Zwischen November 2000 und Februar 2001 hat via email eine Diskussion stattgefunden, die hier in einer überarbeiteten Fassung publiziert wird. Die Initiatorin dieses "Gesprächs", Kathrin Peters, hat fünf Personen aus dem Bereich Fotografiegeschichte, -kritik und -ausstellungen eingeladen, über das Verhältnis Wirklichkeit und Fotografie zu diskutieren. Anlass zu einer derartigen Auseinandersetzung war die Beobachtung, dass es in der aktuellen fotografischen Praxis verschiedentlich Bemühungen gibt, Fotobilder an "unmittelbare" Erfahrungen und Wirklichkeiten zurückzubinden, und das gerade vor dem Hintergrund einer in dern 80er Jahren dominanten dekonstruktiven Haltung gegenüber Realismus oder Dokumentarismus. Das Netzgespräch zeigt nicht zuletzt ein Ringen um seinen Gegenstand (und stellt dieses Ringen als konstitutiv für jede Rede über Fotografie heraus): Was heißt Dokumentarfotografie, welche Diskurse haben so etwas wie das Dokumentarische historisch hervorgebracht? Welche (normativen) Abrenzungsstrategien werden zwischen den fotografischen Positionen bemüht? Welche Wirklichkeiten sind es, die präsentiert werden? Und wie stark beeinflußt die Kontroverse Kunst versus Fotografie die Orte, an denen fotografische Bilder überhaupt erscheinen? Einige Namen und Begriffe tauchen immer wieder auf und sind daher in der linken Spalte aufgelistet. Direkt anknüpende Bemerkungen können mittels [>>] aufgerufen werden. Es sind insgesamt 17 Beiträge entstanden.
10.11.2000
- Dokumentarfotografie
- Kunstdiskurs
- Bernd und Hilla Becher
- Robert Frank
- August Sander
> Fabian Stech
Die Welt als Ganzes. Fotografie aus Deutschland nach 1989 ist der Titel einer Ausstellung, die der Kunst- und Fotokritiker Ulf Erdmann Ziegler kürzlich kuratiert hat.1 Die Ausstellung wurde im Auftrag des Instituts für Auslandsbeziehungen zusammengestellt und tourt – nach ihrer Eröffnung in Köln – international. Es verleiht der Ausstellung Gewicht, dass sie die Aufgabe hat, künstlerische Positionen aus Deutschland international zu repräsentieren. Immerhin proklamiert Ziegler im gleichnamigen Katalog nichts geringeres als eine "neue Dokumentarfotografie", deren Aufkommen im Untertitel der Ausstellung mit dem Nachwendedeutschland verknüpft wird.
Man möchte gleich fragen: Was ist "neue" Dokumentarfotografie; was war die "alte"? Welche Bedeutung hat der nationale, historische Rahmen "Deutschland nach 1989" für das Entstehen einer "neuen" Fotografie?
Zieglers Ausruf einer "neuen Dokumentarfotografie", den er anläßlich eines Symposiums in Essen im vergangenen Frühjahr schon vorgetragen hatte, ist aufschlussreich, denn zur Auslotung der Beziehung Wirklichkeit-Fotografie-Kunst werden altbekannte Motive bemüht. Ich nehme daher Zieglers Text zum Anlass, in unsere Diskussion einzusteigen. Zu den ausgestellten Arbeiten nur so viel: Es handelt sich zum überwiegenden Teil um freie Projekte von FotografInnen, die im Magazinkontext (hauptsächlich Magazin der Süddeutschen Zeitung) arbeiten: Eva Leitolf mit einer Serie über Neonazis, Wolfgang Bellwinkel über Krieg in Kroatien, Peter Hendricks über Drogensüchtige, Stephan Erfurt über Angestellte, Jitka Hanzlova über ihr tschechisches Heimatdorf u.a.
Wenn eine "neue" Fotografie bestimmt wird, dann kann das immer nur in Abgrenzung von einer alten oder einer anderen Fotografie gelingen. Die Grenzziehungen in Zieglers Text verlaufen entlang zweier Linien: Der Reportage/Gebrauchsfotografie einerseits und der Kunst andererseits.
1.
Während die Reportage politisch affirmativ sei und in Einzelbildern direkt auf das Ereignis draufhalte, arbeite die "neue Dokumentarfotografie" seriell und "bewegt sich auf den Nullpunkt des Geschehens zu". Letztere zeige z.B. das Ereignis Autounfall nicht im Bild von Leichen und/oder einem zerstörten Auto, sondern als Spur, die das Auto auf dem Asphalt hinterlassen hat.
Kann man "gute" Dokumentarfotografie tatsächlich daran erkennen, dass sie sich auf Spuren, periphere Objekte und Ausschnitte kapriziert, wogegen die "böse" Reportage schonungs- und gedankenlos abschießt? Die Kamera direkt drauf versus die Kamera knapp daneben halten? Diese Unterscheidung fußt auf einer, wie mir scheint, ethischen Haltung, die zwar nicht explizit voyeuristisch oder sensationsbegierig sein will, aber z.B. ebenso wenig wie eine "anspruchslose" Fotografie auf den Originalschauplatz usw. verzichtet.
2.
Die zweite Abgrenzung in Richtung Kunst erklärt sich schon aus den unterschiedlichen Präsentationsräumen: Denn die "neue Dokumentarfotografie" findet nicht im Galerieraum statt, sondern im illustrierten Magazin (und findet von da aus hin und wieder den Weg in eine Galerie). Die Institution "Kurator" wird ersetzt durch den Art-Director (für das SZ-Magazin: Markus Rasp). Die Position der "neuen" oder "engagierten" Dokumentarfotografie zwischen Gebrauch und Kunst ist prekär: "... denn die dokumentarische Fotografie ist keine Erfindung und Collage, und sie entsteht in der Begegnung mit dem Objekt". Zwar können diese Bilder im Museum gezeigt werden, sind "aber auch keine Kunst im engeren Sinne".
Von einer "Kunst im engeren Sinne", nämlich von Bernd und Hilla Becher, grenzt Ziegler die künstlerische Dokumentation ab, deren Ursprung bei Robert Franks Americans2 angesetzt wird. Sein Beispiel ist das Hochformat. In einer fast schon an das Dogma 95 erinnernden Manifesthaftigkeit behauptet Ziegler, dass Hochformat, sowie Farbe und Serialität die Stilmittel der "neuen Dokumentarfotografie" seien. Während das Hochformat der Bechers sich allein aus der Dimension der fotografierten Objekte, eben der Förder- und Wassertürme, ergäbe, hätte man es bei dem Hochformat der "neuen Dokumentarfotografie" nicht mit der Abbildung der Dinge, sondern mit einem (subjektiven) Blick auf die Dinge zu tun.
Innerhalb dieser Wertigkeit (Blick vs. Abbild) ist die Arbeit der Bechers – auch August Sander wird dieser Richtung zugeschalgen – nur Aufzeichnung, mit der Betonung auf "nur". Dagegen, so geht die altbekannte Argumentation der Kunstfotografie – oder Susanne ? –, könne nur eine intelligente und kreative Verwendung der apparativen und technischen Bedingungen Kunst produzieren.
Ist eine Opposition Kunst und Kunstfotografie im Hinblick auf den Kunstmarkt und Kunstbetrieb überhaupt aufrecht zu erhalten? Und impliziert nicht eine rigide Unterscheidung zwischen angewandter Fotografie einerseits und engagierter/künstlerischer/kreativer Fotografie andererseits immer eine Verdrängung der Mediengeschichte der Fotografie? [>>]
14.11.2000
- Autorenfotografie
- Dokumentarfotografie
- Robert Frank
- August Sander
- Becher
>Maren Polte
Wie am Anfang jeder Diskussion ist es ein bisschen schwer. Für mich war
überraschend, dass Du das Thema Realismus in deiner Einführung auf Dokumentar- sprich Autorenfotografie begrenzt. Der neue Realismus ist ein gesellschaftliches und künstlerisches Problem, das innerhalb der Kunst hauptsächlich durch die Fotografie bestimmt wird.
Autorenfotografie und Dokumentarfotografie scheint mir etwas völlig anderes zu sein. Walker Evans und Robert Frank stehen für mich für Autorenfotografie, d.h. objektive Fotografie in der der Autor versucht, hinter seinem eigenen Namen zurückzustehen, die aber in der Benutzung ihrer Gestaltungsmittel gleichzeitig einen künstlerischen Ausdruck, d.h. einen Namen prägt. Die Ausstellung How you look at it im Sprengel-Museum Hannover,3 hat paradigmatisch diese ganze Tradition aufgezeigt, die ihre Wurzeln bei August Sander und Eugène Atget hat.
Die Definition der "neuen Dokumentarfotografie" halte ich für bedenklich – mit allen Vorbehalten, die ein solches Urteil birgt, denn ich habe die Ausstellung leider nicht gesehen. Ich kenne von Erdmann nur das Buch im Taschenverlag, welches aber schon zulässt, sich eine Idee zu bilden.
Fraglich finde ich die Definitionskriterien Hochformat und Farbe. Vor allem in Abgrenzug zu den Bechers.
1. Für mich waren die Bilder der Bechers immer quadratisch und ich
musste extra nachsehen, ob sie wirklich im Hochformat fotografiert sind.
Tatsächlich, sind sie. Allerdings arbeiten die Bechers mit einer Großformatkamera und nicht mit dem 24/36 Format, daher sind die Bilder fast quadratisch.
2. Was die Farbe betrifft, so hat sich diese in der Fotografie aus technischen Gründen durchgesetzt. Farbfilm ist billiger und schneller produzierbar geworden und fast muss man sagen, es wird immer schwieriger schwarz-weiß Filme zu kaufen.
Die von Dominique Baqué sogenannte plastische Fotografie definiert sich übrigens auch Großformatigkeit und Farbe. Außerdem birgt sie nicht mehr das, was Barthes das Punktum genannt hat.
15.11.2000
- Nan Goldin
- Dokumentarfotografie
- Kunstdiskurs
- Wolfgang Tillmans
- Blossfeldt
> Inka Schube
Schön, dass ich nochmal einen Anlass hatte, Zieglers Text zu lesen. Ich glaube außerdem, dass er unmittelbar etwas mit dem Realismus in der Fotografie zu tun hat.
