Was Fake-Dokus von der Wahrheit halten
1Vielleicht erinnern wir uns kurz an eine beliebte Denksport-, besser: Wahrnehmungssportaufgabe in nicht minder beliebten Illustrierten, wo es darum geht, zwischen zwei vorderhand identischen Bildern – meist Klassiker der Malerei – das Original und die Kopie auszumachen: "Original und Fälschung – finden sie die 10 Fehler!". Nach dem Durchexerzieren der Aufgabe darf man sich für einen Moment als Experte fühlen, der den Unterschied dingfest gemacht und die Fälschung durch hartnäckiges Vergleichen entlarvt hat. Freilich hat uns der Fälscher freundlicherweise vorher zu verstehen gegeben, dass er zehn Abweichungen eingebaut hat – nicht auszudenken, es wären mehr als zehn gewesen, wir hätten sie womöglich gar nicht bemerkt, weil wir ohnehin nur bis Zehn gezählt haben.
Das erwähnte Beispiel wahrt noch die Hierarchie zwischen dem Konzept des Originals und der Kopie: die Wahrheit des auratischen Originals usurpiert die Kopie und denunziert sie als falschen Fuffziger, eben als schlechte, weil abgeleitete Kopie. Was aber, wenn die Kopie ohne das Original auskommt, auf den Ursprung pfeift und sich selbständig macht? Oder medientheoretisch umgemünzt: Was wenn das Prinzip der Äquivalenz zwischen Zeichen und Realem aufgehoben wird und damit das Repräsentationssystem gekippt und von der selbstläufigen Dominanz der Trugbilder suspendiert wird? Die Antwort ist nur allzu bekannt, die (mitunter) apokalyptische Debatte über die Eigenwirklichkeit der Simulation und über den daraus resultierenden Welt- und Wirklichkeitsverlust beginnt an der Eingangstür.
Wenn es hier um gefälschte Dokumentarfilme gehen soll, im Englischen auch 'mockumentaries' (also: Spott-Dokumentarfilme, man könnte auch Verarschungs-Dokus sagen) – hier im folgenden Fake-Dokus genannt – , dann scheint mir der Simulationsbegriff zu unspezifisch, weil er zwar vielleicht ganz allgemein über eine wie immer geartete apparative Medienwirklichkeit etwas auszusagen imstande ist, nicht aber über das eigenartige Korpus an Filmen, von denen ZELIG (USA 1983) einer ist. Was mich interessiert, sind einerseits einige diskursive Eigenschaften und Praktiken von Fake-Dokus im Feld des Dokumentarfilms, andererseits einige Überlegungen zum Wahrheitsproblem, das den Bildtypus dieser Filme prägt.
Zelig – ein "menschliches Chamäleon" – weiß nicht, wer er ist. Er sieht Woody Allen zum Verwechseln ähnlich, ändert ständig seine Identität und taucht an allen möglichen Orten der (vornehmlich US-amerikanischen) Zeitgeschichte auf, in der Welt des Showbusiness ebenso wie in der Politik. Zelig ist das Gespenst in einer Geschichte/Historie, die sich nun nicht mehr als kausalistische Abfolge von Begebenheiten verstehen kann, sondern als von Rupturen durchzogenes Geröll an monistischen Ereignissen. ZELIG, der Film, versammelt jene Filmdokumente, in denen Zelig Spuren hinterlassen hat, und versucht, diese disparaten geisterhaften Materialisationen durch erzählerische Gewaltakte, schließlich durch die Psychoanalyse, der sich Zelig unterzieht, in Narration und Historie zu verwandeln. Dieses fiktionalisierende und gleichzeitig historisierende Fabulieren auf der Grundlage prinzipiell unabgeschlossener, vereinzelter Ereignisse, zeichnet – folgt man Hayden Whites Verständnis von Geschichtsschreibung als 'emplotment'2 – nicht nur jeden historischen Text aus. Diese Re-Narrativisierung historischen 'Rohmaterials' ist in prekärer Weise auch für Fake-Dokus relevant.
Um welche Filme geht es hier also (außer um ZELIG)?
