Überlegungen zur Konzeption von Dogma 1995, DIE IDIOTEN, DAS FEST und MIFUNE
Die Philosophie stellt diejenigen Denker des 19. Jahrhunderts, welche dem Menschen den Zugang zu wahrer Erkenntnis und echtem Glück zutrauten und deshalb zur Auflösung von Illusionen mahnten (Freud, Marx), denjenigen Denkern gegenüber, die diese Fähigkeit dem Menschen absprachen und Illusion, als im Dienste eines Lebenswillens stehend, anerkannten und priesen (Nietzsche). Widmeten die ersteren ihre Arbeit der Analyse von Verdrängungen oder Entfremdungen, um des Menschen Blick für die Realität zu schärfen, so galt dem letzteren gerade dieser Umstand als eine Schwäche: ein Zuviel an Realitätserkenntnis als Hemmnis zum Handeln (Nietzsche 1872).
Die Seinsphilosophie des 20. Jahrhunderts hat die strikte Gegenüberstellung zwischen (menschlicher) Wahrnehmung und Realität in Frage gestellt. Heidegger etwa kritisierte die Konstruktion einer 'äußeren' Realität, die seiner Ansicht nach verkenne, dass ein (fragendes) Dasein, d.h. ein Sein, dem es in seinem Sein um das Sein geht, immer schon in-der-Welt sei und deshalb die Realität nicht nachträglich von sich veräußern könne (Heidegger 1927).1 Aktuelle Diskurstheorien begreifen die im sprachlichen Prozess vorkommenden Subjekte und Objekte daher nicht mehr als unabhängige Instanzen, sondern als Effekte einer Bedeutungspraxis.
Die Theorien der Filmgeschichte hat das nicht davon abgehalten, weiter im Paradigma Illusion / Wirklichkeit zu denken. Liegt der 'Illusionscharakter' des Films für die einen bereits in dessen imaginärem Bewegungseindruck begründet, so wirkten andere dem entgegen: bereits die frühen Filmpioniere in ihrem Bemühen, jenem Bewegungszauber eine Sprache zu entdecken, wie auch der Experimentalfilm durch Kompositionen technischer Verfremdung, der Neorealismus mit seinem Ruf nach Authentizität oder die Nouvelle Vague mit der Betonung von Autoren-Stil.
Die herrschende, auf Illusionseffekt setzende Kinoproduktion hat die Initiativen solcher Filmpolitiken stets integriert wiewohl entschärft und somit die Fähigkeit erworben, über den physischen Bewegungseindruck hinaus, auch die sozialen Verhältnisse als Illusion zu repräsentieren. Dem entgegen steht der Enttäuschungseffekt, die Erfahrung, dass Imagination rechnerisch, symbolisch nicht endlos zu verlängern ist. Integration wird auf Dauer langweilig. Auch im Kino weiß das Dasein um sein je Anders-in-der-Welt-sein, zeitlich, räumlich - und sozial.
Abgesehen davon, dass die jüngste Politik gegen den Illusionscharakter des Kinos, entfacht von einer Gruppe dänischer Filmregisseure, in Ton ("Keuschheitsgelübde") und Regeln (Authentizität, Technikkritik) an historische Vorbilder anknüpfte und als PR-Kampagne viel Aufmerksamkeit auf Oberflächen lenkte (etwa auf die Überwachung der Regeln), setzte diese Initiative für die aktuelle Kinoproduktion entscheidende Akzente, vor allem mit der Forderung nach möglichst unverstellten Spielhandlungen bzw. mit dem Verzicht auf Historisierung, 'Studiotisierung' bzw. auf die geografische Verfremdung des Drehortes. Die dadurch bedingte Improvisationsfreiheit und -herausforderung prägte insbesondere bei DIE IDIOTEN (DK 1998) von Lars von Trier entscheidend dessen Thema: 'Verrücktheit' also auch insofern das 'Anders-in-der-Welt-sein'.
Nicht nur die Schauspieler, auch die Figuren als solche spielen in DIE IDIOTEN verrückt (Schauspieler spielen Schauspiel), einerseits um sich von sozialen Rollenmustern zu befreien, andererseits, um Außenstehende zu provozieren, das Mitleid und die Verlogenheit der Gesellschaft bloßzustellen. In der Gruppe geschützt oder an ausgewählten Stellen der Öffentlichkeit, simulieren die "Spasser" (Wortspiel aus Spass und Spastiker) 'ihren Idioten'. Und dieses doppelte Spiel reflektiert jene Doppelmoral der Gesellschaft, z.B. des Fabrikarbeiters, der den Spassern mit geheucheltem Verständnis seinen Betrieb vorführt, oder des Gemeindevertreters, der die "private Behindertenbetreuung" mit scheinheiligem Geld-Angebot forttreiben will. Soweit die erste und gewöhnliche Fiktionsebene.
