Wenn Flaubert uns das Zimmer beschreibt, in dem Mme. Aubain, die Herrin von Félicité, sich aufhält, sagt er uns: "auf einem alten Klavier stapelte sich, unter einem Barometer, ein pyramidenförmiger Haufen von Kästen und Kartons" (Flaubert 1893: 4). Wenn Michelet vom Sterben Charlotte Cordays erzählt und berichtet, wie sie im Gefängnis, bevor der Henker kam, den Besuch eines Malers empfing, der sie porträtierte, präzisiert er schließlich: "nachdem anderthalb Stunden verstrichen waren, klopfte es leise an eine kleine hinter ihr befindliche Tür" (Michelet 1967: 292). Damit machen diese Autoren (so wie manch andere auch) Bemerkungen [notations], welche die strukturale Analyse, um Freilegung und Systematisierung der Artikulation der Erzählung im großen bemüht, gewöhnlich auch heute noch außer acht läßt: sei's daß man (durch Verschweigen) bei der Aufstellung der Strukturelemente alle "überflüssigen" Details herausfallen läßt, sei's daß man (wie es der Verfasser dieser Zeilen versuchsweise selbst getan hat) (Barthes 1977) sie als mit einem indirekten Funktionswert begabte (katalytische) "Füllsel" behandelt, dergestalt, daß sie, wo sie hinzukommen, einen Hinweis auf Charakter oder Atmosphäre geben und sich so schließlich von der Struktur wieder vereinnahmen lassen.
Und doch scheint es, daß die Analyse, um wirklich vollständig zu sein (und was würde eine Methode auch taugen, die von ihrem Gegenstand in seiner Integralität, und das hieße hier: von dem narrativen Gewebe in seiner gesamten Reichweite nicht Rechenschaft zu geben wüßte?), danach trachten wird, auch noch das absolute Detail, die nicht weiter teilbare Einheit, den flüchtigen Übergang zu erfassen, um ihnen ihren Platz in der Struktur zuzuweisen, und daß sie dabei ganz unausweichlich auf Aufzeichnungen stoßen muß, die in keiner Funktion (auch nicht der mittelbarsten) zu begründen sind. Solche Notizen sind (vom Strukturgesichtspunkt her gesehen) ein ungehöriges Ärgernis oder, fast noch beunruhigender, scheinen so etwas wie einem 'Luxus' des Erzählens zuzugehören, der verschwenderisch mit "unnützen" Einzelheiten um sich wirft und so stellenweise den Preis der narrativen Information in die Höhe treibt. Auch wenn man in der Beschreibung Flauberts die Bemerkung zum Klavier allenfalls als Hinweis auf die bürgerliche Stellung seiner Besitzerin ansehen kann und das Notieren der Kartons als ein Zeichen von Unordnung und fast schon von Niedergang, was beides die Atmosphäre im Hause Aubain wohl treffend konnotiert, so scheint doch keinerlei Zweckhaftigkeit den Verweis auf das Barometer zu rechtfertigen, auf dieses Objekt, das weder unpassend noch bezeichnend ist und daher in der Ordnung des 'Notierenswerten' auf den ersten Blick gar nichts verloren hat. Dieselbe Schwierigkeit, in einer strukturalen Analyse mit allen Einzelheiten etwas anfangen zu können, haben wir auch bei dem Satz von Michelet: Daß nach dem Maler der Henker kommt, ist für die Geschichte das einzige, was zählt; die Zeit des Posierens sowie Ort und Größe der Tür aber sind unerheblich (wiewohl das Motiv der Pforte und das sachte Anklopfen des Todes einen unstreitigen Symbolwert haben). Kurz, diese "unnützen Details" - es müssen gar nicht viele sein - scheinen unvermeidlich: jede Erzählung, zumindest jede westliche Erzählung geläufigen Typs, hat einige davon.
