und Rücklichter der fahrenden Autos. Eine Leuchtreklame, glänzende Lichtreflexe auf den parkenden Autos. Beleuchtete Bushaltestellen. Ein vorübergehender Lichtschein auf einem Gesicht. Das Glimmen der Zigarette. Das Weiss der Iris, wenn der Blick schweift. Die Dunkelheit der Stadt ist bevölkert von den tanzenden Lichtreflexen, dem flirrenden Wechsel von Licht und Schatten.
Im Kino, nach Verlöschen des Saallichts, reflektiert uns die weisse Leinwand das Spiel von Licht und Schatten. Bei der Projektion unterbricht die Umlaufblende den Lichtstrahl, dieser Flickereffekt, auf dem jeder Film beruht, ist in SUMMER IN THE CITY sichtbar in die Strassen der Stadt hinein verlegt. Eine Kinematografie der Strasse. Der winterliche Kudamm, die Fahrt mit dem Auto und die dadurch bedingte, spürbare Bewegung, das Vorbei an den Menschen und den Dingen, derer man ohne Anstrengung, ohne viel Konzentration dennoch gewahr wird.
Im Titel überlagern sich Bezüge aus der musikalischen Welt des Pop. Der Song Summer in the City entstammt dem Repertoire von 'The Lovin' Spoonful‘, einer Gruppe 'Jungs', die sich ihren Fans, den 60er Jahren gemäss, als Kumpels und nicht als Glamourstars präsentierten und für ihre Mixtur aus sämtlichen amerikanischen Tonfarben bekannt geworden sind. Gewidmet ist der Film den 'Kinks', deren Songtitel Sunny Afternoon, Set Me Free, Till The End of the Day, You Really Got Me über die erste Nachkriegsgeneration hinaus musikalische Erinnerungsbilder produzieren.
Die im Film gespielten Songs3 bilden, mit anderen Versatzstücken, die auf Musik Bezug nehmen – Bemerkungen, ein Konzertmitschnitt im Fernsehen, der Umgang mit den Platten (sie anfassen, betrachten, auflegen, hören) – eine Textur, die den Film nachhaltig prägt. Aus der Werkperspektive und besonders auch angesichts von Wenders frühen Kurzfilmen, die auf popmusikalischen Themen aufbauen, übertrumpft die Fetischisierung der Musik und ihrer Dingwelt diejenige des Kinos noch bei weitem.
Eine erste Verbindung zum Kino ist die ausführliche Nacherzählung eines Films.4 Der Erzähler, gespielt von Helmut Färber,5 wird später mit Hans in ALPHAVILLE (F 1965)6 von Godard gehen. Die Kamera bleibt beim Erzähler und seiner konzentrierten Wiedergabe der gesehenen Bilder. Ähnlich dem Saphir des Plattenspielers, der den Klang analog erzeugt, hält sich die Nacherzählung des Films strikt an die Chronologie der Ereignisse. Die Kamera verbleibt in ein und derselben Position, und die Einstellung dauert eine ganze Zeit. Man kann förmlich sehen, wie sich die Sätze formen, es gibt ungeschickte Formulierungen, wie sie der gesprochenen Sprache eigen sind. Zeitweise klingt das Gesagte banal, obgleich die Bücher im Hintergrund die klassische Expertenposition andeuten. Der Filmkritiker Helmut Färber, den Wenders für die Rolle des Filmnacherzählers einsetzt, schildert die Ereignisse des gesehenen Films. Wir hören einen Kinogänger aus seinem Leben, einem Film, den er gesehen hat, erzählen.7 Geradeso wie wir an einer anderen Stelle im Film Hans zuhören, wie er von den Schneepflügen auf dem Kurfürstendamm erzählt. Ebenfalls ausführlich und beinahe pointenlos. Es ist ein Erzählen, dessen Akzent eigenwillig auf dem Banalen und Ungekünstelten liegt. Selbst ein Witz, an den sich Hans ganz plötzlich erinnert, wird pointenlos vorgetragen. Als die Frau anstandshalber darüber lacht, sagt Hans, dass sie im Gefängnis wahnsinnig darüber gelacht hätten, und dass er ihn aber nicht mehr komisch findet.
Die Sequenz im Kino, in Godards ALPHAVILLE, zeigt Hans und seinen Begleiter im Profil, den Widerschein des Projektionslichts in ihren Gesichtern. Hans verlässt den Film und geht hinaus auf die Strasse, in einen Automatenshop. Die Kamera verbleibt auf der Strasse und eingerahmt vom Schaufenster des Ladens sieht man ihn etwas kaufen.