Etwa um solche, die wie ZELIG den Geschichts-Fake-Dokus zuzurechnen sind, z. B. TRIBULATION 99 (USA 1990) von Craig Baldwin (satirische Rechtfertigung der US-Mittelamerikapolitik als nuklearer Abwehrkampf gegen Außerirdische), THE FALLS (GB 1980) von Peter Greenaway (seltsame Gemeinsamkeiten einer Gruppe von Menschen unter dem Eindruck eines "great unknown event"), DIE DELEGATION (BRD 1970) von Rainer Erler (gescheiterter Kontakt mit Außerirdischen und CIA-Machenschaften) oder die ersten 10 Minuten – die Wochenschau – in CITIZEN KANE (USA 1941) von Orson Welles. Ihnen ist gemeinsam, dass sie entweder eine populäre Figur oder ein mehr oder weniger globales Ereignis (Weltuntergang, UFO-Landungen, 3. Weltkrieg) in der Vergangenheit oder der Zukunft zum Thema haben. Im Übrigen gibt es darunter auch eine Fernsehdoku, die just DER 3. WELTKRIEG (D 1998) heißt, entstanden unter der Leitung von Guido Knopp, der u.a. auch für die beliebte TV-Serie Hitlers Helfer verantwortlich zeichnete. Er schildert aus einer zukünftigen Perspektive, wie es zum Ausbruch eines Atomkriegs kommen konnte, weil die Berliner Mauer nicht gefallen war. (Der Film sieht genauso aus wie alle anderen von Knopp und ist über weite Strecken auch genauso reißerisch auf einige individuierte Bösewichter zugeschnitten.)
Die meisten dieser Filme setzen gerne 'found footage' ein, also Filmmaterial, das in öffentlichen oder privaten audiovisuellen Archiven 'gefunden', hervorgekramt und recycelt wird. Oder ihr Material ist derart bearbeitet, dass es wie 'found footage' bzw. historisches Wochenschau- oder TV-Nachrichtenmaterial aussieht. Dieses Material wird dann per 'crosscutting' mit eigens gedrehten Einstellungen und Szenen durchsetzt. Andere, wie Orson Welles F FOR FAKE (USA 1973), machen das Bildermachen und – fälschen selbst zum Sujet des Films, um es auf den Akt der Hervorbringung filmischer Bilder auszuspiegeln. Des Weiteren gibt es mindestens drei Dokus über Rockgruppen oder -stars (sog. 'Rockumentaries'), die nie existierten, scheinbar aber deutliche Spuren hinterließen: HARD CORE LOGO (CDN 1996), THIS IS SPINAL TAP (USA 1984), und ALL YOU NEED IS CASH aka THE RUTLES (GB 1978) von den Monty Pythons über eine gleichnamige Popformation, die den Beatles zum Verwechseln ähnlich sieht. Schließlich bleibt mir natürlich noch der Hinweis auf THE BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999), der zwar als Horrorfilm gehandelt wird, eigentlich aber eine großangelegte Fake-Doku im Medienverbund mit dem Internet ist. (Nicht zu vergessen: die Ende der 70er Jahre im ORF und ich glaube auch in der ARD populäre Serie Wer 3x lügt mit Günter Tolar (bzw. Günther Spier), wo man unter acht (später sechs) verschiedenen Reportagen die drei gefälschten ausmachen musste. Als Preis winkte die sogenannte 'Diplomskeptiker-urkunde'. Ich erinnere mich noch an das Kalb, das skifahren konnte, was sich aber nachträglich als gelogen herausgestellt hat, obwohl man das Kalb tatsächlich auf Skiern fahrend gesehen hatte. – ?! –)
Der diskursive Rahmen, in dem sich Fake-Dokus bewegen, ist meistens relativ deutlich erkennbar: Immer weiß man, dass das, was in den nächsten 90 Minuten sichtbar wird, sich s o nicht zugetragen hat. Trotzdem tun sie alles dazu (und dies meist ohne jede vordergründige Ironie), die geschilderten Ereignisse möglichst glaubwürdig darzustellen. Wir 'wissen' bloß, dass wir es mit einer Fälschung zu tun haben. Die Frage ist nur: Was wird gefälscht? Was ist die Vorlage, das Original etc.?
Mein eingangs erwähntes Beispiel war in dieser Hinsicht wohl nicht sehr treffend gewählt. Es impliziert einen Unterschied zwischen dem Original und der Kopie. Die Fälschung zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass sie vom Original vorderhand nicht zu unterscheiden ist. So begeben sich Fake-Dokus scheinbar in eine paradoxe Situation: Obwohl sie uns zu verstehen geben, dass sie falsch sind, geben sie keine Auskunft darüber, was ihre Vorlage, ihr Original ist. Sie behaupten sich als Selbstzweck und igeln sich ein.
