„To want one’s film to look true, to show reality, the whole reality and nothing but reality, may be an honorable intention.... In the cinema, such an intention can result only in a ‘representation‘ of reality.“ (André Bazin)
Der französische Filmkritiker und sogenannte Begründer der Realismusdebatte im Film, André Bazin, äußerte in seinem 1960 publizierten Werk mit dem Titel ‘Qu’est-ce que le cinéma?‘, dass das Kino noch nicht erfunden sei. Bazin spielte damit auf ein mediales Ziel jener Erfinder an, die sich mit ihren Apparaturen die Abbildung der Welt zur Aufgabe gemacht hatten. Es ging ihm also um das fantastische und zugleich schwer zu erreichende Projekt der technischen Reproduktion des ‘puren‘ Lebens. Als Bazin dann im November 1958 starb, hielt man ihm in der Zeitschrift ‘L’Esprit‘ die Prophezeiung entgegen, im Jahr 2000 sei endlich ein Kino frei von der Künstlichkeit der Montage möglich. Das Medium könne dann seine Rolle als perfekte Realitätskunst ausüben.1 Tatsächlich sind wir heute, so denke ich, niemals näher und zugleich weiter von dieser Kinovision entfernt. Doch bevor ich auf diesen Punkt eingehe, möchte ich kurz etwas zum Begriff des Realismus sagen.
Um das Hören im Kino und vor allen Dingen die heutige Kinoerfahrung zu bewerten, lohnt sich ein Blick auf die seit dem Tonfilm verkündeten Ansichten und theoretischen Konzepte zur akustischen Dimension des Kinos. Der Begriff des Realismus fällt dabei immer wieder ganz besonders auf. Er lässt sich als ein kulturgeschichtlich vielseitiger Begriff fassen, der in den vergangenen zwei Jahrhunderten hauptsächlich zur Einordnung von Bildern, Texten und der Wahrnehmung von ‘Wirklichkeit‘ gedient hat. In Metzlers Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie lässt sich eine, für die Situation des Kinos, interessante Definition zum Realismus vorfinden:
„Der Realismus kann am besten als ein historisch und soziologisch variabler Bedeutungseffekt aufgefasst werden, der daraus besteht, dass ein Kunstwerk der jeweiligen Realitätsauffassung des Publikums entspricht und diese vielleicht sogar mitbestimmt.“
Übertragen auf den Tonfilm und seinen Effekt auf ein an Stummfilme gewöhntes Kinopublikum, lässt sich die Aussage des Lexikons bestätigen. Die Geschwindigkeit, mit der der Tonfilm den Stummfilm aus dem Kino verbannt hatte, lässt vermuten, dass er der Realitätsauffassung des Publikums entsprach.
Im vorliegenden Text, den ich in drei Teile gegliedert habe, werde ich die alte Frage nach der Realität des Kinos zunächst mit André Bazins Überlegungen zum Tonfilm beginnen. Anschließend werde ich mit Fokus auf den Kinoraum und am Beispiel des Gewehrschusses die künstliche Erzeugung auditiver Realitäten untersuchen. Der dritte Teil wird sich schließlich mit Körpern von Kinogängern im Verhältnis von digitalem und realem Raum auseinandersetzen, um den Begriff des Realismus durch einen gleichen, aber dennoch erweiterten Begriff zu ersetzen.