Ziegler beschreibt Aspekte dokumentarischer Fotografie (siehe Robert Franks Projekt, das dieser selbst als teil-dokumentarisch bezeichnet hat) und veranschaulicht mit seinem Durchgang durch die letzten vierzig/fünfzig Jahre Fotografiegeschichte die Verschiebung dessen, was man Dokumentation nennt/nennen kann. Z.B. konnte das visuelle Tagebuch von Nan Goldin erst nach der von Ziegler so genannten "Entdeckung des Biographischen" überhaupt als dokumentarisch rezipiert werden.
[Bild/Karl Blossfeldt: Hartriegel, Verzweigung, o.J. (vor 1928)
Ziegler beschreibt Ausbildungsstätten, die Verquickung von persönlichen und historischen Umständen einiger exemplarisch ausgewählter Fotografen und die Situation auf dem Markt, für den Fotografie produziert wird. Es gelingt ihm, die sich verändernde Bildform, die Suche nach neuen Bildlösungen in diesen – exemplarischen! – Entwicklungen einzubetten. Das erlaubt ihm, in seinem Schlusskapitel von einer "neuen Dokumentarfotografie" zu sprechen (die die Frage nach einer nicht wirklich verhandelten "alten" wachruft).
Zieglers Fragen sind: Wie verändert sich fotografische Dokumentation, wenn die Abhängigkeit von Auftraggebern abnimmt? Wie formulieren Fotografen ihren Stil, ihre Themen?
Eine Tendenz zum Festhalten von Wirklichkeit mit traditionellen technischen Mitteln, wie der Großbildkamera, ist unübersehbar. Dabei werden die traditionellen Zuordnungen der formalen Mittel zu deren inhaltlichen Entsprechungen, z.B. Portrait = Hochformat, gelöst und daraus ergibt sich ein erweiterter Begriff von Dokumentarfotografie.
Sollte ich Ziegler richtig verstanden haben, geht es ihm nicht darum, Reportage als "böse" und Dokumentation als "gut" hinzustellen. Eher – und den Ansatz finde ich ganz interessant – um das "Dokumentarische". Das "Dokumentarische" ist subjektiv, setzt eine "Begegnung mit dem Objekt" voraus, ist zeitintensiv und will recherchiert sein.
Unmöglich finde ich sein über 24 Seiten vorbereitetes Resumée, dass die Fotografen sich zur Interpretation des Sichtbaren drei ästhetische Methoden aneignen mußten:
"das Konzipieren einer fotografischen Strecke als Sequenz oder Serie auf der Basis von Farbe; das Zitieren anderer Bildquellen, auch der fotografischen; das Etablieren von biografischen oder autobiografischen Bezügen."
Fragt sich, wer agiert, wer reagiert. Außerdem können alle seine Punkte auch ins Gegenteil verkehrt werden, ohne an Relevanz in der gegenwärtigen Diskussion um Dokumentarfotografie zu verlieren.
Von diesen wütend stimmenden und streitbaren Punkten finde ich noch so einige (unter anderem die Auswahl der von ihm gezeigten Fotografen), die zu diskutieren lohnte.
Zur Frage nach der Unterscheidung Kunst und Kunstfotografie: Ich glaube, daß es nach wie vor in Europa eine Unterscheidung von Fotografie und Kunst gibt, daß aber die Arbeit derjenigen Fotografen, die sich als Künstler verstehen, auch als Kunst anerkannt wird. Außerdem ist Wolfgang Tillmans [>>] eines der besten Beispiele dafür, dass die Grenze angewandte / künstlerische Fotografie fließend ist. Wer will das schon entscheiden? Was ist mit Blossfeldt? Macht nicht die Rezeption einer fotografischen Arbeit als Kunst diese auch zum Kunstwerk? [>>]
Bald mehr, Maren
6 Nov 2000
- Staatsrepräsentation
- illustriertes Magazin
- Dokument/das Dokumentarische
> Susanne Holschbach
Als Erstes: Ich glaube, man tut U.E. Ziegler unrecht, wenn man seinen Text und die in ihm formulierten Thesen allzu ernst nimmt. Hingegen artikuliert sich in der einseitigen Ausrichtung der Konzeption ein klares Interesse von Seiten des IfA (Institut für Auslandsbeziehungen) bzw. der sie in fotografischen Fragen beratenden Instanz.
Wenn ich Ziegler richtig verstanden habe, wählte man ihn als Macher dieses Projektes eben wegen seiner Nähe zu dem Projekt New German Photography.4 Daraus ergibt sich u.a. die Frage, welche (kultur)politischen Interessen mit dieser Ausstellung, die junge deutsche Fotografie der 90er Jahre zeigt, realisiert werden; sowohl auf der (foto)ästhetischen als auch auf der inhaltlichen Ebene. Immerhin hat das was mit der Außendarstellung dieses Staates zu tun. Aber das wäre eine extra Geschichte, die in unserem Zusammenhang wiederum nicht ganz unwichtig sein könnte, weil die fotografischen Arbeiten eben in diesem Kontext ihr dokumentarisches Potential entwickeln.
Die Sache mit der Farbe und dem Hochformat ist mir, so wie sie Ziegler vorbringt, einfach zu albern, um näher darauf einzugehen. Vielmehr müsste man an dieser Stelle eher auf das Magazinumfeld eingehen, in dem die "neue Dokumentarfotografie" erscheint: Verhältnis zur Werbung, Layoutpraxis, Präsentation der Bilder formatfüllend und ohne Text usw.
Zu unserem eigentlichen Thema:
Etymologisch steckt in "Dokument/Dokumentar- " der "Beweis" ebenso wie das "Dozieren". Meine Ausgabe des etymologischen Wörterbuches sagt, die eigentliche Bedeutung sei "Das zur Belehrung über eine Sache bzw. zur Erhellung einer Sache Dienliche”.(Hübsch, die "Erhellung”, im fotografisch/filmischen Kontext). Dies beschreibt recht gut die Komplexität,
unter der die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Dokumentarfotografie zu führen ist:
1) die Absicht der Belehrung,
2) die Sache, über die belehrt werden soll,
3) die Erhellung respektive Belichtung, also das Fotografische
4) die Umstände der Dienlichkeit. [>>]
Rainhard Matz hat in seinem nun (wenigstens) zum dritten Mal erschienen Text Gegen einen naiven Bgriff der Dokumentarfotografie5 auf die Prägung des Begriffes "documentary/dokumentarisch" in den USA der 20er Jahre hingewiesen. Interessant ist sicher die Tatsache, dass, so Matz, John Grierson 1926 den Begriff "documentary" im Sinne einer Abgrenzung der Filme Robert Flaherty’ gegenüber Holywoodspielfilmen und deren "schlechter Künstlichkeit" prägte. Auch über diesen Umweg, Kathrin, lässt das Dogma95 grüßen.
Mit Grüßen Inka
Fri, 17 Nov 2000
- humaner Pathos
- Dokumentarfotografie
- Kunstdiskurs
- Bernd und Hilla Becher
> Christine Karallus
Liebe Kathrin, deine nicht ganz einfachen Fragen haben auch mich dazu veranlasst, nochmal in den Katalog zu schauen, um dort konkrete Anknüpfungspunkte zu finden. Es ist aber bei dem etwas diffusen Unbehagen geblieben, dass ich schon beim ersten "Durchgang" hatte. Was mich spontan genervt hatte, war die Auswahl des Titelbildes – warum diese doppelte Ikonizität (Stabat Mater und Migrant Mother von Dorothea Lange, die Ikone der klassischen Sozialdokumentation?). Und dann dieses Sehnsuchtsbild auf der Innenseite, der blühende Obstbaum auf der Wiese der Kindheit? Um Missverständnisse zu vermeiden – es geht mir nicht um die Arbeiten, aus denen diese Bilder ausgewählt wurden, sondern um die Rhetorik dieser Auswahl. Diese konterkariert meiner Ansicht nach die Argumentation Zieglers, sprich das Titelbild funktioniert genau wie Reportagefotografie, es ist ein richtiger Aufmacher mit nicht wenig an "humanem Pathos". Außerdem stellt es die "Neuigkeit" der präsentierten Richtung in Frage. In der Tat finde ich nicht viel Neues in den gezeigten Beispielen, vielleicht noch in der Art der Mischung zwischen "topografischer" und "subjektiver" Herangehensweise.
Bezogen auf die dokumentarische Fotografie würde ich durchaus eine Abgrenzung zum Kunstdiskurs sehen: D.h., anders als im letzteren muss es ihr nicht um Originalität gehen, um immer potenziertere kunstsystemische Reflexion, um das Avantgardeprogamm eben … Und es war doch auch immer so, dass die Fotografie den Kürzeren gezogen hat, wenn sie sich nach der Kunst richtete. Fotografie wurde im Kunstkontext immer dann hofiert, wenn sie sich auf "unkünstlerische" Gebrauchsweisen bezogen hat. (Wie im Fall Becher z.B., die ja tatsächlich nicht Kunst im engeren Sinne machen, sondern beharrlich ein dokumentarisches Projekt durchziehen).
Ich erinnere mich an einen Katalogbeitrag von Diedrich Diedrichsen (zu Fotografien von Thomas Demand, Ed Ruscha und Andreas Gursky), den ich ganz anregend fand. Seine Argumentation ging in etwa dahin, dass die subversive Funktion der Fotografie im Kunstsystem darin bestanden habe/besteht, die "Außenwelt", die "Realität" oder wie immer man es nennen will, in den hermetischen Raum des White Cube zu bringen. Die Gefahr liegt natürlich auf der Hand: Vereinnahmung, Musealisierung, Aufhebung dieses subversiven Effekts.
Genau die Avantgardeforderung und damit die Angleichung an den etablierten Kunstdiskurs steht für mich aber dahinter, wenn Ziegler, auf Hausmanns Variante des "Neuen Sehens" bezogen, schreibt: "In der deutschen Dokumentarfotografie nach 1989 gibt es einen Rückgriff auf diese Radikalität des Ausdrucks, aber eben nur auf die Radikalität, nicht auf die etablierten Formen des Neuen Sehens". Ist dieser Legitimationsdiskurs in Bezug auf die Fotografie noch immer nötig? Das vielleicht als Antwort auf die Frage, die direkt an mich addressiert war.
Abgesehen davon lenkt für mich die Betonung der "ästhetischen Methoden" von den Inhalten, den Themen der Arbeiten ab. Dass wäre für mich eine spannende Frage: was für "Wirklichkeiten" werden in der zeitgenössischen dokumentarischen Fotografie (oder zunächst in dieser Auswahl) gezeigt? Was kommt nicht vor? Da schließe ich mich Maren an.