"Platonisch gedacht", so Helmut Weggen über die Fälschung, "wäre also nicht die Idee, nicht eine Original-zeichnung das Vorbild für die Materialisation, sondern eine Mimesis dritter Ordnung. Dem Erscheinenden wird ein Ursprung appliziert, dessen Form die Form seines Sinns ist."3
Dies hieße, dass sich Fake-Dokus ihren Ursprung gleichsam zurechtbasteln, 'erfinden', im selben Augenblick aber dieses erfinderische Moment – nennen wir es vorläufig Fiktion – gleich wieder verwerfen und sich als Dokument – nennen wir es vorläufig Non-fiction – ausgeben. Auf dieses Moment – die Anerkennung und gleichzeitige Verwerfung des Ursprungs – werde ich später noch ausführlicher zurückkommen.
Was mich einstweilen noch beschäftigt ist der Begriff des "Ursprungs" – appliziert oder nicht –, der gleichzusetzen wäre mit einer ursprünglichen, vorgängigen Wirklichkeit, welcher das Kino – ginge es nach André Bazin – verpflichtet ist. Wenn ich Bazin richtig verstanden habe, meint er damit nicht eine platte Wiedergabe einer wie immer gearteten Realität, sondern eine Wiedergeburt, Wiederholung (bei Siegfried Kracauer heißt es: "Errettung") der physischen Welt unter den apparativen Voraussetzungen des kinematographischen Automatismus, den Bazin von der Fotografie herleitet:
"Die Fotografie balsamiert die Zeit und errettet sie vor der Zerstörung. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist das Kino Objektivität in der Zeit. Der Film beschränkt sich nicht darauf, das Objekt zu konservieren, (...) so wie die Körper von Insekten, die – aus einer fernen Zeit stammend – intakt in Bernstein erhalten sind. (...) Nun gleicht zum ersten Mal das Bild von Dingen dem Bild ihrer Dauer – die Veränderung selbst wird mumifiziert." (Bazin 1967: 14f).
Dieser Gedanke lässt sich unschwer in der Nähe des platonischen Ideals des "gelungenen Abbilds" in den schönen Künsten verorten: Schöner Schein der Ikonen, deren Schönheit sich aufgrund ihrer Wahrhaftigkeit, sprich: Ähnlichkeit bestätigt.
"Die Ähnlichkeit darf freilich nicht als eine äußere Beziehung begriffen werden: Sie besteht weniger zwischen einer Sache und einer anderen als zwischen einer Sache und einer Idee. (…) Das Abbild ähnelt einer Sache nur insoweit, als es der Idee dieser Sache ähnelt." Das Abbild "stimmt mit dem Objekt nur überein, insofern [es] sich (innerlich und spirituell) die Idee zum Vorbild nimmt. [Es] verdient die Qualität (etwa die Qualität des Gerechten) nur, insoweit [es] sich auf das Wesen (die Gerechtigkeit) stützt" (Deleuze 1993: 314f).
Anders formuliert, ist Bazins Kinoontologie von einem Ethos beseelt, das dem Willen zur Wahrheit geschuldet ist. Ich will einmal behaupten, dass dieses Ethosproblem bis heute seine Macht nicht ganz verloren hat, insbesondere im Dokumentarfilm – den Begriff verwende ich jetzt einmal ganz salopp, unscharf und vor allem: ahistorisch. Etymologisch betrachtet (laut Kluges Etymologisches Lexikon der deutschen Sprache), leitet sich Dokument vom lateinischen "documentum" ab, was soviel heißt wie "Beweis, (wörtlich:) wodurch man etwas lehren/schließen kann", wiederum zu "docere" gehörig: "lehren, unterrichten, nachweisen". Interessanterweise ist damit das Verb "decorare" = "verzieren" verwandt, aber das nur so nebenbei. Der Frage, welche Verwandtschaftsbeziehung demnach zwischen dem Dokument und dem Dekor besteht, will ich hier nicht weiter nachgehen.