Im zweiten Teil des Films, der in Berlin spielt, wird eine andere Facette von Kino präsentiert, die an den Gedanken vom Kino als Gesamtheit aller Filme erinnert, wie sie Christian Metz Mitte der 60er Jahre formulierte. Wenders zeigt uns einen Ausschnitt dieses Kinos, indem er Hans die Filmtitel der telefonischen Ansage vollständig nachsprechen lässt. Helmut Färber wird Jahre später diese Ideen von Wenders und Metz indirekt wieder aufgreifen, wenn er schreibt,
"die Filmgeschichte als Gesamtheit 'aller' je hergestellten Spielfilme, ist ein wirklicher Zusammenhang. Die Filme sind nicht als einzelne entstanden, und nie als nur einzelne gesehen worden. In jedem einzelnen Film lebt bewusst und unbewusst eine Erinnerung an frühere, und spätere kündigen sich an."8
Hans wählt die Nummer der telefonischen Kinoauskunft und wiederholt die angesagten Filmtitel,9 einen nach dem anderen, ohne Wiederholungen auszulassen. Das 'Kino aller Filme' ist eingebettet in eine regelrecht medienbevölkerte visuelle und akustische Umgebung: die Filmtitel werden gesprochen, der Fernseher läuft, die Frau (Libgard Schwarz) liest und kommentiert: "Das ist ja ein Witz, dieser Oswald Kolle".
Das Merianheft 'Berlin von 1970 plaziert gleich vorne ein doppelseitiges Foto "Impressionistisches Farbenspiel: Abend am Kurfürstendamm". Verschwommene, abendlich flirrende Ansicht der Strasse mit ihren durch die fotografische Zeit verwischten Lichtern. Auch eine Abbildung des 1931 erbauten Shell-Hauses10 am Schöneberger Ufer, in dem heute die Gasag ansässig ist, und das vor kurzem noch von einem Baugerüst verdeckt wurde, ist mit einer Abbildung vertreten. Kurfürstendamm und Shell-Haus bilden die Schnittmenge zwischen Merianheft und SUMMER IN THE CITY. Und die städtischen Wahrzeichen, die Gedächtniskirche, die Mauer, Checkpoint Charlie, der Funkturm?!
Die Kamerafahrt beginnt mit einer langen Einstellung auf den Haupt- eingang des Tempelhofer Flughafens mit seinem vorgelagerten Park- platz. Wäre der Taxistand nicht direkt vor dem Eingang, könnte der Blick der eines Taxifahrers sein, der auf Kundschaft wartet. Ein Verharren, bevor die Fahrt beginnt, wie bei einem Flugzeug auf dem Rollfeld, das sich 'auflädt', sich zum Losfahren sammelt. Die Fahrt über den Kurfürstendamm geht nach Osten. Angeblich geht sie in Halensee los,11 am westlichen Ende des Kudamms also, aber das ist den Bildern nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Die Kamera fängt die in Fahrtrichtung rechte Strassenseite ein. Bis die Fahrt beginnt, ist es dunkel, die Autos fahren mit Licht. Es gibt keinen Hinweis, dass die Fahrt den Kudamm entlang geht, aber man weiss es. Die Breite der Strasse gewährleistet, dass die erleuchteten Schaufenster einzeln sichtbar bleiben und nicht in der Bewegung verschwimmen. Die Bildfrequenz, in der die Schaufenster wie die Bilder des Films aufeinander folgen, ist langsam genug, um nicht den Phi-Effekt auszulösen, der sich im Kino einstellt und die Mengen von Einzelbildern in unserem Gehirn zu einer durchgehenden Bewegung verschmelzen hilft. Als einziger Boulevard der Stadt zu Mauerzeiten ist der Kurfürstendamm bei Nacht auch 30 Jahre später noch sofort zu erkennen.