Darüberhinaus fallen die Spasser stellenweise aus ihren Rollen heraus, um die Erfahrungen des Idioten-Spiels gegenseitig zu diskutieren oder um sie, direkt an den Zuschauer gewendet, wie bei einem dokumentarischen Interview, zu kommentieren. (Gleichwohl sind auch diese Interviews inszeniert.) An wieder anderen Stellen steigern sich die Spasser so extrem in ihre Rolle hinein, als wenn sie sich über die verabredeten Spielregeln der Gruppe hinwegsetzten, bzw. als wenn aus Spaß Ernst würde: z.B. Jeppe, als er verhindern will, dass Josefine von ihrem Vater abgeholt wird; oder Stoffer, wenn er in seiner Aufregung über die Intoleranz des Gemeindevertreters nackt durch die Straßen läuft und wild um sich schlägt. Oder Susanne, die als Betreuerin zwischen Aufpassen und Mitspielen laviert (z.B. beim "Rudelbumsen").
Noch vertrackter ist das Verhältnis zwischen Spiel und Ernst dadurch, dass mit Karen eine Figur in die Gruppe kommt, deren Verrücktheit (im Sinne von Labilität) durch ein tragisches Erlebnis (Verlust ihres Kindes) fiktiv begründet ist; für sie gibt es keine zweite Fiktionsebene, (sie taucht in den Interview-Szenen selbst nicht auf), wenngleich auch sie nach einiger Zeit anfängt, 'ihren Idioten' zu 'spielen'. Durch die weitgehend unverstellten Situationen gelingt es DIE IDIOTEN die Zwischentöne solcher Rollenwechsel zu zeigen und Genremustern entgegenzuwirken oder, abstrakter gesagt, vorstrukturierte Typisierungen zu dekonstruieren.
Anders dagegen zwei weitere Dogma-Filme, bei denen ebenfalls Figuren von Idiotie und Verrücktheit auftreten: In Søren Kragh-Jacobsons MIFUNE (DK 1999) begegnet Kresten, ein frisch verheirateter, selbstbewußter Betriebswirt aus Kopenhagen, seinem "schwachsinnigen" Bruder Rud auf Lolland, dessen Existenz Kresten seiner Braut gegenüber verschwiegen hatte. 10 Jahre haben sich Rud und Kresten nicht gesehen, dennoch weiß Kresten noch viele Formen, sich mit seinem Bruder zu verständigen, zu spielen wie auch die nötigen Dinge des Alltags mit ihm zu verrichten. Anlass von Krestens Besuch auf Lolland war der Tod ihres Vaters, und eigentlich wollte er Rud in ein Heim übergeben, um dann nach Kopenhagen zurückzukehren, doch eine Irrenanstalt für Rud lehnt er ab. Dass Rud ihm Geld klaut und schwerfällig an kindlichen Erinnerungen hängt, nimmt Kresten ihm nicht lange übel. Schließlich stellt er eine Haushälterin an, Liva, die sich um Rud kümmern soll. Ohne zu wissen, dass Liva eine Prostituierte ist, verliebt sich Kresten in sie, und nachdem seine ihm gerade angetraute Braut, von all dem schockiert, sich Hals über Kopf wieder scheiden läßt, rauft Kresten sich mit Rud und Liva zur Wohngemeinschaft zusammen. Hinzu kommt Livas kleiner Bruder Bjarke. Gerade er, der anderen Leuten gerne böse Streichen spielt, ist irritiert und fasziniert von der Debilität Ruds und entwickelt zunehmend Respekt gegenüber dem "Spasti".
Kragh-Jacobson inszeniert Verrücktheit über bewährte Typisierungen, wie etwa "Bauerntrottel" und Stadtneurotiker. Dass diese durch ihre gegenseitige Berührung Halt und Reife finden, entspricht dem Konfliktschema des klassisch bürgerlichen Romans. Der Erzählraum hier ist eine relativ geschlossene Welt. Anders als in DIE IDIOTEN hat MIFUNE keine zweite Fiktionsebene. Darüberhinaus ist die Handlung von mancherlei Klischees getragen, etwa wenn ausgerechnet Rud mit einem Lotterielos viel Geld gewinnt und die vier ungleichen Aussteiger nicht zuletzt dadurch zusammenhalten.