In seinem Aufsatz zur Entwicklung der kinematographischen Sprache schreibt Bazin folgendes zum Verhältnis von Film und Realität:
„Besteht das Wesentliche der Filmkunst darin, was Gestaltung und Montage einer gegebenen Realität hinzufügen können, so ist die stumme Kunst eine vollendete Kunst. Der Ton könnte höchstens eine untergeordnete und ergänzende Rolle spielen: als Kontrapunkt zum visuellen Bild. Diese mögliche Bereicherung aber, die zudem in den meisten Fällen nur gering wäre, birgt das Risiko gegenüber dem Gewicht der zusätzlichen Realität, die gleichzeitig mit dem Ton eingebracht wird, zu leicht zu wiegen.“2
Bazin warnt hier davor, die akustische Dimension des Kinos nur als nebensächliche Ergänzung zum Filmbild zu betrachten und weist auf ihre Funktion als eigenständiger Produzentin von Realität hin. Es ist in seinen Augen der Tonebene zu verdanken, dass die ästhetischen Mittel des Stummfilms, nämlich Metapher und Symbol, verabschiedet werden konnten. So erhält das Kino, laut Bazin, die Möglichkeit, eine weitaus größere Illusion objektiver Darstellung vorzuführen. Diesem Sachverhalt wird schließlich von Bazin noch eine weitere Komponente hinzugefügt, denn er folgert:
„Nur durch einen erhöhten Realismus des Bildes wird die Abstraktion möglich.“ (Kracauer 1990: 276)
Was sich hier zunächst wie ein Widerspruch formuliert, läuft aber letztlich direkt auf das Phänomen der Repräsentation von Realität zu. Ist die Wirklichkeit erst einmal in einem Grad eingefangen, der sie nicht mehr von aktuell und virtuell unterscheidbar macht, lässt sie sich der vollkommenen Abstraktion anheim geben. Sie beweist dann nichts weiter, als die völlige Generierbarkeit und Manipulierbarkeit von Realität. Die Redaktion der Zeitschrift L’Esprit trifft an dieser Stelle sozusagen ins Schwarze, wenn sie eine Bazinsche Prophezeihung für das Jahr 2000, also für das Jahr, in dem wir uns gerade befinden, in Hinsicht auf ein Kino der ‘puren Realitäten‘ ausspricht. Bazin schreibt am Ende seines Aufsatzes zur Entwicklung der kinematographischen Sprache, dass „der Filmemacher (..) nicht mehr nur der Konkurrent des Malers und des Dramatikers (ist), sondern endlich dem Romanschriftsteller ebenbürtig“ (Kracauer 1990: 277).
Im Hinblick auf die zeitgenössischen Produktionsmittel zur Filmherstellung lässt sich Bazins Äußerung geradezu wörtlich nehmen. Der Umsetzung filmischer Phantasien sind dank der Technik kaum noch Grenzen gesetzt. Die Vorläufer dieser technischen Aufrüstung von heute lassen sich allerdings schon zu Bazins Zeit in den 50er Jahren des noch nicht ganz vergangenen letzten Jahrhunderts ausmachen. Der Fernseher zwang die Kinoindustrie zu einfallsreichen Innovationen, so dass die Leinwand in die Breite ging und der Ton, aufgrund von Mehrkanaltontechnik in die Tiefe des Raumes. Die Realität des Kinos hatte hier also schon eine Wandlung erfahren, die stärker die Sinne der Kinobesucher mit einbezog. In der ersten Ausgabe von Nach dem Film lässt sich in meinem Text zum Kinoverfahren Cinerama mehr zu dieser Ära nachlesen.
Die riesigen Leinwände und die Beschallung von allen Seiten können jedoch nicht allein als Vorläufer der zeitgenössischen Kinoerfahrung verstanden werden. Zwei weitere Jahrzehnte Kinogeschichte sollten noch ins Land gehen, bis 1983 für einen der einflussreichsten Filmemacher und Produzenten Hollywoods das Kino ebenfalls noch nicht wirklich erfunden schien. George Lucas hatte mit seiner STAR WARS -Trilogie zwar die damals erfolgreichsten Filme der Kinogeschichte geschaffen, zog es aber nach dem letzten Teil, THE RETURN OF THE JEDI (USA 1983), der RÜCKKEHR DER JEDI-RITTER, zunächst einmal vor, keinen weiteren Teil folgen zu lassen. Die technischen Möglichkeiten der Filmproduktion reichten ihm nicht aus, die Phantasiegestalten seines Drehbuchs umzusetzen. Vielleicht hatte Bazin doch zu voreilig die Möglichkeiten des Filmemachers denen des Romanautors gleichgesetzt. Lucas hatte zusammen mit seinem vorerst letzten Teil ein wesentliches Element für die zukünftige Kinosituation eingeführt und schließlich zu einem Standart erhoben, der die heutige Kinoerfahrung mehr denn je prägt. Das THX-Zeichen, mit dem jedes große Kino wirbt, verweist in erster Linie auf die Kopierbarkeit von akustischen Räumen. Es ging Lucas darum, die Differenz zwischen der technischen Herstellung im Produktionsstudio einerseits und dem Kino als Abspielort andererseits so weit wie möglich auszulöschen. Der Qualitätsunterschied zwischen der Aufnahme im Studio und jener im Kino war zu groß und der Verlust an den akustischen Dimensionen, die schließlich im Bazinschen Sinne die Realittsebenen erst mobilisieren, nicht mehr zu tragen. 1983 konnte George Lucas dann darin sicher gehen, dass DIE RÜCKKEHR DER JEDI-RITTER in den Dimensionen vonstatten ging, die er sich für ein Kinopublikum versprach.