Eine Anmerkung noch zum historischen Rahmen "nach 1989". Es ist schon ein starkes Stück, dass wenn ich richtig gesehen habe, nur ein Fotogaf aus Ostdeutschland dabei ist, oder? (Es gibt auch keine Erklärung im Text dazu).
Bis auf weiteres, Susanne
Mon, 20 Nov 2000
- Dokumentarfotografie
- humaner Pathos
- Wehrmachtsausstellung
> Kathrin Peters
Beim Lesen von Ulf Erdmann Zieglers Ausstellungsbeitrag ist (wie bereits Kathrin) aufgefallen, dass er die Bildpraxis der "neuen Dokumentarfotografie" durch ein Repertoire von Begriffen zu fassen versucht, von denen er vorgibt, sie stellten eine Opposition innerhalb einer fotografisch-dokumentarischen Situation/Kultur dar.
Es handelt sich dabei um Pole wie beispielsweise Reportage-/Dokumentarfotografie, Methode/Stil, seriell/affirmativ, investigativ/stereotyp oder bildliche Abstraktionen versus anekdotische Szene. Damit suggeriert Ziegler, dass eine bestimmte "dokumentarische" Strategie exklusive Berechtigung hat, was er darüber hinaus noch dadurch bekräftigt, dass er bestimmte Fotografen anführt, denen es durch ihre investigative Arbeitsweise gelingt, "szenische, taktile, geografische und ästhetische Besonderheiten in Erfahrung" zu bringen (S.13). Anderen Fotografen gelingt diese "in Erfahrung bringen" nicht. Denn bei ihren Arbeiten gibt es keine Recherche, kein Konzept und keine Theorie. (S. 28)
Wenn man sich mit Dokumentarfotografie bzw. mit dem Verhältnis von Bild und 'Wirklichkeit' beschäftigt, ist es natürliche eine der zentralen Fragen, auf welche Art und Weise sich dieses Beziehungsverhältnis thematisieren und visualisieren lässt. Auch Ziegler beschäftigt sich in seiner Neudefinition der Dokumentarfotografie mit der Frage nach einer 'adäquaten' fotografischen Umsetzung eines Gegenstandes/Themas bzw. mit dem, was diese 'Adäquatheit' beschreibt. Dass er dabei so etwas wie eine partielle Semiotik und phänomenologische Einfühlung in der Bildpraxis der neuen Dokumentarfotografie ausmacht, mag stimmen oder nicht. Was ich problematisch finde, ist, dass seine Konzeption einer neuen Dokumentarfotografie ein Selbstverständnis von Fotografie in sich trägt, dass das fotografische Bild – pointiert formuliert – als "Fenster zur Welt" begreift. In diesem Fall als Fenster auf das "Humane", zumindest auf eine Fotografie, die vom "Menschen handelt"(S. 23). Nun ja. Doch was passiert, wenn man sich von diesem Abbildungspostulat abwendet?
Lässt sich dann nicht möglicherweise etwas über das Verhältnis von Fotografie und Dokumentarismus erfahren? Was bedeutet die Fotografie für den Dokumentarismus? Wie kommt es, dass sie als erstes visuelles Medium als Metapher für das Dokumentarische schlechthin zu fungieren vermag?
Mit dieser Fragestellung möchte ich keineswegs, wie es den Anschein haben könnte, den Blick auf den technisch-apparativen Abbildungsprozess lenken, auf die 'Materialität des Mediums'. Die Frage, die mich interessiert ist, ob sich über das Verhältnis von Fotografie und Dokumentarismus nicht mehr erfahren lässt, wenn man die Fotografie als ein Mittel zur Herstellung einer Konstruktion begreift, die sich auf die 'Realität' bezieht?
In diese Richtung haben ja bereits Maren und Susanne mit der Frage gewiesen, welcher Art die Wirklichkeiten sind, die in der zeitgenössischen dokumentarischen Fotografie gezeigt werden bzw. nicht gezeigt werden.
Dass das 'Dokumentarische' in der Dokumentarfotografie eine fragile Angelegenheit ist, hat sich ja geradezu demonstrativ in der Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 bewiesen, die 1995 eröffnet wurde und jetzt wieder "auf Tour geht". Bekanntlich ist durch die Recherchen des polnischen Historikers Bogdan Musial die Ausstellung zu Fall gebracht worden, weil er den Nachweis erbracht hat, dass einige der gezeigten Fotografien, nicht die NS Verbrechen der Wehrmacht demonstrieren, sondern, dass es sich bei den gezeigten Opfern um Opfer des sowjetischen NKWD handelte, sowie um die Verbrechen von Ungarn und Finnen. Dies macht nur allzu deutlich, dass das fotografische Bild zu einem Dokument dafür geworden ist, wie verschlungen, verzeichnet und funktionabel der Wirklichkeitsbegriff ist, den die Fotografie transportiert. Dies würde bedeuten, daß das fotografische Bild seine Schlagkraft, in diesem Fall als historisches Dokument, massiv durch den Kontext/seine soziale, politische ästhetische etc. Einbindung erhält [>>].
Tue, 28 Nov 2000
- Dogma
- Authentizität
- humaner Pathos
- Autorschaft
> Christine Karallus
Ich danke euch für die anregenden Kommentare und Beiträge zu Zieglers Katalog. Mir haben eure Reaktionen auf Zieglers Manifest einer "neuen Dokumentarfotografie" gefallen: Maren ist "wütend gestimmt", Susanne "spontan genervt" und Inka findet man täte dem Text unrecht, wenn man ihn überhaupt ernst nimmt, Fabian hat Bedenken.
Dass man nun in Farbe und Hochformat fotografieren soll, Found Footage einarbeiten und immer (auto)biografisch arbeiten soll, erinnert mich, an ein Dogma, an d a s Dogma 95. In ihm riefen einige dänische Filmemacher Lehrsätze aus, die nicht hinterfragt, sondern befolgt werden sollen.[siehe Patrick Vonderau in dieser Ausgabe] Es basiert auf einer ganz ähnlichen Mischung von technischen Vorgaben (kein Kunstlicht, Farbe, Filmformat) und konzeptionellen Vorgaben (im Hier und Jetzt spielen, keine oberflächliche Action). Auch beim Dogma geht es also um eine spezifische Anordnung, die "authentische" Filme hervorbringen soll. Realität soll also nicht inszeniert werden, keiner repräsentatorischen Logik unterliegen, sondern sich z e i g e n. Ich denke dabei auch an Big Brother und dessen kompliziertes Setting, in dem die einzige Regieanweisung (sieht man vom Beschäftigungsangebot ab) lautet "zeig dein Gesicht, zeige wer du wirklich bist".
Meine Überlegung ist: könnte man in diesen Realismuskonzepten und -manifesten als Gemeinsamkeit erkennen, dass sie ein formal-technisches Regelwerk aufstellen, in dem sich Realität ereignen soll?
Vielleicht bin ich damit auch in der Nähe deiner Frage, Christine: Warum oder auf welche Weise hat das fotografische – oder allgemein – technische Bild diese Realismushoheit inne?
Die Wirklichkeiten, die sich vor den Apparaten zeigen, verstehen sich – so scheint es – von selbst. Sie sind, darin sind sich Susanne, Maren und Christine einig, mit dem humanen Pathos verknüpft: Drogenabhängige (wohl in Zieglers Katalog eine der problematischeren Serien), Nazis und ihre Opfer, Krieg, und ein romantisch-sehnsüchtiges Bild der ehemaligen Ostblockländer. Ich denke, hier scheint die von Inka betonte Repräsentationsfunktion des IfA auf: Ein selbstkritisches Deutschland stellt sich vor, das seine europäische und globale Machtposition in der Perspektive einer jungen, nachdenklichen Generation ein wenig anschmiegsamer macht.
Ich möchte die Frage nach der Autorschaft noch mal anstoßen. Mir scheint die Haltung des Autors/Auteur mit Realismuspostulaten verknüpft zu sein. Gerade weil die Position des Autors beinhaltet, hinter die Realität der Dinge und Ereignisse zurückzutreten, können diese aber nur durch seine spezifische Handhabung der Apparatur, seiner Handschrift,'subjektiven' Standpunkte und seiner Aufmerksamkeit in Erscheinung treten. Hierin unterscheidet der Autor sich vom Künstler sowie von einer Aufzeichnungsmaschine.
Thu, 07 Dec 2000
- das Dokumentarische
- Wolfgang Tillmans
- Kunstdiskurs
> Susanne Holschbach
Inka hatte kürzlich in ihrem Beitrag eine etymologische Definition des Begriffs "Dokument/Dokumentarisch" gegeben. Ich wollte diesem Beitrag einen Hinweis von Paul Virilio zufügen, der in Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu dem Einfluss der polizeilichen Techniken auf Werbung, moderne Kunst etc. bemerkt, dass das "Adjektiv dokumentarisch (das den Charakter eines Dokuments hat)" von Littré im selben Jahr in das Lexikon aufgenommen wurde, "wie das Wort Impressionismus, nämlich 1879". (Was mir gerade auffällt, 1879 wurde auch der französische Erkennungsdienst gegründet.)
Das heißt, genau in dem Jahr in dem sich eine Malerei zu etablieren beginnt, in der die Dinge zu verschwinden drohen, taucht der Begriff "dokumentarisch" in einem renommierten französischen Lexikon auf, der für den Akt des Festhaltens, Bewahrens steht und der ja dann nachdrücklich von der Fotografie beansprucht wird.
Im Kontext der Definitionen-Assoziationen möchte ich noch eine von Charles Rump anfügen (Journalist bei Die Welt), der in seinem Kommentar zu der Preisverleihung des Turner-Preises an Wolfgang Tillmans unter der Überschrift Fotos sind Kunst! (tatsächlich mit Ausrufezeichen!) bemerkt, daß die Unterscheidung von "Fotografen-Fotos" und "Künstler-Fotos" nun an Kraft verliert. Galeristen und Sammler wechseln immer häufiger die Lager, so Rump, und geben die Dichotomien auf. Und weiter:
"Der Turner-Preis an Tillmans wird diesen Trend verstärken. Denn Tillmans ist Fotograf und kommt von dem Fotografen-Foto her. Und jetzt macht er Kunst-Fotos, auch wenn er das abstreitet."