Aus meiner Erfahrung im praktischen, produzierenden Umgang mit Dokumentarfilmen kann ich sagen, dass es eine Menge Arbeit ist, dieses Ethos zu verwirklichen, und oft stellt man fest, dass man fälschend eingreift (eigentlich dauernd), um ein Bild zu fassen, das einem gewissen Willen zur Wahrheit genügt – ich sage bewusst n i c h t: der Wahrheit entspricht. Dass diese Arbeit notwendigerweise unsichtbar bleibt, diesen Akt des Ungeschehenmachens der 'Produktion' des 'Wirklichkeitseindrucks' hat Jean-Louis Baudry bereits 1970 als zutiefst ideologischen Akt entlarvt: Schon der kinematografische Basisapparat und die damit verbundene Wahrnehmungsstruktur erweisen sich bei genauerem Hinsehen als eine von herrschender Gesellschaft und Produktion durchwirkte Technik, die eine bürgerlich-ideologische Idee von Wirklichkeit apparativ verdoppelt. Eben: Der Wille zum Wahren, sprich: zu einer gelungenen adäquaten Errettung der äußeren Wirklichkeit in einem organischen Bild, ist so manchem Dokumentarfilm nicht auszutreiben, schon gar nicht journalistischen Reportagen und Dokumentationen (Stichwort: journalistisches Ethos, Verantwortung etc.).
Und gerade Fake-Dokus versuchen, uns immer wieder davon zu überzeugen, dass sie k e i n e Lügengeschichten erzählen und zeigen: durch ihr selbstreflexives Insistieren, durch die Betonung ihrer filmmateriellen Eigenschaften, durch die immer wieder eingestreuten Überlegungen, wie schwierig es denn sei, ein Bild zu erreichen, das dem Wahrheitsethos genügt. Fake-Dokus sind hinsichtlich der Autorisierung ihrer Rede päpstlicher als der Papst. Dieser Umstand sollte uns eigentlich schon stutzig machen. THE BLAIR WITCH PROJECT hält diesbezüglich den Rekord: der Film weist unentwegt auf seinen apparativen Eigensinn und seine Opakheit hin, nimmt dem filmischen Signifikanten seine Transparenz durch die Betonung der Kamerawirklichkeit und der Aufzeichnungsapparatur, und bewirkt gerade dadurch, dass wir mehr halluzinieren, als tatsächlich zu sehen ist.
Aber wieder zurück zum Dokumentarfilm, genauer: zu seinem Lektüredispositiv.
In diesem Zusammenhang verweist Roger Odin die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des Films in das Reich der müßigen Überlegungen:
”Er [der Begriff "Wirklichkeitsbezug"] zwingt nämlich zur Definition dessen, was man unter Realität versteht und führt einen unweigerlich in die delikate philosophische Debatte über das Reale und das Imaginäre, das Wahre und das Falsche, kurz, er nötigt einen dazu, den Wert der mitgedachten Realitätsmodelle und – allgemeiner – nach dem Status des Sehens selbst zu stellen” (Odin 1990: 125).
Demzufolge mache es der Einfachheit halber Sinn, von zwei verschiedenen Typen der Film-Lektüre zu sprechen, der 'dokumentarisierenden' und der 'fiktivisierenden'. Und das geht so: Jeder Film erschafft sich sein Publikum, und jeder Film verlangt, auf eine bestimmte Weise gesehen zu werden. So verlangt der Dokumentarfilm etwa, eben auch als Dokumentarfilm gesehen zu werden. Somit kann es nicht mehr darum gehen, sich auf Wirklichkeit oder Fiktionalität des Dargestellten zu stützen, sondern auf "das Bild, das sich der Leser vom Enunziator macht" (Odin 1990: 126). Dieser Enunziator – also die abstrakte diskursive Macht der Äußerung – wird dabei als gegebenes Konstrukt 'vorausgesetzt', wird also dem jeweiligen filmischen Ensemble präsupponiert, worauf sich die dokumentarische, die dokumentarisierende Lektüre gründet.
Daraus lässt sich einiges über die Ausrichtung des Zusehers im Akt der Lektüre folgern. Sowohl vom Vorfeld als auch vom singulären Film erhält man genug Anweisungen, die es erleichtern sollen, sich im Netz des filmischen Diskurses zurechtzufinden und einzunisten (Skepsis oder schlichte Ablehnung dem Gezeigten gegenüber inbegriffen). Der semiopragmatische Ansatz Odins führt uns allerdings zu einigen weiteren Problemen. Indem er nämlich die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug kurzerhand als "zu delikat" bezeichnet, um sie im gleichen Handstreich zu eskamotieren, drückt er sich. Indem er es versprachlicht, verlagert er das Problem bloß: Wir sollen uns nicht mehr auf den Wirklichkeitsbezug stützen, sondern auf das Bild, das wir uns vom Enunziator machen, soll heißen: die Institution, die die Äußerung hervorbringt. Was aber, wenn diese äußernde Instanz den Willen zur Wahrheit nicht aufgeben will, wenn sie nach wie vor dogmatisch eine Wahrheit sucht (und auch zu finden vorgibt), eine Wahrheit hinter dem Bild, verborgen, transzendent? Und vor allem: Was, wenn diese Institution selbst schon in die Krise geraten ist und man ihr a priori schon nicht mir-nichts-dir-nichts glauben will?