Die insignifikante (unbedeutende)1 (d.h., das Wort im starken Sinn genommen: der semiotischen Struktur der Erzählung entzogene) Aufzeichnung verschwistert sich mit der Beschreibung (oder Deskription), selbst wenn das Objekt nur durch ein einziges Wort bezeichnet (oder denotiert) zu sein scheint, – doch in Wirklichkeit gibt es das reine Wort nicht: das Barometer Flauberts wird nicht um seiner selbst willen [en soi] zitiert: es wird in einem zugleich referentiellen und syntaktischen sog. Syntagma situiert und gefaßt. Das unterstreicht den änigmatischen Charakter jeder Deskription, wozu ein paar Worte zu sagen sind. Die Struktur der Erzählung, so wie sie hie und da bislang analysiert worden ist, erscheint generell als eine wesentlich 'prädiktive', also voraussagende. In extremer Schematisierung (und ohne die zahlreichen Umwege, Verzögerungen, Umschwünge und Finten zu berücksichtigen, die die Erzählung diesem Schema von Haus aus auferlegt), kann man sagen, daß bei jeder Artikulation eines narrativen Syntagmas dem Helden (oder dem Leser, das macht wenig aus) gesagt wird: wenn du so oder so handelst, wenn du dich, vor die Wahl gestellt, für dieses oder jenes entscheidest, dann wirst Du das und das davon haben – der 'Berichtscharakter' dieser Prädiktionen (oder Voraussagen) verändert nichts an deren praktischer Natur.
Ganz anders geartet ist die Deskription: sie hat keinerlei prädiktive Prägung; als "analogische" ist ihre Struktur rein summierend und entbehrt jenes (im Unterschied zu 'Objekt' und 'Subjekt' so genannten) 'Transjekts' von Wahlen und Alternativen, das der Narration - unter der Voraussetzung einer referentiellen (und nicht allein diskursiven) Zeitlichkeit - den bezeichnenden Zug eines weitgreifenden 'dispatching' gibt. Es ist dies eine Entgegensetzung von anthropologischer Bedeutung: Nachdem man unter dem Einfluß der Arbeiten von Frischs schon mit der Vorstellung gespielt hat, daß Bienen eine Sprache haben könnten, hat man doch konstatieren müssen, daß, wenn diese Tiere auch über ein prädiktives System von Tänzen (zum Einsammeln ihrer Nahrung) verfügten, dieses doch einer Deskription mitnichten nahe- oder gar gleichkäme (Bresson 1963). Die Beschreibung erscheint hier als eine "Eigentümlichkeit" der sogenannten höheren Sprachen, gerade insofern sie - ein offensichtliches Paradoxon - durch keine Zweckmäßigkeit des Handelns oder Kommunizierens begründet ist. Das Für-sich-selbst-und-allein-Stehen der Beschreibung (oder des "nutzlosen Details") im Gewebe der Erzählung bezeichnet eine Frage, die für die strukturale Analyse des Erzählens von größter Bedeutung ist. Es ist die folgende: Ist alles in der Erzählung signifikant oder, wenn dem nicht so ist und insignifikante Gefilde im narrativen Syntagma verbleiben, worin besteht dann letztlich die Signifikation dieser Insignifikanz (oder die Bedeutung dieser Unbedeutendheit)?