Durch die Vermessung zahlreicher Kinos im Hinblick auf ihre akustische Beschaffenheit ließ sich ein Mittelwert errechnen, über den jetzt der Kinosaal einer Kontrolle unterzogen werden konnte. Angefangen beim Material der Wände und der Konfiguration von Lautsprechern im Saal wurde eine Organisation von Wiedergabekriterien geschaffen, die dafür sorgen, dass sich die Akustik im Kino den idealen Bedingungen der Produktion annähert. Der Toningenieur Tomlinson Holman, sowohl Namensgeber als auch Konstrukteur des THX-Standards - T steht für Tomlinson H für Holman X für Experiment oder Crossover (was im Englischen Frequenzweiche bedeutet) - antwortet in einem Interview auf die Frage nach den zukünftigen Möglichkeiten des Kinos schließlich ganz im Auftrag seiner Namensinitialen:
"I think we’ve reached the end of one era, which is the era of ever-expanding frequency and dynamic ranges. Now we’re looking at the spatial dimension a little more appropriately, and that makes a fully transparent system. It will play as loud as anybody wants it to; it’s got inaudible noise, inaudible distortion." (LoBrutto 1994: 209)
Die Durchlässigkeit der Systeme ist demnach nichts anderes als die Durchlässigkeit der künstlich reproduzierten Räume, über die wir unsere Körper einmal mehr einer repräsentierten und reproduzierten Realität verschreiben. Die Sounds jedoch, die die Daten für den Raumeindruck transportieren, werden mit Informationen ausgestattet, die sich mit realen, alltäglichen Sounds nicht mehr messen lassen. Vielmehr werden diese Geräusche räumlich regelrecht aufgeaden und mit ihrer eigenen Klangstruktur konfrontiert.
Im folgenden Abschnitt soll daher anhand von zwei Beispielen der Produktion von Soundräumen nachgegangen werden. Dazu möchte ich mit den Äußerungen eines bekannten Sound Designers beginnen. Gary Rydstrom, der durch den Sound zu dem Film THE TERMINATOR 2 (USA 1991) von James Cameron Aufsehen erregte, äußert über Soundeffekte und ihren Realitätsanspruch folgende kinematische Wahrheit:
„but as so often is the case in sound, the real sound was not very interesting... Everything had to be so much bigger than life... As with anything, making an effective sound means incorporating two, three, or four sounds.“3
Rydstrom nennt den von ihm produzierten Sound dementsprechend auch ‘larger-than-life‘ Sound. An seiner Äußerung ist jedoch vor allen Dingen die Tatsache bemerkenswert, dass die in unserer Alltagsrealität vorkommenden Sounds nicht interessant genug sind, um den filmischen Ansprüchen gerecht zu werden. Die Geräusche und Töne, die uns im Alltag umgeben, müssen erst verdoppelt und verdreifacht werden, so dass der filmische Raum einerseits und der Kinoraum andererseits die entsprechende Dimension einer medialen ‘Realität‘ erhält. Sie müssen die Zuhörer in mehrfach potenzierter und zudem kombinierter Form erreichen, so dass die gesteigerte Künstlichkeit zur ‘wirklichen‘ Kinoerfahrung werden kann. Dem Sound Designer ist es daher überantwortet, so Rydstrom, an erster Stelle die emotionalen und dramatischen Elemente des Films akustisch auszuarbeiten.
Diese Priorität erstaunt keineswegs, wenn man bedenkt, dass die auditive Ebene im Gegensatz zur visuellen stärker dem nicht direkt registrierbaren Teil unserer Wahrnehmung zugesprochen wird. Aus neurophysiologischer Sicht geht es hier um akustische Daten, die sich an das Zwischenhirn richten und die emotionalen, und körpergebundenen Funktionen des Gehirns ansprechen. So ergibt sich schließlich ein Paradox, wenn man die Ebene der Herstellung von Sounds in Verbindung mit ihrer sinnlichen Verarbeitung betrachtet. Aus der Perspektive des Sound Designers liefert die akustische Dimension des Kinos die größere filmische Realität – im Sinne Rydstroms also larger-than-life-sounds – obwohl sich auf der Seite der Hörer gerade ein gegenteiliges Phänomen ereignet: nämlich ein Verlust an Realität.
Die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber sieht in der Wirkung von Musik einen Abbau von Realitätsbezügen, also Ich-Funktionen enthalten. So wird die Distanz zum Geschehen vermindert und gleichzeitig erscheint das Erlebte unmittelbarer. Über das eigentümliche Verhältnis von räumlicher Verortung beim Hören im Kino schreibt sie:
„Eine akustisch vermittelte Raumwahrnehmung anzunehmen und zugleich von einer Reduktion der Objektbesetzungen, d.h. einer geminderten Erfahrung der Umgebung, auszugehen, zeigt das komplizierte Verhältnis der filmischen Wahrnehmung zur Realität.... Die Musik wahrt einerseits den realen Raum und setzt andererseits als stark gefühlsauslösendes Medium die Selbststeuerung herab.“ (de la Motte-Haber 1980: 190-191)
Das Hören im Kino scheint demnach ein doppeltes Verhältnis zur Realität einzugehen, an dem besonders die Funktion des Raumes einen bedeutenden Anteil hat. Während innerhalb der Kinosituation auf der Ebene der Leinwand, filmischer Raum nur als Illusion vermittelt werden kann, ist er hingegen in die akustische Ebene als Schallphänomen im realen Kinosaal eingeschrieben. Klang, Stimme oder Geräusch können selbst als raumbildende Elemente verstanden werden und unsere Orientierung sowohl im realen als auch im fiktiven Raum steuern.
Im folgenden Abschnitt werde ich am Beispiel des Gewehrschusses aus den Filmen THE TERMINATOR (USA 1984) und THE MATRIX (USA 1999) einen kurzen Einblick in die soundtechnischen Strategien zur Erzeugung filmischer Realitäten geben. Der Gewehrschuss gehört mit zu den bekanntesten Geräuschen der Filmgeschichte und ist zudem durch seine klare, simple Tonstruktur gekennzeichnet. Dass das technische Reproduzieren eines Schusses schwierig sein könnte, wird wahrscheinlich jeder bezweifeln. Doch vertraut man seinen eigenen Realitätskoordinaten wird man schnell eines anderen belehrt, wenn man den Rezepten der Sound Designer lauscht. Der Raum, der sich den Zuhörern an seinem Nachhall eröffnet, birgt für Rydstrom das eigentliche Geheimnis auditiver Lust. Der Nachhall von Schüssen, den wir in Camerons TERMINATOR hören, entspricht nicht dem technisch reproduzierten Echo eines einzelnen Gewehrschusses, sondern einer Vervielfachung von Schussnachhallzeiten, die schließlich dem einzelnen Gewehrschuss technisch beigemischt wurden. Am Ende hört man einen aufgenommenen Schuss, dessen akustischer Einschlag potenziert ist und dadurch eine weitaus größere Dynamik im Raum entfaltet. Über das Ergebnis seiner Vervierfachung der Raumfunktionen eines einzigen Schusses äußerte Rydstrom: „It fattens the sound and makes it much more interesting.“
Einen anderen Weg, Schüsse zu verräumlichen, wählt Dane Davis, der Sound Designer von THE MATRIX. Hier ist es nicht die Nachhallzeit, die potenziert wird, sondern die akustische Beschaffenheit der Materialien, in die die Schüsse eindringen.
„I really wanted to feel the layers - the penetration that these bullets were making, rather than just a crack.“
Es geht Dane Davis nicht mehr darum den puren Knall eines Schusses zu vermitteln, sondern darüberhinaus das Moment des Eindringens am Material selber hörbar und zugleich für den Zuhörer spürbar zu machen. Um diesen stofflichen Eindruck zu erhalten, werden die verschiedensten Materialien mit Mikrophonen unterschiedlicher Distanzen versehen und dann ihre Beschießung aufgenommen. Der Einschuss wird dabei zunächst isoliert aufgenommen, um im Studio erneut abgemischt und durch digitale Technologie verändert zu werden. Dabei erfährt der Schuss durch die zu Ohren kommenden Einschussmaterialien eine Ausdehnung an physischer Qualität, er wird stofflich greifbar im Hören. Auf diese Weise wird der Kinoraum geöffnet und erreicht neben den Ohren auch die Körper der Kinogänger, die zwar im realen Kinogeschehen nicht von filmischen Schüssen getroffen werden können, dafür aber die virtuelle Konstruktion dieser Schüsse in ihrer ganzen realen physischen Schalldynamik zu spüren bekommen. Die räumliche Präsenz höchst artifizieller Soundtechnologie mag auf der Leinwand noch virtuell erscheinen, sie ist auf der Ebene der Zuhörer im Kinoraum schließlich real geworden. Was wir im Kinosaal hören, ist im Hinblick auf die Strategien der Sound Designer die kopierte Realität der stofflichen Qualität akustischer Sounds gekoppelt mit einer Mehrfachkopie räumlicher Nachhallzeit. Eine, um nochmals Rydstrom zu zitieren, im wahrsten Sinne larger-than-life Sounddimension.
In seinem Buch Digital Aesthetics beschreibt der Medientheoretiker Sean Cubitt diesen auditiven Wandel im Kino nochmals im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Realität und filmischer Virtualität:
„Das Kino verkörpert in seiner Entwicklung als Raumkunst durch seine materielle Präsenz eine Ergänzung zum Realen, indem es in einen Wettstreit mit der Doppelstruktur von Film und Realität tritt und zwar nicht durch Umwandlung, sondern durch die Invasion des Realen, also der materiellen Räumlichkeit lautstarker Wiedergabetechnik.“4
Laut Cubitt tritt demnach der akustisch in Beschlag genommene Raum des zeitgenössischen Kinos in Konkurrenz zu dem eigentümlichen und doppelseitigen Realitätsanspruch des Mediums. Dieses Doppelspiel erhält durch die Perfektionierung der Soundtechnologie und der Organisation auditiver Daten im Raum einen Gegenspieler als Ergänzung zur konstruierten Realität der Kinosituation. Diesen Gegenspieler verkörpert die Raumfunktion in sowohl technisch codierter Bearbeitung als auch realer Schallpräsenz. Das digitale Kino erhält bei Cubitt also den Status einer Raumkunst, die jetzt zwischen das alte Bündnis der filmischen Apparatur und seiner Herstellung von Realitätszeichen tritt. Es verändert die mediale Realität durch ein neues Wahrnehmungsverhältnis. Die Funktion des Kino-Hör-Raumes bildet somit die Schnittstelle zwischen der medialen Virtualität des Leinwandgeschehens und der vom Tongeschehen komplett eingenommenen Realität des Zuhörerkörpers.
Die Präzisierung der akustischen Dimension des Kinos greift auf den Körper des Kinopublikums zu, indem sie sich immer stärker an seinen physischen Gegebenheiten orientiert. So adressiert die Surroundtechnologie ihre Daten an Ohren, die die Raumkoordinaten verarbeiten und deuten. Gleichzeitig ist es aber möglich über die technische Codierung des Raumes noch gezielter in das Ohr einzudringen und auf das Körperzentrum zuzugreifen. In diesem Zusammenhang erscheint eine Äußerung von Gary Rydstrom im Rahmen einer Pressemitteilung besonders interessant. Dort geht es um das neue Soundsystem ‘Dolby Surround EX‘, das von George Lucas und Ray Dolby speziell für den STAR WARS Film THE PHANTOM MENACE (USA 1999), DIE DUNKLE BEDORHUNG, entwickelt wurde. Über die besonderen Eigenschaften des neuen Systems sagt Rydstrom:
„I wanted audiences to be completely encircled by surround, as well as hear sounds played directly behind them, .... I wanted to develop a format that would open up new possibilities and place sounds exactly where you would hear them in the real world.“5
Drei wesentliche Aspekte treten hier in Rydstroms Argumenten in den Vordergrund. Erstens wird die vollständige akustische Umkreisung mit Sound angestrebt; zweitens die genaue Plazierung der Geräusche und drittens schließlich der Anspruch, technisch Realität nachzustellen. Endlich, so heißt es im Text weiter, sei Filmemachern aufgrund des zusätzlichen Surroundkanals eine größere Flexibilität gegeben, indem es nun möglich sei, surroundakustische Informationen aus dem Mittenkanal über die hinteren Lautsprecher des Kinosaals zu reproduzieren, während linke und rechte Surroundinformationen über Lautsprecher an der Seite des Saales wiedergegeben werden. Mittels dieser technischen Erweiterung, die einen zusätzlichen Surroundkanal und die dazugehörige Lautsprecheranordnung einführt, produziere der Sound Designer „true fly-over and fly-around effects, die weicher und wesentlich akkurater plaziert sind, nämlich entweder direkt hinter oder direkt neben dem Publikum.“6
Bei aller Plazierung der Sounds, die Rydstrom hier schildert, erstaunt ein Sachverhalt besonders: noch scheinen wir etwas entfernt von dem Zeitpunkt, an dem die Töne direkt auf uns gerichtet werden; noch sind unsere Körper nicht die Zielscheibe aller akustischen Übergriffe; und noch ist es vor allen Dingen der Raum um uns, neben und hinter uns, der der Beschallung dient. Wir sind jedoch nicht mehr weit davon entfernt, selber zu Klangkörpern zu werden, zu Körperräumen soundtechnischer Realitäten. In der Kombination bestimmter technischer Faktoren, wie zum Beispiel ein THX-Raum gekoppelt mit Sonys 8 kanaligem SDDS-Verfahren, ist man dieser akustischen Körper-Realität so nahe, dass man zumindest glaubt, der Sound entspringe dem eigenen Körper. Auf diese Weise stößt man hier auch schon wieder auf die Frage nach der Realität des Kinos, nach seiner virtuellen und zugleich aktuellen Ausrichtung auf den Zuhörer.