Vielleicht müssen wir unsere wahrheitssuchende Apparatur verdrehen, umdrehen, wie Nietzsche am Beginn von Jenseits von Gut und Böse (1886) vorschlägt, wenn er den Wahrheitsbegriff nach seinem moralischen Ursprung befragt:
"Was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen! (...) Was Wunder, wenn wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehen? Dass wir von dieser Sphinx auch unsrerseits das Fragen lernen? 'Wer' ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich 'zur Wahrheit'?" (Nietzsche 1886: 11).
Fake-Dokus führen insofern einen Bruch mit dem Willen zur Wahrheit herbei, weil sie tendenziell den Kopf verdrehen: Nicht mehr das Dargestellte, Mitgeteilte steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Instanz der Vermittlung, zumindest implizit. Was jetzt nicht heißen soll, dass uns jeder Fake-Doku zuruft: "Achtung, ich bin ein Film!" Das tun sie – wie schon erwähnt – auch, aber wie wir gesehen haben, tun sie dies nur, um sich selbst zu beglaubigen – sie machen auf authentisch.
Fake-Dokus operieren raffinierter, benötigen die simple Alternanz von Täuschung und Ent-Täuschung nicht. Ihre Eigenheit ist es, dass sie sich erklärtermaßen weniger auf eine präexistente, ideelle Wirklichkeit, sondern auf andere, bereits existierende Bilder beziehen. Man könnte sagen, dass sie in ihrem Hang, Found Footage zu recyceln, ihren eigenen Sinnstiftungsdiskurs parasitär am vorgeformten Material entfalten. Und selbst Fake-Dokus, die auf Found Footage verzichten, begegnen ihrem Material mit einem gewissen Staunen, so als sei ihnen die Welt, die sie porträtieren, vorerst fremd. In HARD CORE LOGO gerät der zuerst noch hinter der Kamera agierende Regisseur zunehmend selbst in das Intrigenspiel der sich auflösenden Punkband hinein, in F FOR FAKE sieht man Orson Welles immer wieder am Schneidetisch sitzend die Erstaunlichkeiten seiner Aufnahmen kommentieren. Zeligs Diskurs schmiegt sich dagegen frivol an sein Material an: Er lässt Woody Allen immer dann im Bild auftauchen, wenn er dort eigentlich 'gerade nicht' hingehört und ist dann darüber erstaunt, dass er im Bild zu sehen ist. Gerade diese Plazierung, dieses erstaunliche Auftauchen an immer wieder anderen und immer wieder falschen und neuen Orten, verwendet der Film für seine Beweisführung: d a s s nämlich Zelig existiert hat.
Vorhin habe ich schon darauf hingewiesen, dass sich Fake-Dokus (und wohl nicht nur diese) ihren Ursprung zurechtlegen, also gewissermaßen Abbild ohne Original sind. Sie drehen den Spieß um und 'erfinden' das Original kraft des Abbilds. Gleichzeitig aber verwischen sie diesen erfinderischen fiktionalisierenden Diskurs, um sich als Dokument des Originals auszugeben. Diese beiden entgegengesetzten Bewegungen bewirken nicht weniger als die grundlegende Subversion der Beziehung zwischen Original und Abbild und setzen eine Bilderserie frei, die sich nun mit Recht Trugbild nennen kann. Das Trugbild hebelt insofern den Willen zur Wahrheit aus, als es sowohl das Original u n d das Abbild, die beide noch unter der gesetzesmäßigen Idee der Wahrheit stehen, voneinander ununterscheidbar macht. Damit ficht es das Primat eines Originals gegenüber dem Abbild, eines dogmatischen Urbilds gegenüber dem Bild an.