Es sollte zuerst daran erinnert werden, daß eine der größeren Strömungen innerhalb der okzidentalen Kultur die Deskription keineswegs im Sinnlosen belassen, sondern sie mit einer in der Institution der Literatur durchaus anerkannten Zweckhaftigkeit bedacht hat. Diese Strömung ist die Rhetorik und ihr Zweck ist der des "Schönen", will sagen: Der Beschreibung wurde lange Zeit hindurch eine ästhetische Funktion zugeschrieben. Die Antike hatte schon früh den zwei ausdrücklich funktionellen Redegattungen, der gerichtlichen und der politischen, eine dritte hinzugefügt, die der epideiktischen, d.h. der Prunk- oder Gelegenheitsrede, die auf die Bewunderung (und nicht mehr auf die Überredung) des Auditoriums ausgerichtet war und - nach welchen rituellen Regeln sie auch immer inszeniert wurde: ob zum Lobe eines Helden oder eines Verstorbenen - in nuce bereits die Idee eines ästhetischen Endzwecks der Sprache enthielt. In der alexandrinischen neuen Rhetorik (aus dem 2. Jh. nach Christus) hatte man eine besondere Vorliebe für die 'Ekphrasis' als ein herauslösbares (also sein Ziel und seinen Zweck, unabhängig von seiner Funktion im Gesamt, in sich tragendes) Glanzstück, das die Beschreibung von Gegenden und Zeiten, von Personen und Kunstwerken zum Gegenstand hatte, und diese Tradition hat sich durchs Mittelalter hindurch gehalten. In jener Zeit ist (wie E.R. Curtius sehr schön gezeigt hat) (Curtius 1948) die Deskription keiner Art von Realismus verpflichtet: Auf Wahrheit (oder auch nur Wahrscheinlichkeit) kommt es bei ihr kaum an; es stört überhaupt nicht, wenn Löwen oder Ölbäume in nordische Länder versetzt werden. Nur der Formzwang der beschreibenden Gattung zählt, und dessen Wahrscheinliches ist nicht referentiell, sondern offenkundig diskursiv, d.h. bemißt sich nicht nach einer etwa gemeinten Sache, sondern nach der Rede. Es sind die Gattungsregeln des Diskurses, die hier maß- und gesetzgebend sind.
Springen wir wieder zurück zu Flaubert, so bemerken wir, daß der ästhetische Zweck der Beschreibung noch sehr stark ist. In Madame Bovary ist die Beschreibung von Rouen (dem realen Referenten, wenn es einer wäre) den tyrannischen Zwängen des, wie man wohl sagen muß, ästhetisch Wahrscheinlichen unterworfen, wie die im Laufe von sechs aufeinanderfolgenden Bearbeitungen an diesem Textstück angebrachten Korrekturen bezeugen.2 Was dabei als erstes auffällt, ist, daß diese Korrekturen keineswegs aus einer intensiveren Betrachtung des Modells erwachsen: Rouen, so wie es von Flaubert wahrgenommen wird, bleibt immer dasselbe oder, genauer gesagt: wenn es sich von einer Version zur andern ein wenig verändert, so einzig deshalb, weil es darauf ankommt, ein Bild zusammenzuziehen oder einen von den Regeln des schönen Stils mißbilligten Lautanklang auszumerzen oder auch, den Zufallsfund eines gelungenen Ausdrucks "unter Dach und Fach zu bringen [caser]".3
Daraus wird ersichtlich, daß das Beschreibungsgeflecht, das (durch seinen Umfang und seine Sorgfalt fürs Detail) auf den ersten Blick dem Objekt 'Rouen' große Wichtigkeit zuzumessen scheint, in Wirklichkeit nur eine Art Hintergrund zur Fassung einiger seltener Metaphernjuwelen darstellt: das neutrale und prosaische Bindemittel zur Einkleidung des kostbaren symbolischen Gehalts, – als ob es bei diesem Rouen allein auf die rhetorischen Figuren ankäme, zu denen der Blick auf die Stadt Anlaß gibt, und als ob Rouen nur bemerkenswert wäre dank des ihm derart Unterschobenen (Masten wie ein Wald von Nadeln, Inseln wie große schwarze festgehaltene Fische, Wolken wie luftige Fluten, die geräuschlos gegen eine Felswand branden). Und schließlich ersieht man daraus, daß die ganze Beschreibung im Hinblick darauf 'konstruiert' ist, Rouen einem Gemälde anzugleichen: es ist eine gemalte Szene, welche die Sprache in Gewahrsam nimmt ("So, von oben besehen, lag die ganze weite Landschaft so bewegungslos da wie ein gemaltes Bild").
Der Schriftsteller erfüllt hier die Definition, die Platon vom Künstler gibt: er sei ein Macher dritten Grades, weil er nachbildet, was selber schon die Simulation und also das Schattenbild eines wirklich Seienden ist (Platon). Dergestalt ist die Beschreibung von Rouen, so vollkommen "impertinent" (d.h. ungehörig) sie inbezug auf die Erzählstruktur von Madame Bovary auch sein mag (da man sie mit keiner funktionalen Folge und keinem den Charakter, die Atmosphäre oder das Fluidum betreffenden Signifikat in eine triftige Verbindung bringen kann), doch keineswegs ungehörig-unpassend, sondern findet sich gerechtfertigt – wo nicht durch die Logik des Werks, so durch die Gesetze der Literatur: sie hat ihren "Sinn"; und dieser besteht in ihrer Angemessenheit nicht an das (reale) Modell, sondern an die kulturellen Regeln der Darstellung.