Die Orte und Zeichen der Stadt, wie das Shell-Haus am Schöneberger Ufer, der langgezogene Schriftzug von 'Selbach'12 am Kudamm, die Promenade mit ihren Reklamekästen, die die Geschäfte auf Abstand zur Strasse hält, sind weniger markant als Checkpoint Charlie und Gedächtniskirche, aber produzieren auf eine ähnliche Weise Wiedererkennungseffekte. Daneben gibt es Momente in SUMMER IN THE CITY, in denen die Stadt auf eine physische Art greifbar wird und eine Ahnung von dem entsteht, was Kracauer das "Murmeln des Seienden"13 genannt hat. Dieses hervorzubringen zählt zu den eigentlichen Tugenden des Films, bedarf allerdings auch bestimmter Voraussetzungen auf Seiten des Zuschauers. Eine erste Bedingung besteht darin, dass der Zuschauer die Kontrolle über sein Bewusstsein verloren hat und "träumend durchs Labyrinth seiner vielfältigen Bedeutungen und psychologischen Entsprechungen irrt".14 Der Halbwachzustand (den Roland Barthes15 dem Kinozuschauer generell zuschreibt und der dem Flaneur der Stadt16 nicht völlig fremd ist) bewirkt ein Gefühl der Anziehung. Die Phänomene, die sich vor den Augen des Zuschauers abspielen, wirken anziehend, "sie winken ihn zu sich heran".17 Diesem Verwickeltsein in die Leinwandwelt ist die besondere Sensibilität des Kinozuschauers zuträglich:
"passiv, persönlich, so wenig humanistisch oder humanitär wie nur möglich; zerstreut, unorganisiert und (seiner) selbst so unbewusst wie eine Amöbe; ohne Gegenstand, oder besser, sich allen Gegenständen anheftend wie Nebel, sie durchdringend wie Regen; schwer zu ertragen, leicht zu befriedigen, unmöglich zu zügeln; überall wie ein aufgescheuchter Traum, jener Grübelei verfallen, von der Dostojewski spricht und die ständig aufspeichert, ohne irgend etwas von sich zu geben."18
Auf der langen Fahrt den Kudamm entlang entleeren sich die Bilder der Strasse, deren eigene Akustik vom rockigen Beat der Musik ersetzt ist. Diese "trance-artige Versenkung in eine Aufnahme oder Folge von Aufnahmen" kann, um Kracauer hier weiter zu folgen, "jeden Augenblick einem Tagtraum Platz machen, der sich zusehends von den Bildern entfernt, die ihn hervorriefen."19 Im Film geschieht das, wenn hinter dem Zeitungskiosk Kudamm / Ecke Joachimstaler Strasse ein Schaufenster20 ins Bild kommt, dessen Dekoration bis vor kurzem (zufällig?) mit einem Schild mit der Aufschrift 'Summer in the City' für die Herren-Sommerkollektion warb. Man bleibt daran hängen, und der leere Signifikant füllt sich an.
In der Wechselbeziehung zwischen Versenkung und Abschweifung, entsteht ein einziger "Bewusstseinsstrom, dessen Inhalte – Katarakte undeutlicher Fantasien und unausgeformter Gedanken – noch von den körperlichen Sensationen (zu) zeugen, aus denen sie hervorgehen."21
Die Fantasie der Stadt Berlin als kinematographische Version der Strasse, die der Film SUMMER IN THE CITY aufwirft, beruht auf Schnee, Nacht, Musik und Auto und auf einer Darbietung, zu deren Beschreibung man auf Begriffe wie Kontemplation, Physische Realität, Originalzeit, Bewusstseinsstrom zurückgreifen kann (Adjektive sind nur bedingt nützlich).
Findet man sie auch im zeitgenössischen Repertoire der Städte? Mit der Zeit haben sich auch die Städte verändert. Von ihrem Verschwinden ist die Rede. Vom Ende der Geschichte und dem Ende der Stadt.22 Auch SUMMER IN THE CITY war als Stimmungsbild einer enttäuschten Generation gedacht. "Kein depressiver Film, aber ein Film über eine Depression."23
Wäre diese Fantasie auch am heutigen Potsdamer Platz denkbar? Schliesslich fehlen die Fenster mit den Leuchtreklamen, der zügige Autoverkehr parallel zu den Schaufenstern. Die Fenster sind nach innen gestülpt und von aussen sind keine Läden und Auslagen sichtbar. Es gibt keine wirklich einladenden Cafés. Der Potsdamer Platz birgt andere Reize, die noch zu ergründen sind – und die gleichwohl weniger auf das analoge Prinzip der Kinematografie verweisen, als auf Designs aus dem Computer. Man kann das an Kleinigkeiten schon sehen. Zum Beispiel daran, dass die 'Smarts', die etwa zeitgleich mit den Handys aufgekommen sein müssen, die einzigen Autos sind, die wirklich ins Strassenbild des Potsdamer Platz‘ hineinpassen. Alle anderen Wagenmodelle erscheinen darin, als stammten sie aus einer vergangenen Zeit.
Barthes, Roland (1975) Beim Verlassen des Kinos, in: Filmkritik 235, 1976.
Dard, Michel (1928) Valeur humaine du cinéma. Paris.
Flusser, Vilem (1991) Ende der Geschichte, Ende der Stadt? Wien.
Jakobsen, W. / Kaes, A. / Pritzler, H. (Hg.) (1993) Geschichte des Deutschen Films. Stuttgart.
Hessel, Benjamin (1926-33) Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen, in: Ermunterung zum Genuss. Berlin 1981.
Kracauer, Siegfried (1960) Theorie des Films. Die Errettung der äusseren Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1996.
Rauh, Reinhold (1990) Wim Wenders und seine Filme. München.
Grob, Norbert (1991) Wim Wenders. Berlin.