Ich habe meinen vielleicht allzu schematischen Begriff von Dokumentarfilm bewusst an das Bazinsche Kinoideal angelehnt, um zu veranschaulichen, dass Fake-Dokus nicht einfach als essayistische oder dekonstruktivistische Kommentare zu einer mehr oder minder klassisch-organischen Dokumentarfilmästhetik zu verstehen sind. Fake-Dokus sind eher gerade n i c h t modernistisch, weil sie eben k e i n neues Bild anstelle der alten, 'wahren' Bildverkettungen setzen, sondern parodistisch agieren. Soll heißen: Sie versuchen nicht, eine vorgeformte, mehr oder weniger konventionelle Form des Dokumentarfilms zu übersteigen oder abzulösen, sondern eher deren Habitus zu imitieren. Sie nähern sich ihrem Vorbild nicht skeptisch-ironisch, um dieses im Hinblick auf ein noch höheres Wahrheitsprinzip zu übersteigen, sondern packen es bei dessen Wirkungen und Effekten an.
Ich habe vorhin gesagt, Fake-Dokus sind im Hinblick auf die Wahrheit päpstlicher als der Papst. Man kann dies auch anderes formulieren: Im Rahmen der Prinzipien der Filme, auf die sie sich beziehen, machen Fake-Dokus Dienst nach Vorschrift und bringen gerade durch die Übererfüllung das Wahrheitsideal zu Fall. Auf diese Weise begehen sie Verrat am repräsentativen Bild, nicht weil sie es durch ein besseres, wahreres ersetzen, sondern weil sie einen Skandal in dieses Bild hineinbringen.
Ich will versuchen, diese skandalöse Dynamik mit zwei Begriffen zu beschreiben, die Roland Barthes im Rahmen seiner Bemerkungen zur Fotografie entwickelt hat: "studium" und "punctum". Das "studium" bezeichnet einen durchschnittlichen Affekt, man könnte auch sagen eine Gewohnheit, eine Dressur, mit der wir uns der großen Menge an Bildern nähern, in die wir gleichsam habituell eingebettet sind:
"die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit. Aus 'studium' interessiere ich mich für viele Photographien, sei es, indem ich sie als Zeugnisse politischen Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätze: denn als Angehöriger einer Kultur habe ich Teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen" (Barthes 1980: 35).
Im Gegensatz zum "studium", das mich dazu anhält, mich für alles Mögliche zu interessieren, dies und das gewohnheitsmäßig und kompetent zu verarbeiten, ist das "punctum" jenes Element, jenes Skandalon, das aus dem Bild und seinem Zusammenhang hervorschießt: Das "punctum" ist eine empfindliche Stelle des Bildes, eine Art blinder Fleck, von dem das Bild in der Tat punktiert wird. Ein Element, welches das "studium" aus dem Gleichgewicht bringt: "punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel" (Barthes 1980: 36). –
"In dem, was wir sehen", so Slavoj Zizek, "steckt immer ein Punkt, von dem aus uns das Bild selbst ansieht, eine Stelle, an der wir selbst schon ins Bild eingeschrieben sind. (...) Im Bild, das ich sehe, gibt es immer einen 'Fleck', wo ich 'nichts sehe', gerade weil mich von dort aus das Bild selbst ansieht" (Zizek 1991: 34).
Dieser Moment des "punctums", der bei Barthes auf die Kontingenz fotografischer Bilder abzielt und bei Zizek den Lacanschen "großen Anderen" meint, ist freilich in ZELIG durch die Inszenierung des Bewegungsbildes metaphorisiert. Was aber nicht heißt, dass wir deswegen vor den Wirkungen des "blinden Flecks" bewahrt sind – denn meistens blickt uns von dort aus nicht ausgerechnet Woody Allen an.
Das parodistische Verfahren von Fake-Dokus, insbesondere von ZELIG, ließe sich demnach wie folgt beschreiben. Der blinde Fleck erscheint als Zufall, als kalkulierter Betriebsunfall, verräterisch ins Bild gebracht, um das ganze Ensemble glaubhafter und wahrer zu machen durch einen Akt der Überdeterminierung des Bildes. So gesehen ist Zelig-Woody-Allen immer eine Bildstörung im ansonsten gewohnheitsmäßig rezipierbaren 'Normalbild', dessen wunder Punkt. Nicht wir sehen den Film, sondern umgekehrt: wir werden vom Film gesehen. In meinem gezeigten Beispiel läuft diese Proliferation sogar noch weiter, denn hier ist es ein weiterer Film, ein Spielfilm, der vom ursprünglichen Ereignis – dem Auftauchen Zeligs hinter Adolf Hitler – gesehen wurde. Die Fiktionalisierung der Störung der Hitlerrede im Spielfilmausschnitt authentifiziert dabei das ursprüngliche Ereignis, so wie die anschließende Nazi-Wochenschau wiederum den vorangegangen Spielfilm und das Auftauchen Zeligs im blinden Fleck des Bilds der Hitlerrede retroaktiv als historisch beglaubigtes Dokument belegt.