Gleichwohl ist der ästhetische Zweck der Flaubertschen Beschreibung durchsetzt mit "realistischen" Anforderungen, als ob die - jeder andern Funktion überlegene und gegen sie gleichgültige - Exaktheit des Referenten das Ausschlaggebende sei und es anscheinend allein rechtfertigte, ihn zu beschreiben oder (wo das Beschreiben sich auf ein Wort reduziert) zu bezeichnen [denoter]. Kurz, die ästhetischen Zwänge verquicken sich hier - zumindest im Sinne eines Alibis - mit referentiellen. Und so wäre damals, wäre man mit der Kutsche vor Rouen angekommen, die Aussicht für denjenigen, der den Hügel hinabsteigt der zur Stadt abfällt, "objektiv" nicht anders gewesen als die Panoramaansicht, die Flaubert beschreibt. Diese Mischung und dieses Hin und Her der Zwänge hat einen doppelten Vorteil. Einerseits verhindert die ästhetische Funktion, indem sie "dem Stück" einen Sinn gibt, das, was man als Taumeln der Aufzeichnung benennen könnte.
Denn wenn die diskursive Rede nicht mehr von den strukturalen Erfordernissen der Anekdote (mit ihren Funktionen und Indizien) gelenkt und beschränkt wäre, gäbe es auch keinerlei Anhaltspunkt mehr, weshalb die Detailbeschreibung hier oder dort aufhören sollte: Wäre sie keiner ästhetischen oder rhetorischen Auswahl unterworfen, so wäre jede "Ansicht" durch den Diskurs unerfaßbar, denn es gäbe immer noch einen Winkel, eine Einzelheit, eine räumliche oder farbliche Nuance zu berichten. Und indem die Beschreibung anderseits den Referenten als realen setzt und vorgibt, sich sklavisch nach ihm zu richten, entkommt sie dem Sog eines phantasmatischen Agierens (eine Vorsichtsmaßnahme, die man der "Objektivität" der Relation [=Referentenbeziehung] schuldig zu sein glaubte). Die klassische Rhetorik hatte das Phantasma gewissermaßen institutionalisiert in Gestalt einer besonderen Redefigur namens Hypotyposis [d.h. Abbildung, Entwurf, Vorbild] mit der Aufgabe, "dem Hörer die Dinge vor Augen zu führen", und zwar nicht in neutraler, konstatierender Weise, sondern indem die Darstellung mit allem Glanz des Verlangens ausgestattet wurde (so gehörte es sich für die mit farbigen Schilderungen lebhaft herausgeputzte sog. illustris oratio). Der Realismus, der erklärtermaßen die Zwänge des rhetorischen Kodes hintanstellt, muß einen neuen Grund fürs Beschreiben suchen.
Die unerläßlichen Rückstände der funktionalen Analyse kommen zusammen in der Bezeichnung dessen, was üblicherweise das "konkrete Reale" heißt (unscheinbare Gesten, vorübergehende Haltungen, unbedeutende Gegenstände, wiederkehrende Worte). Die schlichte und einfache "Vorstellung [représentation]" des "Realen", die bloße Darstellung [relation] dessen, "was ist" (oder gewesen ist), erscheint dabei als ein Widerstand gegen den Sinn; dieser Widerstand bekräftigt den großen mythischen Gegensatz zwischen dem Gelebten (Lebendigen) und dem Intelligiblen. Man muß sich nur daran erinnern, daß in der Ideologie unserer Zeit die zwanghafte Bezugnahme aufs "Konkrete" (wie es rhetorisch den Humanwissenschaften, der Literatur und den Verhaltensweisen abverlangt wird) immer wie eine Kriegsmaschine gepanzert gegen den Sinn antritt, als ob es von Rechts wegen ausgeschlossen wäre, daß das, was lebt, Bedeutung tragen könnte – und umgekehrt. Der Widerstand des "Realen" (in seiner geschriebenen Form, wohlverstanden) gegen die Struktur ist ziemlich eng begrenzt in der fiktiven Erzählung, die per definitionem nach einem Modell gebaut ist, das im großen Ganzen keine andern Zwänge kennt als die des Intelligiblen; doch das nämliche Reale wird zur wesentlichen Referenz in der Geschichtserzählung, für deren Aufgabe es doch gehalten wird, zu berichten, "wie es wirklich gewesen ist".