Für den Musiker und Journalisten Kodwo Eshun hat der soundtechnologische Rhythmus schon lange das Körperzentrum erreicht. Er schreibt über dieses Phänomen:
„Echo verwandelt den Beat von einem lokalisierten Aufschlag in eine Umgebung, in deren Mitte du dich befindest... Jetzt aber prallt der Aufschlag, der vor dir davongelaufen ist, von der Wand ab, von der Decke, vom Fußboden, und schießt auf dich zu. Die Welt wird zu einer riesigen Trommel mit dir in der Mitte.“ (Eshun 1999: 76)
An dieser Stelle lassen sich noch einmal die Überlegungen von André Bazin zur Realität des Kinos aufgreifen. Seiner Vorstellung nach erfährt das Medium Kino erst durch einen erhöhten Realismus eine Form der Abstraktion. Diese Abstraktion steht für die perfekte Kontrolle über die Repräsentation von Realität, ihre Generier- und Manipulierbarkeit. In der elektronischen Musikszene, die, so Kodwo Eshun, „die Kunstform ist, die am meisten von Technik unterfüttert, rekombiniert und rekonfiguriert wird“, taucht der Begriff der Abstraktion wieder auf. Er bedeutet hier
„ein Bündel an Sensationen, die so neu sind, dass es noch keine Sprache für sie gibt.... ein Körper, der stotternd am Rande eines zukünftigen Sounds verharrt, an der Schwelle zu einer neuen Sprache.“ (Eshun 1999: 83)
Diese neue akustische Ausdrucksform ist nicht mehr mit dem Begriff des Realismus zu fassen. Es bedarf hier, entsprechend der larger-than-life Sounds eines Rydstrom, einer Erweiterung, die sich sehr gut in dem Begriff des Hyperrealismus fassen läßt.
Der Bazin in den Mund gelegten Prophezeiung, die Kinostoffe im Jahr 2000 seien von der Realität selbst erzeugt, ist jetzt hinzuzufügen: Die digitalen Repräsentationen der Kino-Realitäten streben nach ständiger Sebstübertrumpfung. Während auf der einen Seite das Verschwinden des Körpers im Zeitalter der Technokultur ausgerufen wird, ist im Kino der Körper dank hyperrealer Soundtechnik doppelt und dreifach wieder eingeholt. Das Medium macht uns Sehen und noch vielmehr Hören, indem es einem einzigen Gesetz gehorcht: dem des larger-than-life.
Cubitt, Sean (1998) Digital Aesthetics. London 1998 (in meiner Übersetzung, N.A.R.).
de la Motte-Haber, Helga (1980) Filmmusik. München, S. 190-191.
Eshun, Kodwo (1999) Heller als die Sonne. Berlin, S. 76.
Kracauer, Siegfried (1960) Texte zur Theorie des Film. Stuttgart 1990, S.262.
LoBrutto, Vincent (1994) Sound-On-Film. Westport Connecticut/London, S. 209.
Sight and Sound, no 8, August 1999, S. 25.
Hyperlinks
Dolby
THX Lucasfilm
Dane Davis
Interview mit Gary Rydstrom in "Cybertheater. The Journal of Home Theater" [www.cybertheater.com/News_Views/Rydstrom/rydstrom.html]
Star Wars, offizielle Homepage