Auch Thomas Vinterbergs Film DAS FEST (DK 1998) behandelt Idiotie und Wahnsinn im Zusammenhang eines Familiendramas: hier sind es die beiden Brüder Michael und Christian, die von anderen der Verrücktheit bezichtigt werden; Michael wegen seines hitzigen, jähzornigen Temperaments und Christian, weil er ausgerechnet beim Jubelgeburtstag seines Vaters das Tabu von dessen sexuellem Mißbrauch (gegen ihn, als Kind, und gegen seine Schwester) anspricht und damit vor der versammelten Verwandtschaft einen Skandal auslöst. Verrücktheit hier also nicht nur als spießbürgerliche Verdrängung, sondern ebenso als sexueller Mißbrauch der eigenen Kinder oder mit Christians Mutters Worten zu sagen: als die Perversion eines "großen Appetits aufs Leben". Eltern und Verwandte verdrängen diese Perversion. Christian "kämpft" um ihre Aufklärung und schwankt dabei zwischen heroischer Rationalität, Angst und Panik. Für noch größere Irritation sorgt sein Bruder Michael, dessen Temperament zwischen Naivität und Cholerik bzw. zwischen bornierter Familientreue (bis hin zu offenem Rassismus) und brutaler Selbstgerechtigkeit schwankt.
Gleichwohl verharren auch in DAS FEST sämtliche Figuren in einer vorstrukturierten Moralordnung. Obwohl der Vater am Ende als der Schuldige verurteilt wird und sein rassistischer Sohn Michael ihn aus der Familiengemeinschaft abführt,2 hält DAS FEST bis zum Schluss an der Position eines tugendhaften Vaters fest. Selbst der protestierende Christian beherzigt am Ende des Vaters Ratschlag und erwählt eine neue Frau (die noch kinderlose Hausangestellte) anstelle seiner bisherigen Freundin, die bereits von einem anderen Mann ein Kind hatte.
Während MIFUNE wie auch DAS FEST vor einem einheitlichen Fiktions- bzw. Wertehorizont agieren, durchbricht DIE IDIOTEN eine solch hermetische Struktur. Lars von Trier konfrontiert nicht nur Charakterzüge bzw. die Moral individueller Figuren, und er versteift sich nicht auf die Rationalisierung des Unbewußten, sondern er problematisiert darüber hinaus erzählerische Verfassungen und zwar sowohl im Hinblick auf die Genregeschichte des Kinos (etwa bei DIE IDIOTEN: Cinema Verité, bei THE ELEMENT OF CRIME (DK 1984): Kriminalfilm, bei DANCER IN THE DARK (DK 2000): Musical) als auch durch die Spontaneität seiner Schauspieler.
Für Heidegger ist 'Realität' auf die Existenzialität der Sorge zurückverwiesen. In diesem Sinne begegnet sie dem Dasein als Zuhandenheit oder auch als Vorhandenheit. Zuhanden ist das, was gebraucht, besorgt, gewagt, umkämpft wird, oder auch das, was stört, hindert, gefährlich ist, kurz: das, was in der Nähe ist. Vorhanden, dagegen, ist das Vergessenene, Verbrauchte, Überflüssige, Unentdeckte, Verfallene, Selbstverständliche, Eingeebnete, in das sich Dasein verloren bzw. noch nicht gefunden hat (Heidegger 1927).
"Ups, da kommt die Realität!" heißt es in einer Szene von DIE IDIOTEN. Axel kommentiert damit die Ankunft des Taxis, das ihn von der Spasser-Kommune zur Werbe-Agentur, bringen soll, in der er angestellt ist. Doch es ist nicht so sehr das Taxi selbst bzw. der vom Taxi repräsentierte 'normale' Berufsalltag, der hier Realität bedeutet, sondern vielmehr das Kommen des Taxis. Wenn es kommt, ist es bereits zuhanden: bestellt, erwartet, nützlich; und gleichwohl ist seine Entdeckung die Spur des bloß irgend Vorhandenen, die Spur dessen, dass jenseits aller Gegenwart, Plaudereien, Bestellungen noch etwas anderes vorhanden ist.