Was hat die Funktionslosigkeit eines Details noch zu besagen, sobald es bezeichnet, "was stattgefunden hat": das "reale Konkrete" wird zur hinreichenden Rechtfertigung des Sprechens. Die Geschichte (der historische Diskurs: historia rerum gestarum) ist in der Tat das Vorbild dieser Erzählungen, die die Fugen zwischen ihren Funktionen mit strukturell überflüssigen Notizen zu füllen pflegen; und folgerichtig ist der literarische Realismus denn auch bis vor einigen Jahrzehnten gleichzeitig mit der "objektiven" Geschichte im Schwange gewesen, wozu man noch die aktuelle Entwicklung der Techniken, Werke und Institutionen beiziehen muß, die auf das unablässige Bedürfnis gegründet sind, das "Reale" zu bezeugen: die Photographie (der krude Zeuge dessen, "was da war"), die Reportage, die Ausstellungen antiquarischer Objekte (der Erfolg der Tutanchamun-Schau hat es wieder zur Genüge gezeigt), der Tourismus zu den historischen Stätten und Denkmälern. All das besagt, daß dem "Realen" zugetraut wird, sich selbst zu genügen, daß es stark genug ist, jede Idee einer "Funktion" zu dementieren, daß seine Aussage es nicht nötig hat, sich in eine Struktur zu integrieren, und daß das Da-gewesen-Sein der Dinge ein hinreichender Grund für das Sprechen ist.
Seit dem Altertum stand das "Reale" auf der Seite der Historie, jedoch um sich vom Wahrscheinlichen, d.h. von dem, was gerade die Ordnung der Erzählung (der Nachbildung oder "Poesie") ausmacht, besser abzusetzen. Die gesamte klassische Kultur hat jahrhundertelang in der Vorstellung gelebt, das Reale könne dem Wahrscheinlichen nichts anhaben: Zunächst deshalb, weil das Wahrscheinliche immer nur das Vermeintliche, ganz und gar der (öffentlichen) Meinung Unterworfene ist. So konnte Nicole etwa sagen: "Man soll die Dinge nicht so sehen, wie sie an und für sich sind, auch nicht so, wie der sie versteht, der spricht oder schreibt, sondern lediglich im Hinblick auf das Verständnis derer, die lesen oder hören" (Bray 1963: 208). Zum andern deswegen, weil die Geschichte, wie man dachte, etwas Allgemeines, nicht etwas Besonderes ist (daher die Neigung der klassischen Texte, alle Einzelheiten zu funktionalisieren, starke Strukturen zu produzieren und anscheinend keine Aufzeichnung bei der bloßen Deckung durchs "Reale" zu belassen). Und schließlich deswegen, weil im Wahrscheinlichen das Gegenteil nie unmöglich ist, denn das Aufschreiben oder Notieren beruht dabei auf einer mehrheitlichen, nicht aber absoluten Meinung. Das große Wort, das eingangs eines jeden klassischen Diskurses (dem alten Wahrscheinlichen entsprechend) stillschweigend mitgemeint ist, lautet: 'esto' (es sei; gehen wir davon aus, daß...). Die "reale" oder stückweise intermittierende, wie man auch sagen könnte, Aufzeichnung aber, um die es uns hier geht, verzichtet auf solche implizite Einführung und nimmt in dem strukturalen Gewebe erst Platz, nachdem sie alle postulativen Hintergedanken von sich abgetan hat. Eben deshalb gibt es einen Bruch zwischen dem alten Wahrscheinlichen und dem modernen Realismus; aber eben deshalb entsteht hier auch ein neues Wahrscheinliches, und zwar der nämliche Realismus (worunter wir einen jeden Diskurs verstehen wollen, der allein vom Referenten beglaubigte Aussagen akzeptiert).