Dass Tillmans, der sich schon lange an den Schnittstellen verschiedener Bildsysteme (Mode, Kunst) ansiedelt bzw. angesiedelt wird, nun, durch den Erhalt des Turner-Preises das Bedürfnis produziert, ihn bzw. seine Aufnahmen, in bestimmte Kategorien einzuordnen, ist nachvollziehbar. Doch was sind denn Fotografen-Fotos? Hat das was mit Dokumentarfotos zu tun? [>>]
Christine
Fri, 08 Dec 2000
- Dogma
- Lomografie
- Authentizität
- Autorschaft
- R. Billingham
- Jacob Riis
- Roland Barthes
> Inka Schube
hallo
Inzwischen stehen so viele Begriffe, Dichotomien, Ansätze etc. im Raum, dass ich für mich erstmal etwas sortieren muss.
Zunächst zum Dogma95 als einem Setting von Regeln, in dem sich 'Realität' ereignen soll: Mir fallen da noch die 10 Gebote der Lomographen ein (von denen die letzte, soweit ich mich erinnere, allerdings fordert, alle Regeln zu brechen).
In beidem gibt es die Verbindung zwischen Low-Tech und Authentizität. Low Tech heisst wiederum ein Weniger an kontrollierter Inszenierung und damit Zurücktreten des Autors (worauf du, Kathrin, am Schluss deiner Ausführungen eingehst). Wie ich in nachdemfilm noch mal nachlesen konnte, steht genau die Askese in dieser Hinsicht -–der Verzicht auf die Autorenposition – im Zentrum der Dogma-'Ethik', obwohl die unterzeichnenden Regisseure, allen voran Lars von Trier ja genau dadurch ihren Kultautorenstatus zementieren konnten.
Die Vorgabe der Lomographen, überall und immer zu fotografien, sprich das Fotografieren zur automatischen Geste zu machen, die das Bewußtsein unterläuft, zielt in die gleiche Richtung. Auch der 'Fall' Billingham – hier meine ich insbesondere die Rezeption Billinghams als 'Naiver', als "Kaspar Hauser der Fotografie",6 der einfach nur so geknipst hat und dann entdeckt wurde – liegt auf dieser Linie: Weniger Autor = mehr Authentizität. (Wenn auch der Kontext zugegebenermaßen ein jeweils anderer ist).
Natürlich lassen sich hier auch historische Bezüge finden: Bei der Vorbereitung meiner Vorlesung bin ich letzte Woche auf einen interessanten Aufsatz zu Jacob Riis gestoßen, der ja als ein wenn nicht der Begründer der engagierten sozialdokumentarischen Fotografie in die Fotogeschichte eingegangen ist. In diesem Aufsatz bzw. Kapitel interpretiert Peter Hales Jacob Riis wiederholte Betonung seiner technischen Unzulänglichkeit und seines völligen ästhetischen Desinteresses ebenso wie seine Art der Ausschnittwahl (fagmentierend, schnappschusshaft) als durchaus bewußte Strategie, das Unmanipulierte der Aufnahmen und somit ihre Wahrhaftigkeit evident zu machen: sie zu 'Authentifizieren', um den Begriff aufzugreifen, der in dem nachdemfilm-Gespräch mit Wolfgang Beilenhoff und Reiner Vowe auftauchte.
Der Fotograf-als-Autor verstellt dagegen das 'Wesen' der Fotografie (und damit ihre Beweiskraft) durch seine sich z.B. in einer bestimmten Ästhetik niederschlagenden Absichten. Darauf läuft es doch bei Roland Barthes (immer wieder Barthes, sorry) seit "Schockfotos" in den Mythen des Alltags (1957), das ich auch noch mal rausgekramt habe, hinaus:
"Die gelungenen Bilder bleiben ohne Wirkung auf uns ... Die vollkommene Lesbarkeit der Szene, die Tatsache, daß es in Form gebracht ist, dispensiert uns davon, das Bild in seiner Ungewöhnlichkeit aufzunehmen."
Dagegen die Schockbilder im positiven Sinne:
"Das sowohl um seinen Gesang als auch um seine Erklärung gebrachte Natürliche dieser Aufnahme zwingt den Beschauer zu einer heftigen Frage, führt ihn auf den Weg zu einem Urteil, das er selbst erarbeitet, ohne dabei von der demiurgischen Anwesenheit des Photographen gestört zu werden."
(Und immer wieder die Dichotomie Kultur/Natur bzw. (falsche) Künstlichkeit/Natürlichkeit, die Inka ins Spiel brachte …)
Vielleicht ist das ja die Krux der sog. Autorenfotografie (sprich der künstlerischen Dokumentarfotografie): dass sie sich in jedem Fall von dem entfernen will, was an der Fotografie von Anfang an und immer wieder mal neu fasziniert hat: die automatische Aufzeichnung von Natur/Realität, die von keiner menschlichen Vermittlung gefiltert ist. Die Krux der Low-Tech-Liga ist wiederum, dass die verwackelte Kamera, der Filter der Unschärfe, das Grobkorn, ganz besonders 'filterförmig' und damit 'stilistisch' wirken …
Die Arbeiten in dem Ziegler-Katalog fallen wohl in die Kategorie der künstlerischen Dokumentarfotografie oder auch Foto-Fotografie. Um damit Christine zu antworten: Ich sehe durchaus da noch eine Differenz zwischen Künstlern, für die Fotografie ein Mittel unter anderen ist und denjenigen, die sich ausschließlich im Medium Fotografie bewegen. [>>]
Zieglers Kriterien sind weniger Dogma als Versuche, einen Stil, eine Schule auszumachen, ganz gemäß einem traditionellen Autorenbegriff. Was mich im Hinblick auf diese Richtung des Dokumentarischen als Frage beschäftigt, ist neben den Inhalten auch die nach ihrem Ort, ihrem Status. Der liegt irgendwo dazwischen – emanzipiert von Kontexten wie z.B. Zeitschriften ist sie auch nicht ganz im Kunstsystem aufgehoben. Eine Frage vielleicht an Inka? [>>]
Ich breche an dieser Stelle erstmal ab. Leider ist ein Netzgespräch doch kein Gespräch sondern eine monologisierende Angelegenheit, viele eher assoziative Gedanken werden schwerfällig, wenn man sie der Reihe nach formulieren muss.
Bis auf weiteres, Susanne
Thu, 14 Dec 2000
- Dokumentarisch
- Kunstdiskurs
- Tillmans
- R. Billingham
- Boris Mihailov
> Kathrin Peters
Ich begreife das Projekt von Ulf E. Ziegler als 'Marketingstrategie' für ein schmales 'Segment' dessen, was Fotografie heute ist, sein kann. Dem Segment, das 'abbildorientiert', narrativ opperiert, noch dazu in sehr spezifischen Verwertungszusammenhängen steht. Dies wird mit ästhetischen Kategorisierungen unterlegt (Hochformat, Farbe), die, in keinerlei wirkliche Brücke zu einem ästhetischen bzw. kontextreflexiven Diskurs darstellen. Das Projekt zur Fotobiennale Rotterdam 'here and now'7 kann man, bei aller Brüchigkeit, getrost als vorläufigen Versuch eines Gegenmodells lesen.
Mich interessiert viel eher eine Befragung der Möglichkeiten des Fotografischen hinsichtlich der Produktion dokumentarischer Potenzen. Das Dokumentarische 'an sich' gibt es m.E. nicht. Die Möglichkeiten der Verschiebung von Bedeutungszusammenhängen und die Einbindung in unterschiedliche Diskurse ist beim Film noch größer als bei der Fotografie. Beim Film kommt noch die Tonspur als Relativum dazu, weil sie bildparallel sprachliche Denken koordiniert. (Dazu gibt es die wunderbaren Videoarbeiten des Franzosen Pierre Bismuth, kaum zu übertreffen in Präzision und Poetik.)
Diese Variabilität, diese Kontextverschiebunden sind das, was mein persönliches Interesse an fotografischen Bildern immer wieder fesselt. Fotografie, die mich interessiert, ist zumeist solche, die, vermittelt über dieses Medium, den Akt des Sehens, den Vorgang visueller Wahrnehmung thematisiert und zu anderen Formen der Wahrnehmung des 'Realen', ins Verhältnis setzt - damit umumgänglich auch die Vielgestaltigkeit eben der möglichen Erfahrungen, Vorstellungen von Realität thematisiert.
Statusfragen, Fragen nach dem Ort dieser oder jener Art fotografischer Bilder, sind, da Du mich ansprichst, Susanne, aus meiner Sicht von Bedeutung. Ganz pragmatisch ist die Frage bedeutsam, in welchen Zusammenhängen Bildproduktion sich für den Produzenten so weit amortisiert, daß sie Weiterarbeit an den individuell bedeutsamen Projekten ermöglicht.
Die gegenwärtige Situation macht es nötig, dass nach Zwischenfeldern Ausschau gehalten wird. Im Kunstbetrieb funktionieren fotografische Projekte noch nicht ganz und in den Massenmedien nicht mehr.
Letztendlich ist wichtig, welche Schnittmengen fotografische Konzeptionen anbieten. Tillmans ist da ein Superbeispiel. Spannend ist die Frage nach den Erwartungshaltungen und gesellschaftlichen Bildbedürfnissen, die auf spezifische fotografische Konzeptionen reagieren; das klang in der Runde ja schon mehrmals an. Welche gesellschaftlichen, soziokulturellen Befindlichkeiten produzieren solche Bedürfnisse? Und wie sind diese Befindlichkeiten visuell kodiert?
Mehr als Billingham interessiert mich in diesem Zusammenhang die Mihailov-Rezeption, vor allem die der Case History. Mihailov bietet ja strategisch ganz gezielt immer sowohl den ästhetisch-medienreflexiven als auch einen sozial-ikonographischen Diskurs an, dem sehr oft mit der Frage nach der 'Moral' der Bilder, des Bildermachens geantwortet wird . Mihailov behandelt ja immer mit der Frage nach dem Status der medialen Bilder gegenüber dem sog. Realen. Übrigens, Susanne, ein Brückenschlag zu Riis: Mihailov versteht sich, so zumindest die häufige Selbstaussage, ja fast Selbstdefinition, als Fotoamateur. Dass gerade diese Arbeit, sowohl von Victor Tupitsyn im Text zum Hannoveraner Katalog Les Misérables als auch von Andreas Krase in der Kritik für die (inzwischen eingestellte) "neue bildende kunst", mit der psychologisierenden (Liebe zum Negativen, schwere Jugend etc.) Autoreninterpretation unterlegtwird, ist auffällig. Sie neutralisiert das mediendiskursive und auch soziokulturelle Angebot, das Case History unterbreitet. [>>]
Grüße an alle Inka
16.12.2000
- das Dokumentarische
- Kunstdiskurs
- Tillmans
- Bernd und Hilla Becher
- Autorschaft
- Authentizität
> Fabian Stech
Ich möchte mal eine Zusammenfassung des bisher geschriebenen versuchen. Folgende Punkte erscheinen mir wichtig zu sein:
1) Wie funktioniert das Dokumentarische?
Inka hat die aufschlussreiche Lexikon-Bedeutung recherchiert: "das zur Belehrung über eine Sache bzw. zu Erhellung einer Sache Dienliche". Christine hat dann ergänzt, dass der Begriff "dokumentarisch" erst 1879 in den Dictionaire Française (??) aufgenommen worden ist, parallel zum Begriff "Impressionismus" und zur Gründung der frz. Erkennungsdienste.
noch eine Ergänzung dazu von mir:
Am 1./2. Dezember habe ich eine Tagung in Frankfurt (Oder) besucht zu Bild, Transkription, Schrift, auf der Hubertus von Amelunxen zu "Geisterseher" vorgetragen hat. Darin ging es nochmal um die Mediengeschichte der Fotografie als Geisterwissenschaft. Als Instrument des Positivismus habe sich die Fotografie, so Amelunxen, an dessen Grenzen eingerichtet. Die Fotografie (wie andere Medientechniken) sei den modernen Naturwissenschaften ebenso verpflichtet wie dem Spiritualismus, sie stehe immer in dieser Ambivalenz. Angesichts von Medientechnologien, die beanspruchen, das alles, auch das Unsichtbare, sichtbar werden k a n n, scheint ein Begriff des Dokumentarischen erst notwendig zu werden.
2) Kunst, Kunstfotografie, Fotokunst
Das Beispiel für ein im ganz strengen Sinn dokumentarisches Projekt, das die Tradtionen der vermessenden und archivierenden Fotografie weiterführt, ist in unserer Diskussion schon einige Male gefallen: die Bechers.
Ich meinte, dass die Bechers trotz oder eben gerade wegen ihrer unkünstlerischen Ambitionen als Künstler (und nicht als Dokumentaristen oder Fotografen) wahrgenommen wurden. Wenn ich dich richtig verstanden habe, entspricht das auch ungefähr deiner Einschätzung, Susanne. Immerhin bekamen die Bechers 19… (?) meines Wissens einen Preis für Skulptur (nicht Fotografie) und wurden demgegenüber innerhalb der Gemeinde der Foto-Fotografen (die ich als Autoren klassifiziern würde) lange als unterkühlte, unengagierte Ingenieure eingestuft. [>>]
Das zweite Beispiel, das mich aus aktuellem Anlass noch mal interessiert, ist Wolfgang Tillmans, der ja nun auch keinen Fotopreis, sondern einen Kunstpreis bekommen hat, der noch dazu nach einem (prä-impressionistischen) Maler benannt ist. Heißt das also, dass die Fotografie in der Kunst angekommen ist, oder dass sie immer noch nicht als eigenständige Kunstform (im Sinne einer "Fotografie als Fotografie"-Bewegung) anerkannt ist? Oder, dass hier ein Medium historisch geworden ist und deswegen in die Musealisierung abwandert ?
Christine hat angesichts dessen danach gefragt, ob die Unterscheidung zwischen Fotografen-Fotos und Künstler-Fotos sinnvoll ist, weil Tillmans immer wieder in erstere Sparte einsortiert wird. Auch Maren hatte vorher schon mal bemerkt, dass sie diese Unterscheidung irgendwie "europäisch" finde und allein der Präsentations- und Rezeptionszusammenhang entscheide. Tillmanns verstehe sich als Künstler, werde daher als solcher wahrgenommen. Auch ich meine, dass die Unterscheidung zwischen Fotografen-Fotos und Künstler-Fotos gerade vor dem Hintergrund der verschiedenen Betriebssysteme und Vereinnahmungen bedeutsam bleibt. (Ein Beispiel für die Wirkungsmacht der Fotografen-Fotografie finde ich immer noch die Initiative Centrum für Photographie in Berlin, schon die Debatte um die Schreibweise markiert da ja eine Differenz.)
Sind also die Fotografen, die nicht angewandt arbeiten (als Werbe-, Mode- oder sonstwas Fotografen), aber sich auch ausserhalb des Kunstkontextes befinden Autorenfotografen? In Ablösung des Begriffs der Kunstfotografie um 1900, die die Fotografie in ihrer eigenen Kunsthaftigkeit der bildenden Kunst zur Seite stellen, diese übertreffen wollte? Mit dem Aus der meisten illustrierten Beilagen (FAZ, Zeit-Magazin, Tempo in den 80er usw.) verschwindet tatsächlich der Ort für diese Art essayistischer Fotografie, um so mehr scheinen sich Kuratoren um sie kümmern zu müssen.
Inka hat auf die Entwicklung des Begriffs documentary hingewiesen, der von R. Flaherty in den 20er Jahren in Abgrenzung zum Hollywoodfilm formuliert worden sei. Auch der Auteurbegriffs der frz. Filmemacher um die cahiers du cinema in den 50er Jahren erfolgt in Abgrenzung zu Hollywood.
Mir hat Susannes nonchalante Gleichsetzung Autorenfotografie= künstlerische Dokumentation gefallen.
4) Versuchsanordnungen des Authentischen
Es erscheint notwendig diesen Bereich der engagierten, künstlerischen Dokumentation von dem Bereich zu unterscheiden, den ich als Versuchsanordnung bezeichnet habe. Die Lomografen gehören neben Big Brother und Dogma usw. sicher auch dazu: Ein Setting, eine Regelwerk wird entworfen, in dem sich dann Realität ereignen soll (die Regel, die Regeln zu unterlaufen gehört bei Dogma übrigens auch dazu, ebenso wie die ambivalente Ausstreichung des Autoren).
Meine Vermutung ist, dass sich diese Zuschreibung gerade in dem Moment (wieder) ereignet, wo digitales Imaging die Glaubwürdigkeit der fotografischen/filmischen Bildoberfläche in Frage stellen. Das low-tech dieser Anordnung scheint die Apparatur ganz nackt, in seiner, so scheint es, wahren Natur, vorzuführen. Und so ist die Aversion gegen Spezialeffekte auch ein Plädoyer für ein "natürlich" auftretendes Medium.
Viele Grüße von Kathrin
17.12.2000
- das Dokumentarische
- Bernd und Hilla Becher
- Nan Goldin
- Autorenfotografie
> Maren Polte
Bonjour,
Was ist euer Erkenntnisinteresse am Wort (Konzept?) des Dokumentarischen? Bis jetzt habe ich das Gefühl er wird zum Gegenbegriff, als Waffe gegen Hollywood gerichtet. Er enthält über die Wörterbuchdefinition nicht nur die Lichtmetaphorik, sondern den Begriff der Belehrung.
Obendrein stehen die Bechers für Dokumentarfotografie und die Durchdringung der Kunstszene durch nicht avantgardistische d.h. dokumentarische - authentische Kunst. Die Bechers haben 1990 den Preis für Skulptur erhalten. Auch wenn beide vielleicht ihr Projekt immer unter dokumentarischen Gesichtspunkten vertreten, man kann es durchaus anders lesen nämlich als konzeptuelle Kunst. Beide haben in Düsseldorf an der Kunsthochschule unterrichtet jetzt ist Thomas Ruff ihr Nachfolger. Der hat neulich auf einer Konferenz gut beschrieben in welchem Kontext er seine Bilder versteht. Er hat gesagt, er habe an einer Kunsthochschule studiert und sei mit Künstlern zusammen gewesen und deshalb mache er Kunst, oder so ähnlich. Fand ich einleuchtend.[>>]
Es ist kurz gesagt worden, das Fotos auch politisch sanktioniert werden. Sie werden ausgewählt zum Zwecke einer bestimmten Darstellung. Ich glaube Kathrin hat gesagt, der Bundesrepublik ginge es um eine kritische Selbstdarstellung. Man kann sicher da auch eine sehr viel negativere Interpretation vorlegen, nämlich das hier Voyeurismus für die Mittelklasse produziert wird, die sich am Elend weidet, ein bisschen weint, ergriffen ist von dem, was sie so noch nie gesehen hat, gezeigt von wirklichen Freunden mit Empathie für die vorgeführten Subjekte z. B. Nan Goldin. Das Verdrängte, das wovor man Angst hat, kehrt hier in einer beruhigenden, rezipierbaren Form wieder. Formal braucht man oftmals nur die Titel auszutauschen, um die Wirkung umzukehren. Ein Grund warum eine bestimmte fotografische Dokumentarästhetik in amerikanischen Filmen benutzt wird, um eine völlig andere ideologische Richtung zu unterstützen. Besonders ist mir das bei dem über den Golfkrieg aufgefallen "Kings of the Desert" oder so ähnlich bei dem dieser schmierige Schauspieler mitspielt wie heißt er doch gleich...(George Cloony)
Hier in Frankreich ist gerade eine neue Zeitschrift erschienen "pour voir" die viel solche dokumentarischen Fotos bringt z. B. von Flore Ael Surun einer jungen Fotografin und Hien Lam Duc beide haben in Rumänien beeindruckende Fotos von Straßenkindern, und Kindern die in den Abwässerkanälen der Stadt wohnen, gemacht. Wem's gefällt...
Jetzt noch mal zu deiner Frage über Autorenfotografie und auf die Gefahr hin das ich wiederhole was Ihr schon gesagt habt: Das Zurückstehen hinter dem 'objektiven' Aufzeichnungsmittel Kamera ist natürlich eine Entscheidung, die das Bild in seiner Form und Aussage prägt. Man gibt vor, das zu fotografieren, was man gesehen hat, sagt übrigens auch Helmut Newton in seiner Ausstellung von sich und unterstreicht, das er nichts computertechnisch verändert hat. Das bedeutet man gibt dem Bild einen dokumentarischen Charakter. Gleichzeitig prägt man sich als Autor als jemanden der hinter sein Bild zurücktritt – der nichts zu seinem Bild zu sagen hat – das Bild spricht für sich selbst. Diese Einstellung zur Kamera ist extrem mächtig, oder puissant, denn sie scheint der Fotografie in ihrer Funktionsweise zu entsprechen. Es handelt sich jedoch, um nichts anderes als eine Konvention. Ich beziehe jetzt mal diese Stellung, ich weiß nicht ob es wirklich so ist....
1.Der erste Grund dafür ist, das Realität, und ein Dokument bezieht sich immer auf das, was wir gemeinhin Realität nennen. Realität ist an sich nicht erkennbar. Erkannt wird Realität durch etwas. Dieses 'Durch-Etwas' verändert oder, darüber gehen die Meinungen auseinander, schöpft Realität.