In dieser Operation geht es nicht mehr darum, eine Reihe an authentischen Bildern zu verketten, um einen wahren Argumentationszusammenhang, kurz: ein Bild zu formen, das unter dem besserwisserischen Willen zur Wahrheit stünde. Sondern: dieser Argumentationszusammenhang, der für sich genommen völlig logisch und konventionell konstruiert ist, erweist sich als eine Serie von Fälschungen, die sich in der Verherrlichung der Trugbilder, der Pseudo-Bilder, der Spiegelungen, falschen Mäntelchen und Masken ergeht. Dadurch erscheint die Wahrheit nicht mehr als transzendentes Prinzip, als hohes Ziel, das sich – hat man nur die nötige Geduld – erreichen ließe, sondern sie erweist sich als schöpferisches Unternehmen in einem Prozess des Wahr-Werdens: Zelig wird immer ein anderer, er ist nie ein und derselbe, lässt sich nicht als selbstidentisches Subjekt konstruieren – er wird also nie endgültig wahr. In dem Moment, wo man glaubt, ihn identifiziert und diszipliniert zu haben, entwischt er schon wieder, ist er schon wieder ein anderer geworden. Und selbst am Schluss, wenn die Psychoanalyse so tut, als hätte sie jetzt den wahren Zelig gefunden und fixiert, erweist sich, dass dieser 'wirkliche' Zelig nur über einen Tausch von Übertragung und Gegenübertragung zwischen Analytikerin und Analysand zu haben war.
Freilich rückt damit das strategische Kalkül von Fake-Dokus in den Vordergrund. Durch den parodistischen Eingriff, durch den retrograden Dienst nach Vorschrift am konsistenten organischen Bild wird deutlich, dass wir es womöglich immer mit Fälschungen zu tun haben. Zum taktischen Rüstzeug des Fake-Dokus gehört es zweifellos, eine fundamentale Skepsis gegenüber jeglicher Art von dokumentarischen Bildern einzuführen. Diese Skepsis ergibt sich jedoch n i c h t als unausweichliche Konsequenz eines besseren Wissens oder einer ironischen, vorläufig immer noch das Wahre suchenden Auffassung, sondern 'weil sie nicht anders kann', als Konsequenz einer womöglich paranoiden Grundkondition: Womöglich ist ja 'alles' gefälscht. Die Fälschung ist so gesehen ein taktisches Mittel, das die 'Möglichkeit' deutlich vor der 'Wirklichkeit' favorisiert: In ihrer Grundhaltung führt sie uns vor, dass alles auch ganz anders sein könnte, ohne diesen Platz des Anderen aber zu besetzen und von diesem aus zu urteilen.
Die beste Parodie ist vielleicht diejenige, die sich n i c h t als Parodie zu erkennen gibt, die verdeutlicht, dass sich der audiovisuelle Aprilscherz womöglich n i c h t auf einen Tag im Jahr begrenzen lässt. Wenn die Parodie die Welt so allumfassend kontaminiert hat, dass uns diese Welt als Serie von Trugbildern erscheint; dass sich ein dogmatisches Bild der Wahrheit nicht mehr halten lässt, eine Dialektik von wahrem und falschem Bild fortgerissen wird – verlieren wir dann den Glauben an die Welt? Wenn Falschheit und Wahrheit, oder sagen wir einmal: Spaß und Ernst nicht mehr auseinanderzuhalten sind – reißt dann das Band, das uns mit der Welt verbindet? Sollte sich dann das Unternehmen, Authentizitäten und Selbstvergewisserungen in stereotypen heimatlichen Territorien zu stiften oder wohlfeile Wahrheiten finden zu wollen, als ziemlich altmodisches erweisen?