In semiotischer Sicht ist das "konkrete Detail" durch die 'direkte' Kollusion (Kurzschließung) eines Referenten und eines Signifikanten konstituiert; das Signifikat wird aus dem Zeichen vertrieben und mit ihm selbstverständlich auch die Möglichkeit, eine 'Form des Signifikats' zu entwickeln, was aber heißt: die narrative Struktur selber. (Die realistische Literatur ist gewiß narrativ, aber nur deswegen, weil der Realimus in ihr lediglich ein aus erratischen Stücken bestehender und auf die "Details" beschränkter ist und also noch die realistischste Erzählung, die man sich vorstellen kann, auf irrealistischen Wegen fortschreitet.) Man könnte das die 'referentielle' Illusion nennen.4 Die Wahrheit dieser Illusion ist die: Von der realistischen Aussage in seiner Eigenschaft als Signifikat von Denotation (oder Bezeichnung) unterdrückt, kehrt das "Reale" als Signifikat von Konnotation (oder Mitbedeutung) wieder. Denn sobald diese Details das Reale vermeintlich direkt denotieren (oder abzeichnen), tun sie, ohne es zu sagen, nichts anderes, als es zu signifizieren (oder zu bedeuten): Das Barometer bei Flaubert, das Pförtchen bei Michelet sagen am Ende nichts anderes als eben dies: 'wir sind das Reale'. Was damit signifiziert wird, ist die Kategorie des "Realen" (und nicht seine kontingenten Inhalte); anders gesagt, die Aussparung eben des Signifikats zugunsten des bloßen Referenten wird zum Signifikanten gerade des Realismus. Und herauskommt ein 'Real(itäts)effekt' als Fundierung jenes uneingestandenen Wahrscheinlichen, das die Ästhetik aller geläufigen Werke der Moderne bildet.
Dieses neue Wahrscheinliche ist sehr verschieden vom alten, denn es besteht weder in der Rücksicht auf die "Gesetze der Gattung(spoetik)", noch etwa in deren Maskierung, sondern es geht hervor aus der Intention, die dreiteilige Natur des Zeichens zu verändern, um aus der Aufzeichnung das bloße Zusammentreffen eines Gegenstandes und seines Ausdrucks zu machen. Die Desintegration des Zeichens - worin man wohl die große Angelegenheit der Moderne sehen darf - ist in dem Unternehmen des Realismus gewiß präsent, jedoch auf gewissermaßen regressive Weise, insofern sie im Namen einer referentiellen Fülle stattfindet, wo es sich doch heute im Gegenteil darum handelt, das Zeichen zu entleeren und seinen Gegenstand unendlich zurückzustellen – bis hin zur radikalen Infragestellung der säkularen Ästhetik der "Repräsentation".
Übersetzt aus dem Französischen von Konrad Honsel,
durchgesehen von Michaela Ott.
frz. Original in: Littérature et réalité, Paris 1982, S.81-90, "L'effet de réel", ursprünglich veröffentlicht in Communications, 11 (1968).
Abalat, A. (1903) Le Travail du style. Paris.
Barthes Roland (1977) Introduction à l'analyse structurale des récits, in: Barthes, Roland u.a. Poétique du récit. Paris 1977, S. 7-57.
Bray, R. (1963) Formation de la doctrine classique. Paris.
Bresson, F. (1963) La signification, in: ders. Problèmes de psycho-linguistique. Paris.
Curtius, Ernst Robert (1948) Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München.
Flaubert, Gustave (1893) Un coeur simple (aus: Trois Contes). Paris.
Jullian, C. (o.J.) Historiens français du XIXe siècle. Paris.
Michelet, Jules (1967) Histoire de France. La Révolution, Bd. V, Lausanne Platon, Politeia, X, 599.