2. Der zweite Grund ist, das es keine wirklichen Parameter für naturgetreue Abbildung von Realität gibt, also für eine einzig wahre Form der Abbildung. Gombrich hat mal angenommnen, das wäre so und zwar auf der Grundlage der Theorie von J.J. Gibson, aber Goodman hat das meiner Meinung nach gut wiederlegt. Das Beispiel war die Perspektive als adäquate Form der Abbildung.
3. Der dritte Grund ist, das Barthes´ Ça a été – das seine Kraft ja auch aus einer Form der Fotografie zieht, nennen wir es einen sensiblen Realismus oder Dokumentarismus, den Barthes bevorzugt –, das "Das-ist-gewesen", also der Zeugnischarakter der Fotografie, der ihre Macht ist, lässt sich auch lesen als eine Ausgrenzung des Möglichen. Das, was die Fotografie zeigt, ist notwendig wirklich und begrenzt damit die unendlichen Möglichkeiten. Was aber eigentlich zentrales Anliegen der Fotografie sein müsste, ist eben das Zeigen der unendlichen Möglichkeiten. Deshalb ist Fotografie immer ein negatives Bild, ein Bild der Begrenzung und das macht ihren melancholischen Charakter aus. [>>]
Schöne Grüße aus Frankreich, wo es derzeit ausgiebig regnet.
Fabian
Fri, 22 Dec 2000
- Andreas Gursky
- Becher
> Kathrin Peters
Vielleicht beginne ich mit einer Reaktion auf Fabian, dessen Setzung: dass der Fotograf hinter seiner Kamera zurücksteht und diese als "objektives technisches Medium" die Welt in ihrer "tatsächlichen Erscheinung" – was auch immer das ist – aufnimmt, sei eine Konvention mir gut gefallen hat. Ich finde, dass diese Behauptung dazu führen könnte, das Verhältnis der Ebenen Fotograf/Technik/Motiv differenziert zu betrachten. Diese Betrachtung könnte uns dann auch helfen, uns darüber zu verständigen, über welches "Dokumentarische" wir hier sprechen. Das Foto, den Transfer von der dritten in die zweite Dimension, das Verhältnis von Dagewesenem und Abgebildetem? Ich glaube, dass wir uns auch erst dann den Fragen nach Inhalt, Ort und Status des Dokumentarischen widmen können, die Susanne interessieren.
Leider kann ich den Begründungen Fabians nicht mehr folgen, denn schon beim ersten Grund sprichst Du von Realität, dann von Dokument und es ist mir nicht klar, ob Du bei dem Dokument von einer vermittelten Realität oder von der Realität des Dokuments ausgehst. Dem Folgenden kann ich nur Zustimmen, denn genau darin besteht die Konvention, daß man sich auf eine bestimmte, gesellschaftlich wahrgenommene Realität einigt und Fotografien diese, sich im Laufe der Zeit ändernden Setzungen widerspiegeln. Dem dritten Grund kann ich nur wiedersprechen. Das, was die Fotografie zeigt, ist notwendig ein subjektiver Ausschnitt und begrenzt nur so viel, wie sie gleichzeitig eröffnet.
Ich glaube auch, daß man nicht von einem "zentralen Anliegen der Fotografie" sprechen kann, geschweige denn es definieren. Vielmehr sollte man wieder anfangen, es als Bild zu verstehen – und damit eben in seinen "unendlichen Möglichkeiten", die nicht die Fotografie negiert, sondern der Betrachter, der sie auf ein Stückchen Realität reduziert oder von einem Ende der fotografischen Kraft oder gar einem Ende der Fotografie spricht. Ich halte nichts von irgendwelchen postulierten Enden, denn der Blick zurück belegt immer wieder, daß allein das postulierte Ende von temporärer Dauer ist, die Phänomene dagegen wiederkehren.
Also: Das Foto vom deutschen Bundestag von Andreas Gursky (das Bild ist hier zu sehen) ist kein im herkömmlichen Sinne verstandenes Dokumentarfoto. Es ist montiert aus Fotografien dreier unterschiedlicher Plenarsitzungen. Weder ist die exakte Einheitlichkeit des Ortes noch der Zeit gegeben. Aber es dokumentiert weit besser als alle anderen Fotografien des Saales/der Sitzungen Ort und Geschehen. Und zwar zeitlos, denn es reflektiert auf den Zusammenhang von Architektur, Nutzung und gesellschaftliche Funktion und Wahrnehmung. Ist es ein Kunstfoto mit dokumentarischem Charakter, der sich aus dem o.g. Kriterien in Verbindung mit dem Indexikalischen gegeben ist?
Kann man es als Autorenfotografie im Sinne Susannes "künstlerischer Dokumentarfotografie" verstehen – oder greift nichts dergleichen, warum? [>>]
Zu Kathrins Vermutung, daß Bechers trotz/wegen ihrer unkünstlerischen Ambitionen als Künstler wahrgenommen wurden, ist zu sagen, daß sie ja in die Zeit der Spurensicherung fallen, ihre Arbeitsweise also vielzählige Vergleiche findet. Als Künstler wurden sie jedoch erst mit ihren Typologien anerkannt. Gut ist diese Entwicklung in ihren Publikationen festgehalten.Waren die ersten noch einzelnen Betrieben, ihrer Funktionsweise und einer fotografischen "Dokumentation" (ich trau mich schon gar nicht mehr, daß Wort ohne "" zu verwenden) gewidmet (Zeche Zollern z.B.), sind alle folgenden Schirmer&Mosel Kataloge typologische Reihen einzelner Bausolitäre ohne Zusammenhang, ohne Erklärung. Hier zählt in dem Einzelbild die fotografische Wandlung von Architektur in Skulptur und natürlich die Reihung der Bilder auf der Wand, die sie zur Skulptur werden lassen; daher der Preis für Skulptur.
Das fotografische Produktion im Kunstbetrieb nur dann ernst genommen wird, wenn sie sich außerhalb des kunstinternen Avantgardismusstrebens befindet, scheint mir ein 1. eine europäische Annahme zu sein, die ich 2. für veraltet halte. Kunsthistorisch gesehen ist da etwas dran, vor allem wenn man sich die Rezeption von Blossfeldt und Konsorten ansieht.
Schöne Feiertage, Maren
6.1.2001
- A. Gursky
- das Authentische
- Beweis
- Roland Barthes
- Punctum
> Christine Karallus
Alles Gute zum neuen Jahr! Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Weihnachts- und Neujahrspause.
Ich weiss nicht genau, wie es euch geht, ich hatte bei den letzten Beitraegen das Gefuehl, dass alles inhaltlich ein bisschen ausfranst, weil so viele Begriffe und Themen im Umlauf sind. Ich moechte daher vorschlagen, eine letzte Runde zu machen. [>>]
Mir erscheint nach unserem Netzgespräch die Unterscheidung zwischen Dokumentation und Authentizität wichtig zu sein. Dokumentation könnte als ein Stil, ein Genre zu verstehen sein. So verstehe ich auch dein Beispiel, Maren, des Bundestagsfotos von Andreas Gursky: Dokumentation fragt nicht nach der Art der Herstellung (wie wahrhaftig, d.h nicht-inszeniert, montiert usw). Es ist seine Lektuere als Bündelung und Illustration eines Wahrheitsbegriffs, die es zum dokumentarische Bild macht. [>>]
Mich interessiert noch immer die Frage nach dem Authentischen oder dem Realitätseffekt. Denn sicherlich ist ein gewisses -–wenn auch noch so beschränktes und übersetzungswürdiges – Potential des fotografischen Bildes vorhanden, Sichtbares aufzuzeichnen und zu speichern.
In diesem Zusammenhang verstehe ich den Satz, dass das fotografische Bild die Realtität, die es er-zeugt,auch be-zeugen muss (Amelunxen). Sie muss als Beweis dafür antreten, dass es das gibt, was es ohne das fotografische Bild gar nicht zu sehen gab (hier ist besonders die wissenschaftliche Verwendung im 19. Jahrhundert gemeint: Roentgenografie, Spektrografie, auch die Sermessungsfotografien usw.). Zugespitzt und ganz thesenhaft formuliert, hat die Fotografie qua dieses Beweismittelpotentials, das zumindest im 19. Jahrhundert durch kein anderes Medium falsifizierbar war, einen Realitaetseffekt produziert, der ihr immer noch wie ein Erbe anhaftet. [>>]
Realitätseffekt (siehe Text von Roland Barthes in dieser Ausgabe) meint hier, dass ein Text, ein Bild punktuell den Eindruck von Wirklichkeit, Realität – oder vielleicht müsste man zutreffender sagen: des Realen – hervorruft. Dieser Effekt des Realen ist, so verstehe ich es bei Barthes, historisch veränderbar. und so kann man davon ausgehen, dass das fotografische Bild h e u t e nicht mehr das exklusive Medium des Realtitätseffekts ist.