In einer der merkwürdigsten Stellen von Gilles Deleuzes kinophilosophischer Abhandlung "Das Zeit-Bild" ist davon die Rede, dass es ein wesentliches Merkmal der modernen Zeit sei, dass wir nicht mehr an diese Welt glauben:
"Wir glauben sogar nicht mehr an die Ereignisse, die uns widerfahren: an Liebe und Tod, als ob sie uns nur zur Hälfte angingen. Nicht wir machen das Kino, es ist die Welt, die uns als ein schlechter Film vorkommt" (Deleuze: 1991: 22).
Ohne Zweifel, das 'Band' zwischen Mensch und Welt ist zerrissen. Aber: "in unserer universellen Schizophrenie brauchen wir Gründe, um an diese Welt zu glauben". Folglich – so Deleuze weiter – müsse dieses 'Band' selbst zum Gegenstand des Glaubens werden:
"Der Glaube richtet sich nicht an eine andere oder verwandelte Welt. Allein der Glaube vermag den Menschen an das zurückzubinden, was er sieht und hört" (Deleuze 1991: 22).
Ich will dies nicht als Leitfaden für eine allfällige Wiederevangelisierung der Welt missverstehen. Fake-Dokus, genauer: ihr Gebrauchswert, helfen uns dabei, ja fordern uns geradezu heraus, bei diesen Glaubensfragen kritisch in Übung zu bleiben, indem sie uns die Präsenz einer Virtualität des Bildes akut vor Augen führen, die wir zwar nicht für wahr und verwirklicht halten werden, die uns aber als glaubwürdig erscheint. Denn die gefälschten Bilder tragen zwar noch einen apparativen, automatischen Wirklichkeitssinn in sich, kreisen aber auf der anderen Seite ständig um sich selbst. Erst durch dieses Autonomwerden des Bildes können sie erfinderisch, fabulierend, mythenbildend und experimentell werden und ersetzen das Bild einer wahren Welt mit dem Glauben an eine mögliche Welt, die in dieser, 'unserer' Bilderwelt (und nicht etwa in einer anderen, wahreren) aufkeimt.
Ihr spezifischer Mehrwert ist das parodistische Genießen, das sich aber erst entfalten kann, wenn man an die Möglichkeit dessen, was Fake-Dokus zeigen, erst einmal geglaubt hat. Ist es also so, dass wir das, was Fake-Dokus zeigen, glauben wollen, sollen? Zweifellos ist der Spaß dabei die Koketterie mit der Wahrheit, besser: die Ununterscheidbarkeit zwischen wahr und falsch. Ein Schwebezustand (F FOR FAKE), ein Genuss am Verdrehen (ZELIG), am Wieder-Gläubig-Werden (DIE DELEGATION), oder an ungeheuerlichen, frivolen Kombinationen unter dem Eindruck eines "großen, unbekannten Ereignis" (THE FALLS). Alles andere, vor allem die Suche nach der Wahrheit, ist Sache der Gerichtshöfe, der Polizei, der Expertenkommissionen und der freiwilligen Selbstkontrolle. Der einzige Trost, den Fake-Dokus wahrheitssuchenden Menschen lassen, ist der, dass sie kein Hehl daraus machen, dass sie 'offensichtlich' gefälscht sind. Man kann sie also ohne größere Probleme als Unfug, Lüge oder schlichte Pflanzerei abtun. Der Spott der Gelehrten- und Expertenrepublik, aber auch des gesunden Menschenverstands ist diesen Filmen sicher. Vielleicht zeigen Fake-Dokus aber gerade dadurch auf, dass die Wahrheit immer schon die beste aller Fälschungen war.
Und so lässt sich die eingangs gestellte Frage, was denn Fake-Dokus von der Wahrheit halten, nun relativ leicht beantworten: nicht viel.
Barthes, Roland (1980) Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/Main 1985.
Bazin, André (1967) The Ontology of the Photographic Image: in (ders.) (1967) What ist Cinema? Berkeley, Los Angeles / London.
Deleuze, Gilles (1991) Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt/Main.
Deleuze, Gilles (1993) Platon und das Trugbild, in (ders.) (1993) Logik des Sinns. Frankfurt/Main.
Kracauer, Siegried. Die Errettung der physischen Wirklichkeite.
Nietzsche, Friedrich (1886) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. München 1967.
Odin, Roger (1990) Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, in: Christa Blümlinger (Hg.) (1990) Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien.
White, Hayden (1994) Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Christoph Conrad u. Martin Kessel (Hg.) (1994) Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart.
Weggen, Helmut. Fälschung und Fake, auf: http://thing.at/texte/02.html.
Zizek, Slavoj (1991) Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin.