Die Welt soll wieder gezeigt werden, wie sie ist. Dieses Credo verbindet jüngere Produktionen des Films mit denen des Theaters, der bildenden Kunst, der Fotografie und des Fernsehens: Es gilt, die Wirklichkeit ohne großen inszenatorischen Aufwand greifbar zu machen. Spontane Äußerungen eines gegenwärtigen Erlebens sollen im Kino, im Theater und im Ausstellungsraum erfahrbar werden.
Wie kann man die neue Sehnsucht nach dem puren Leben verstehen? Welche Indizien beweisen überhaupt, daß es sich um Wirklichkeit handelt? Wie sind Welten gebaut, die man authentisch oder realistisch nennt? Was fesselt uns an ihnen, was stößt uns ab? Das sind einige der Fragen, die wir in der zweiten Ausgabe unter dem Titel "show reality | reality shows" aufwerfen. Show Reality - zeige die Realität. Der Imperativ scheint in der Luft zu liegen. Reality Shows können TV-Rituale sein, die mit dem Vorschlaghammer schockieren. Aber Wirklichkeit kann man auch, wie Roland Barthes oder Siegfried Kracauer gezeigt haben, in kleinen Überschüssen wahrnehmen.
Roland Barthes' 1968 in Frankreich erschienener Text L'éffet de réel kann als Angelpunkt der Ausgabe betrachtet werden. Angesichts der Hinwendung jüngerer Produktionen zu Variationen des Realismus gewinnt er eine besondere Aktualität. Nach dem Film macht ihn unter dem Titel Der Real(itäts)effekt erstmals in deutscher Sprache zugänglich.
Die Begriffe show und reality können auf unterschiedliche Wege führen, z.B. in die frühe Filmgeschichte, zu Méliès und Lumière. Ein bekanntes Bild für den Realitätseindruck im Kino ist die Episode um den einfahrenden Zug in einem frühen Film der Lumières, vor dem die Zuschauer erschrocken davongelaufen sein sollen. L'ARRIVE D'UN TRAIN (F 1896) zeigt Bilder eines echten Zuges, die bei der Einfahrt in den Bahnhof aufgenommen wurden. Méliès ließ 1904 in seinem Film VOYAGE À TRAVERS L'IMPOSSIBLE (F 1904) ebenfalls einen Zug mitspielen, allerdings eine Spielzeugeisenbahn, die durch eine künstliche Landschaft fährt: auf der einen Seite Méliès' Filme, die für das Unechte, Inszenierte, den show-Aspekt einstehen, auf der anderen Seite die Filme der Lumières, die das Echte und Authentische verkörpern, den Aspekt reality. Aus der Perspektive von 'nach dem Film' handelt es sich hierbei jedoch nicht um einen unvereinbaren Gegensatz.
Daß es keine wirkungsvollere Show als das vermeintlich pure, ungekünstelte Leben zu geben scheint, beweist heute der Erfolgt von Big Brother oder Dogma95. Daß es umgekehrt keine reality ohne show gibt, beweisen die gleichen Beispiele. Show und reality überlagern sich aber nicht erst in postmodernen Produktionen, wie man an den beiden Zugbildern sehen kann. In Kracauers Theorie des Films fungieren die Bilder als Beleg für die Unterschiedlichkeit zwischen zwei Seiten des Films: dem Echten, Dokumentarischen und dem Inszenierten, der Illusion. Ihre spezifische Anordnung auf zwei gegenüberliegenden Buchseiten produziert einen Überschuß, der auf die Durchdringung der Positionen aufmerksam macht.
Die Eisenbahnschienen, die bei Lumière das Bild diagonal durchmessen - sie verlaufen von rechts hinten nach links vorne - lassen, auf die andere Seite hinübergespiegelt, die Route des Méliès-Zuges erkennen. In der gegenseitigen Spiegelung wird die Differenz zwischen den Zügen von Ähnlichkeit überlagert. Von hier aus verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Traum, Wirklichkeit und Spiel. Damit eröffnet sich ein gedankliches Feld, das für die Zusammenstellung der Texte in der zweiten Ausgabe entscheidend war.
Ähnlich wie das Bild von den Zügen funktioniert auch der Titel "show reality | reality shows", in dem beide Seiten durch einen senkrechten Balken voneinander getrennt sind. Analog zum Falz des Buches, an dessen Achse die Seiten zusammenkommen, fungiert auch der typographische Balken als Spiegel, der die Positionen show und reality verdoppelt und verschränkt. Für das Inhaltsverzeichnis ergibt sich daraus eine provisorische Ordnung. Untergliedert haben wir "show reality" mit den Begriffen manifest, authentisch, medial, und "reality shows" mit latent, wirklich wahr, künstlich.
Für die Redaktion: Sabine Nessel