Zuletzt möchte ich das Gespräch noch mal auf Barthes’ Begriff des Punctum bringen, der ja schon einige Male auftauchte. Wie kann das Punctum, das ja einer Lektürepraxis widersteht und als Erfahrung beschreibbar ist, mit dem Begriff des Authentischen, des Realtitätseffekts (den Barthes am realistischen Roman Flauberts entwickelt) in Verbindung gebracht werden? (Abgesehen davon, dass alle Bilder in der hellen Kammer Autorenfotografie sind…) Ganz am Anfang hast du gemeint, Fabian, dass die Bilder der Bechers kein Punctum mehr hätten. Ist das Punctum denn an bestimmte Bildtypen gebunden, oder meinst du, es sei heute in Fotografien nicht mehr zu finden? [>>]
26 Jan 2001
- das Dokumentarische
- Tatortfotografie, Empirie
- Blossfeldt
- Punctum
> Fabian Stech
"[I]nhaltlich ein bisschen ausfranst" sei die Diskussion, schreibt Kathrin in ihrem letzten Beitrag. Was heißt das eigentlich? Diese "Ausfransung" des Gesprächs, die auch bei mir zeitweise zu einer Verwirrung geführt hat, demonstriert eigentlich nur den Versuch, das Begriffsrepertoire das ins Spiel gekommen ist, wie "Dokumentarisches, Authentisches, Sozialdokumentarisches, die Kunstfotografie, Fotokunst usw." bzw. die Bezüge zu den anderen Disziplinen, wie der Philosophie, den Film- oder den Geschichtswissenschaften, zu fassen und zu strukturieren. Diese Suche nach Ordnungskategorien zwischen denen sich eine Gemeinsamkeit ausmachen läßt, scheint das Gespräch davor zu bewahren, bodenlos zu werden bzw. auszufransen. Diese Verfransung gilt es in der Regel zu vermeiden, evoziert sie doch ein unangenehmes Gefühl, so zumindest geht es mir. Auf der anderen Seite erscheint mir dieser dezentrierte Zugang zum Medium nicht unangemessen, in gewisser Weise sogar typisch für die Fotografie und ihre Diskurse. Denn beschäftigt man sich einmal mit dem Medium, gerät man meistens rasch in ein interdisziplinäres Gefüge; überall scheint die Fotografie 'mitzumischen', sei es bei den Juristen, den Archäologen, den Theaterwissenschaftlern, den Medizinern usw. Ihre Präsenz in den verschiedenen Disziplinen läßt sich nicht leugnen, gleichzeitig aber, ist sie im Spektrum der einzelnen Fachbereiche und Fakultäten nur schwer zu verorten. Hierin liegt jedoch nicht nur ein Dilemma, sondern auch ein produktiver Aspekt, ermöglicht doch das Medium – als theoretisches Objekt begriffen – die Neuvermessung tradierter Gegenstandsbereiche in ihrer epistemologischen und medienhistorischen Perspektive.[>>]
In diesem Sinne signalisiert der in unserem Gespräch mehrfach genommene Bezug auf andere Bereiche/Disziplinen für mich im Grunde eine gewohnte Situation. Und auch wenn es scheint, daß viele "Themen im Umlauf sind", verdeutlichen die genannten Aspekte, – deren Gegenstände zu analysieren es wohl mehr als ein Netzgespräch bedurft hätte –, was in der Rede von "der Dokumentarfotografie" mitschwingt bzw. was deren Infragestellung evoziert. Tendenziell schien sich für mich der despotische Begriff "Dokumentarfotografie" und seine Formalisierungen aufzulösen und zur Geltung wurde das Willkürliche und Konventionelle jeder Grenzziehung gebracht. Zumindest wurde es angesprochen, wie in der Frage von Maren, ob nicht die Rezeption Blossfeldts‘ ein Bild zum Kunstwerk werden läßt oder mit der Frage nach den Differenzen von Dogma/Dokumentarfilm, sowie in Fabians grundsätzlicher Feststellung, daß jede Betrachtung von Bildern konventionalisiert ist. Was das Gespräch gezeigt hat, daß eine Positionierung von Fotografie/Dokument auf der einen Seite durch die Erstellung einer Art von Register versucht wird, dessen Kategorien vorgeben, was diese Bildform einschließt bzw. ausschließt, und am anderen Ende steht ein eher diskursanalytisches Verständnis, das die Legitimität von Bildformen im diskursiven und institutionellen Kontext verortet. Das sind nun methodische Fragestellungen, aber ein Versuch zu begreifen, wie sich ein Wissen zum/über das Medium herstellt.
In ihrem letzten Beitrag schlägt Kathrin vor, Dokumentarismus als Stil bzw. Genre zu verstehen. Die Lektüre solcher Bilder, die so etwas wie die "Summe eines Wahrheitsbegriffs" ist (habe ich nicht so recht verstanden), läßt dann das Bild zum Dokument werden. Heißt das, dass das fotografische Bild kulturell determiniert ist und seinem Wesen nach unschuldig, realistisch? Ohne die Frage beantworten zu wollen, hat mich die Definition zu einer weiteren Überlegung bzw. Frage geführt. Kann man denn nun, vor dem Hintergrund dieser Definition, dann in Bezug auf die erkennungsdienstliche Tatortfotografie8 von einem Stil bzw. einem Genre sprechen? Erscheint mir schwierig, denn Stil impliziert für mich stets, daß es einen "Autor"/Fotografen gibt, der den Akt des Fotografierens subjektiv individuell gestaltet und der in der Regel als Eigentümer dieser Bildes gilt, zumindest das Copyright besitzt. Im Falle der Tatortfotografie ist das ja bekanntlich nicht so. Der Tatortfotograf ist sicher derjenige, dem man die Entstehung des Bildes zuschreiben kann. Im Kontext der Kriminalistik und Justiz gilt er jedoch als der Vermittler einer empirischen Wirklichkeit, aber nicht als jemand der einen Stil konstituiert. Als "Stil" könnte man die Regeln bezeichnen nach denen der Tatort aufzunehmen ist und diese hat der Tatortfotograf einzuhalten, zu beherrschen und auszuführen, sonst kann das Bild nicht als Beweisstück fungieren, doch ‘Autor‘ ist er meines Erachtens im o.g. Sinne nicht. [>>]
Ja, und zum Barthschen punctum? Die metonymische punctum-Erfahrung, – die ein "Mehr an Sichtbarem" liefert, die "Sache selbst" erfahrbar macht, ("mit jeder Faser meines Leibs" so berichtet Barthes!), beruht ja auf einer der Fotografie zugeschriebenen substantiellen Besonderheit, die sich in ihrem indexikalischen Zeichenstatus begründet. Im Peirceschen Sinne bedeutet dies, daß sich das fotografische Bild nicht durch seinen Ähnlichkeitsbezug zu dem abgebildeten Objekt definiert, sondern durch den unmittelbar konkreten Verweis auf das betreffende singuläre Objekt. Fotografie ist Spur des Realen, es repräsentiert, was abwesend ist und wird damit nicht als etwas Gedachtes, Konstruiertes verstanden. Zu diesem Bedürfnis der Begründung eines ontologischen Realismus des Bildes, seinem Status als Abdruck der Wirklichkeit, hat Gertrud Koch im Kunstforum International einmal geschrieben, daß "in dem technischen ingenium des Apparates die romantische Idee bereit[liegt], ein rettendes Verhältnis zur Physis und damit auch zur Sterblichkeit des Menschen einnehmen zu können." Ich glaube, da hat sie recht. [>>]
Grüsse von Christine.
04 Feb 2001
- das Dokumentarische
- Roland Barthes
- Walter Benjamin
- das Authentische
> Susanne Holschbach
Bon soir,
Ich fand die Diskussion nicht ausgefranster als andere auch. Eigentlich bin ich der Meinung, das wir die Fotografie viel zu sehr eingeengt haben und zwar durch das Wort des Dokumentarischen, welches das "dokumentarische" an der Fotografie, nämlich ihren spezifischen Realitätsbezug, ungenügend benennt.
Wenn ich den Text von Barthes, den ihr übersetzt habt, richtig verstanden habe, dann ging es ihm um das Realismusproblem, das er vor allem auf Literatur bezieht. Es seinen Anfang in Literatur, Philosophie und Malerei, und er überträgt es ganz nebenbei auf die Fotografie. Er geht aus von der Frage, was wohl der Sinn naturalistischer Detailbeschreibungen sein könnte. Er nimmt dieses Problem als ein semiotisches auf, obwohl es historisch eher in den Rahmen der Realismusdebatte bei Lukács gehört. In Abgrenzung gegen den Formalismus der Avantgarde und den Naturalismus, der zu Detailversessen ist versucht Lukács einen Realismus zu etablieren der Verständlichkeit, politische Praxis und Rücksicht auf die historische Situation proklamiert. Kunst hat Realität zu reflektieren, auch wenn es nicht um eine detailgetreu fotografische Abbildung geht. Lukács ist auch derjenige dem der Begriff der Authentizität und Unauthentizität häufig in die Feder kommt.
Benjamin, ein anderer marxistischer Kunsttheoretiker, liquidiert den Begriff der Authentizität, auch wenn er ihn ab und an wie ein Gespenst wiederauferstehen lässt. Das Interessante ist nun, das Benjamin gerade diese Liquidierung als zentraler Punkt seiner Definition der Funktion der Fotografie gilt. Natürlich nennt er es nicht Authentizität, sondern Aura. Denn was ist Aura anderes als die Echtheit eines Kunstwerks, seine Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit.
Es ist der Zerstörung der Aura und der Authentizität des Kunstwerks durch die reproduzierenden Medien, die eine neue Wahrnehmung einleitet, die von der Zerstreuung geprägt ist und eben diese Abkopplung vom Unikat und seiner Kontemplation bergen für Benjamin den eschatologischen oder wenn man will, utopischen Gehalt der Fotografie und des Films. Das Gespenst des Authentischen in der Fotografie wiederzubeleben halte ich für puren Anachronismus in Zeitalter des Internets.
Ich unterscheide Fotografie am liebsten in gute und schlechte Fotografie. Gute Fotografie öffnet den Raum der Interpretation ohne politische und ideologische Propaganda. Sie lehrt uns Sehen, ohne uns mit ihrem dokumentarischen Gehalt zu überrollen. Und sie bezieht ihre Kraft nicht a p r i o r i aus formalen Spielereien, wie einer wackelnden Kamera die Wirklichkeit vortäuscht. Was nicht heißt, dass eine wackelnde Kamera nicht gute Bilder erzeugen kann, ebenso wie politische und ideologische Propaganda gute Fotografie sein kann und es natürlich massenweise hervorragende Dokumentarfotografie gibt, nur zum Programm sollte man das alles nicht erheben.
Das nächste Mal sollten wir vielleicht über eine Webcam in Echtzeit diskutieren geht über ICQ ja alles schon und als Unterlage Bilder mailen, was mich vielleicht vom abschweifen abhielte.
Schöne Güße
Fabian
17 Feb 2001
- das Dokumentarische
- Tatortfotografie
- Punctum
- Allan Sekula
- Gursky
- Wehrmachtsausstellung
- Mihailov
- Detail
Christines Beitrag, der die lange Sendepause dankenswerterweise durchbrochen hat, fand ich sehr instruktiv: der Überlegung dass das, was man als ein "Ausfransen" wahrnehmen kann, der "dezentrierte Zugang zum Medium", etwas mit der Sache selbst zu tun hat. Dass das "interdisziplinäre Gefüge", in das man in der Auseinandersetzung mit der Fotografie als Phänomen und theoretischem Gegenstand zwangsläufig gerät, durchaus als produktiv anzusehen ist, möchte ich ohne weiteres zustimmen.