Dass jedes Dasein anders in der Welt ist, bedeutet auch, dass sich die Konstellation Vorhandenheit / Zuhandenheit je unterscheidet. Diesen Unterschied als Übergang zu fassen (i.S. von "Da kommt die Realität!"), ist Imagination, ähnlich wie der Bewegungseindruck im Kino (oder der Raum-Eindruck eines stereoskopischen Blicks), und diese Imagination bezeugt, dass zwischen Vorhandenheit und Zuhandenheit Sympathien bestehen. Die Improvisationen über das Bild des Verrückten in DIE IDIOTEN nutzen vielerlei solcher Sympathien: Um bei Axel zu bleiben: Axel trennt zwar zwischen seinem Dasein am Arbeitsplatz und demjenigen in der Spasser-Kommune. Hier will er verrückt spielen, dort traut er sich das nicht, so jedenfalls seine Behauptung vor der Gruppe. (Stoffer hält ihn darum für einen Schweinehund und mancher Filmkritiker für einen Opportunisten (Forst 1998)). Dennoch legt Axel seinem Chef einen ziemlich idiotischen Entwurf für eine Werbekampagne vor und entschärft damit gewissermaßen sein geteiltes - hier normales, dort verrücktes – Dasein; wenn auch nur zaghaft, denn zwischen der Verrücktheit von Werbestrategien und dem Verhalten von Debilen bestehen offenbar Sympathien. (Bezeichnend dafür ist auch, dass der Werbe-Agentur-Chef großzügig darüber hinwegsieht, wenn Katrine, als Kundin getarnt, deutlich 'ihren Idioten' spielt.)
Karen gibt zu Bedenken, dass es ja Menschen gebe, die wirklich krank seien. Darum finde sie es unverantwortlich, den 'Idioten' zu spielen, und Stoffer gibt ihr recht. Aber wer ist das, der wirklich Kranke, der wirkliche Idiot? - oder, um noch einmal mit Heidegger zu sprechen, der vor- und zuhandene Idiot? Jemand der fernsteht, der vergessen ist, verfallen, überflüssig, nicht zu gebrauchen ist? Oder jemand, der benutzt, besorgt, bekämpft wird? Warum sollte jemand wie Karen, die aufgrund ihres tragischen Erlebnisses labil ist, wirklicher verrückt sein, als die Spasser, die solches nur aus ihrem Verstand heraus spielen? Für den spielenden Verrückten wie für den 'betroffenen' Verrückten ist der Grund seiner Verrücktheit je anderswo vorhanden. Im Film ist Karen diejenige, die es schließlich als einzige schafft, vor ihrer leiblichen, nicht eingeweihten Familie, den 'Idioten' zu spielen. Und an dieser Stelle, unmittelbar am Ende, entfaltet von Triers Film wohl seine stärkste emotionale Spannung. An dieser Stelle koppelt sich das Spiel der Rollenwechsel an die Tragödie, an dieser Stelle kommt die Verrücktheit als Spur einer vorhandenen Realität ins Spiel; und als Spur (wie das Taxi) ist diese Verrücktheit gleichwohl zuhanden, als Ausgrenzung, als Magie, als Vernunftkritik oder als befreiende Trauer.3
Dem Kino kann es nicht darum gehen, die imaginären Effekte seiner Kopplungen zu leugnen, wohl aber darum, die immerselbe symbolische Anordnung dieser Kopplungen anzufechten, bzw. der immergleichen Wiederherstellung von Homogenität (z.B. Rassismus), klassischem Mythos (z.B. Kleinfamilie) und hierachischer Organisation (Machterhalt) entgegenzuwirken. Von Trier hat mit seinen Dekonstruktionen von Tragödie dafür einige Beispiele geliefert. In diesem Zusammenhang liefert das Dogma-Manifest bzw. DIE IDIOTEN zwischen BREAKING THE WAVES (DK 1996) und DANCER IN THE DARK eine produktive Orientierung vor allem im Hinblick auf die Spontaneität des Schauspiels.
Wo der klassische Realismus, wie auch viele der heutigen "Reality-" , "Life-" oder "On-line-" Produktionen tendenziell auf jene Sphäre des Zuhandenen abheben, also auf eine reibungslos funktionierende Tauschökonomie innerhalb geschlossener, sinnvoller Erzählräume, da ist für ein Seinsverständnis des darüber hinaus bloß 'Vorhandenen' die Ästhetik der Dekonstruktion unverzichtbar.
Forst, Achim (1998) Das Kino des Lars von Trier. Marburg.
Heidegger, Martin (1927) Sein und Zeit. Tübingen.
Kracauer, Siegfried (1960) in seiner Theorie des Films. New York.
Nietzsche, Friedrich (1872) Geburt der Tragödie. Leipzig.