Womit ich eher Probleme habe bzw. hatte ist, dass vieles von dem, was man beispielsweise "gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie" (um Reinhard Matz zu zitieren, den Inka auch schon erwähnt hat) einwenden kann, inzwischen zur Binsenweisheit geworden ist. Zur Erläuterung: Ich hatte vor einiger Zeit einen Beitrag für das Gespräch angefangen, mit dem ich an Marens Statement "das postulierte Ende ist von temporärer Dauer, die Phänomene dagegen kehren wieder" anschliessen wollte und geschrieben hatte: "Eine Schwierigkeit unserer Diskussion scheint mir zu sein, dass wir allemal nicht die ersten sind, die die Begriffe des Dokumentarischen und Authentischen dekonstruieren – sprich die ganzen Argumente einer diesbezüglichen Kritik, sei es zur Rezeption sozialdokumentarischer Fotografie, zur Kontextabhängigkeit "authentischer" weil rein technischer Überwachungskamerabilder, zur rhetorischen Funktion der "Autorlosigkeit" usw. liegen seit den 70er und 80er bei Rosler, Sekula, Solomon-Godeau et al.… vor (und man rennt ja nicht gerne offene Türen ein). Andererseits tauchen bestimmte Bilder, bestimmte Strategien und auch eine entsprechende Rezeption immer wieder auf, wenn auch verändert, verschoben. Und auch die eigene Praxis (des Schreibens und des Unterrichtens) und nicht zuletzt dieses Netzgespräch (!) hat mir gezeigt, dass man nicht drumherum kommt, bestimmte Begriffe immer wieder zu definieren und an den Phänomenen zu überprüfen bzw. zu versuchen, bestimmte Phänomene mit Begriffen in Relation zu setzen und sich darüber zu verständigen. Dieses "immer wieder" ist dann ja vielleicht bereits Dekonstruktion … In diesem Sinne sehe ich die letzte Runde als ein weiterere Gelegenheit, dies zu tun.
Was Christine am Beispiel der Tatortfotografie problematisiert, würde ich so sehen: Die erkennungsdienstliche Tatortfotografie gehört für mich eindeutig in das Register "Fotografie als Dokument" und nicht -– wie ja auch Christine bezweifelt – in das der dokumentarischen bzw. Dokumentarfotografie. Auf der Grundlage, dass sie bestimmte visuelle Informationen speichern kann (was die Fotografie ja fraglos tut), fungiert die Fotografie in einem bestimmten instituionellen Kontext als ein Hilfsmittel unter anderen. Die Aufnahmeparameter stellen keinen Stil dar, sondern entwicklen sich aus der jeweiligen Zweckbestimmung.
Unbenommen davon können sie natürlich transportiert in einen anderen Kontext als Stil wahrgenommen und konzeptionell verwendet werden ... Dass Bilder falsch übeschriftet bzw. zugeordnet werden, wie z.B. bei der Wehrmachstausstellung, man genau dass aber durch genaueres Hinsehen und Vergleichen herausfinden kann, spricht eher für den potentiellen Dokumentationswert von Fotografien als dagegen. Dieser wiederum erstreckt sich auch auf Bilder, die nicht gezielt als Dokumente im Sinne eines Hilfsmittels angefertigt wurden: So kann ich durchaus Straßenfotografien von ausgewiesenen Autorenfotografen wie Winogrand, Evans, Frank u.a. als historische Quelle benutzen. Dekonstruktionsbedürftig sind im Fall von "Fotografie als Dokument" die Zuschreibungspraktiken und Diskurse.
Bei der Definition von Dokumentarfotografie gehe ich zunächst von der fotohistorischen Konvention aus: sprich Dokumentarfotografie als eigenständiges Genre (die Emanzipation von ihrer rein dienenden Funktion als Dokument sozusagen) – nimmt ihren Ausgang in den 20er/30er Jahren mit den ersten Fotoessays und - reportagen in illustrierten Zeitschriften, also der Versuch, ein bestimmtes Thema in einer Serie von Bildern, meist kombiniert mit Texten darzustellen. Eine entsprechende Definition von Mac Orlan aus dieser Zeit lautet:
"Es gibt Plastikphotographie [würde ich übersetzen als "skulptural","formalistisch" und denke dabei an den Katalog Skulpturen und Fragmente,9 wo das Zitat wahrscheinlich auch drin steht] und Dokumentarphotographie. Diese zweite Kategorie ist ihrem Wesen nach literarisch, denn sie ist nichts Geringeres als eine Aufzeichnung zeitgenössischen Lebens, festgehalten im richtigen Moment von einem Künstler, der dazu befähigt ist, genau diesen Moment festzuhalten."
Entspricht das nicht dem Segment der Fotografie, von dem Inka als "abbildorientiert und narrativ" spricht, um zur Gegenwart und nochmal zum Ausgangsbeispiel unserer Diskussion zurückzukommen!? Abgesehen von "dem Wesen nach literarisch" (also eher Buch als White Cube) finde ich die Formulierung "Aufzeichnung des zeitgenössischen Lebens" ganz brauchbar, jedenfalls brauchbarer als "die Realität": Dokumentarfotografie bezieht sich auf etwas, das bereits als 'zeitgenössisch' oder als Zeitgeschehen diskursiviert ist (in Richtung von Marens "gesellschaftlich wahrgenommener Realität"?). So funktionieren Arbeiten wie die von Eva Leitolf (Stichwort: Solingen) und Wolfgang Bellwinkel (Stichwort: Bosnien) in Bezug auf bereits sedimentierte, von den gängigen Medien (Zeitung, Fernsehen) vermittelte bzw. über sie konstituierte (Vorstellungs)bilder von Ereignissen. Man kann sie als Kommentare lesen, die andere Perspektiven auf einen bestehenden Diskurs zu eröffnen und insofern dazu beitragen können, diesen zu differenzieren. In diesem Sinne erfüllen die Arbeiten für mich den Begriff Dokumentarfotografie. Oder sie werden direkt in diskursive Kommentare eingebunden wie bei Allan Sekulas Fish Story (1995), wo ich die Bilder als Bilder sehen kann, sie über die getrennt gedruckten Legenden verorten, aber auch in einen Zusammenhang mit Sekulas Texten bringen kann.
Auf keinen Fall ist der Begriff "Dokumentarfotografie" deckungsgleich mit "direkter Fotografie" als Verfahresweise: der referentielle Bezug allein kann es nicht sein. Von Zieglers Versuch, gemeinsame Merkmale der vorgeblich "neuen Dokumentarfotografie" aufzuzählen, ist für mich das der Serie [Stichwort: Narration] als einziges von wirklicher Relevanz – auf symbolisch verdichtete Einzelbilder zielenden Arbeiten wie die von Gursky (das Beispiel Bundestag war genannt) würde ich nicht als dokumentarisch begreifen -– da geht es doch eher um Realismus und Fotografie in der Funktion von Malerei (d.h. hierzu fällt mir die Jeff Wall’sche Übertragung des Topos "Maler des modernen Lebens" auf die Fotografie ein10).
Letztlich läßt sich aber so wenig, was mir als 'Wirklichkeitsbezug' an der zeitgenössischen Fotografie interessant erscheint, unter dem Begriff Dokumentarfotografie subsumieren: Er ist zu eng, wenn man ihn fotohistorisch ableitet und auf eine bestimmte Form von Autorenfotografie bezieht, oder er wird völlig beliebig, wenn man ihn mit der Abbildhaftigkeit von Fotografie gleichsetzt. Seinen Gebrauchswert als Begriff finde ich also eher gering. Was für mich allerdings nicht heisst, das ich – wie Fabian – nur noch zwischen "guten" und "schlechten" Fotografien unterscheiden möchte!
Und wo bleibt dabei das Punctum? Das Punctum ist bei Barthes ja eine Kategorie der Rezeption und haftet nicht dem Bild an sich an: Es ist dass, was mich als Subjekt betrifft (und möglicherweise nur mich und niemand anderen). Jedenfalls hat es nichts mit dem Dokumentarischen zu tun, eher mit der Dimension des Realen – als etwas Beunruhigendem, Traumatischen, aus dem Rahmen des Wirklichkeitskonsenses fallendes.
Etwas davon verspüre ich bei den Fotografien der Case History von Mihailov, dessen Arbeiten bereits Inka besonders hervorgehoben hat. Das interessante an diesen Arbeiten ist aber gerade die sichtbare Inszenierung, das sichtbar werdende Eingreifen des Fotografen, der sich sogar manchmal selbst ins Bild setzt. Dadurch, dass er die Obdachlose und andere Ausgegrenzte wie Modelle posieren läßt, bricht er mit dem Konsens der humanitären Opferfotografie: er stellt deren Doppelmoral bloß, konfrontiert einen mit dessem impliziten Voyeurismus, wirft die Frage des gerechten Tauschs auf (Pose gegen Geld)e. Jdenfalls lässt er einen nicht so leicht in Ruhe (ein wirklich empfehlenswerter Artikel dazu ist der von Anne von der Heiden im letzten Kunstforum11). Das Authentische bzw. dessen Produktion spielt sich wahrscheinlich wirklich inzwischen in anderen Medien ab, sicher weniger bei Big Brother als beim Runterladen zeitverzögerter, erheblich stotternder Webcambilder.
Was als ganz spezifische Wirklichkeitsbezug der Fotografie für mich immer noch funktioniert, hat mit Kunst erstmal nichts zu tun: Es sind die Knipserbilder, mit denen ich meine private Geschichte authentifizieren und gleichzeitig als allgemeine Zeitgeschichte wahrnehmen kann ("guck mal die siebziger Jahre Tapete!") und auf allen möglichen Fotos, ob von den'Großen' der Fotogeschichte oder aus dem Haufen der anonymen Bilder: die Details und immer wieder die Details – die Kleidung, die Häuser, die Plakate, das Tapetenmuster – die aber im Unterschied zu den "Realitätseffekten" in der Literatur, auf die sich Barthes bezieht, von keinem Autor konstruiert sind und so doch mehr als "Effekt" sind (?!). Oder um noch mal die Fotogeschichte zu zitieren:
"Eine vollkommene Fotografie ist – theoretisch gesprochen – unerschöpflich. Auf einem Bild findet man nur, was der Künstler vor uns gesehen hat, aber in einer vollkommenen Fotografie verbergen sich so viele Schönheiten, unentdeckt wie Blumen in den Wälder und Wiesen." (Holmes)12
Sehr blumig, fürwahr, aber da ist doch was dran. Dem kommen natürlich besonders technisch gut gemachte, tiefenscharfe Fotos entgegen, auf denen viel 'drauf' ist. Die ganze low-tech Richtung wird in dieser Hinsicht nicht sehr ergiebig sein: Ein mehr oder weniger buntes Rauschen.
Schöne Grüße,
Susanne