Ein authentisches Gespräch mit Wolfgang Beilenhoff und Rainer Vowe
Im Sommersemester 2000 fand am Institut für Film- und Fernsehwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum das Seminar 'Authentizität und Strategien der Authentifizierung' statt. Judith Keilbach sprach für Nach dem Film mit den beiden Seminarleitern Wolfgang Beilenhoff und Rainer Vowe über die Konjunkturen des Authentischen, über Big Brother, Dogma 95 und die Werbung des dm-Drogeriemarkts.
ndf: Ihr habt ein Seminar zum Thema Authentizität gemacht; womit habt Ihr Euch dabei konkret beschäftigt?
Vowe: Im Seminar war zum einen die gegenwärtige Diskussion um Authentizität von Interesse, also um die Wiedergewinnung des Echten, des Zuverlässigen, des Unverbrauchten, des medial noch nicht Vernutzten. Dabei spielten unter anderem auch die Filme von Dogma 95 eine Rolle. Zum anderen ging es um Strategien, wie das Authentische in den Medien produktiv eingesetzt wird. Diese Strategien sind begrifflich vom Authentischen zu unterscheiden, wir nennen sie Authentifikation, denn wie auch beim Begriff Identifikation handelt es sich um einen Produktionsprozeß. Zu vermuten ist nun, daß die Medien Quelle bzw. Produktionsstätte des Authentischen werden.
Beilenhoff: Ein weiterer Aspekt, der im Seminar stark gemacht wurde und den ich in der aktuellen Debatte vermisse, ist eine historische Perspektivierung. Beispielsweise zeigt Gumbrecht, daß bereits 1926 das Konzept des Authentischen dezidiert auftaucht (Gumbrecht, 1997). Dabei stellt sich heraus, daß er im Kontext ganz anderer begrifflicher Konstellationen steht, als wir sie heute kennen. Wir müssen also von der Vorstellung des Authentischen im Singular wegkommen, diese a-historische Perspektive aufgeben. Die Frage wäre vielmehr, ob es historische Wellenbewegungen gibt.
Diese historischen Wellen haben wir im Seminar angesprochen. In den 20er Jahren kam das Authentische auf dem Hintergrund der vehementen Ersterfahrung des Apparativen zum Zuge. Und zwar als eine Art Blockade des Artifiziellen. Als Gegenpol des Authentischen macht Gumbrecht beispielsweise das Fließband, das Flugzeug, Transportmedien, Arbeitsprozesse aus. In den 60er und 70er Jahren hatte das Authentische dann keine Konjunktur. Und plötzlich taucht es gegenwärtig als Konzept oder als eine Leitkategorie wieder auf, unter der unterschiedliche Positionen zusammengefaßt werden, beispielsweise der Körper, die Medien und so etwas wie ein Bedürfnis, eine Sehnsucht nach etwas Vorzivilisatorischem oder Vorsemiotischem.
ndf: Ging es in den 60er Jahren, als mit der Handkamera das Direct Cinema als neuer Stil des Dokumentarfilms entstand, nie um Authentizität?
Beilenhoff: Im Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm war nie die Rede vom Authentischen; in den Selbstbeschreibungen wurde nicht mit dem Begriff des Authentischen operiert. Das, was wir heute authentisch nennen würden, war vielmehr so etwas wie ein arbeitsteiliges Feld im Gesamtkomplex Medien. Auch wurde im Kontext von Fiktionalität und Inszenierung nie nach etwas Authentischem gesucht, wie das in aktuellen Debatten, z.B. im Zusammenhang mit den Dogma 95-Positionen, geschieht. In den Theorien, in der Rede über den Gegenstand, über Film, Fernsehen, Bilder generell ist in den 60er und 70er Jahren der Begriff des Authentischen eigentlich nicht aufgetaucht. Wenn, dann vielleicht auf der Ebene der Kracauer-Rezeption, aber in der texttheoretisch ausgerichteten Filmwissenschaft war davon nie die Rede.
ndf: Als einen Aspekt habt Ihr die Strategien der Authentifizierung im Seminar thematisiert. Welche habt Ihr denn ausfindig gemacht?
Vowe: Zuerst einmal haben wir die Authentizitätszugriffe voneinander unterschieden in die Produktion von Authentizität in Geschichtsfilmen und die möglichst authentische Wiedergabe von Gegenwart. In Geschichtsfilmen versuchen Authentizitätsfanatiker - wie beispielsweise Kubrick in BARRY LYNDON (GB 1975) - über die exakte Rekonstruktion von Vergangenheit zu demonstrieren, was es an Licht, an Textilien, an Sets in der Geschichte gegeben hat. Der Effekt dabei ist - und es bleibt unklar, ob das von Kubrick beabsichtigt oder aber eine Wirkung von Authentizitätsbemühungen ist: Je mehr die Geschichte in allen Einzelheiten rekonstruiert wird, um so kälter schaut sie zurück. Mit Rekonstruktionsbemühungen etwas Authentisches der Vergangenheit herbei zu zaubern, funktioniert nicht.
Für die Gegenwart sind die Facetten des Authentischen - also möglichst viel Körperlichkeit, möglichst viel Alltäglichkeit, möglichst viele Äußerungen auch von unbedeutenden Persönlichkeiten - scheinbar so wichtig, daß sich das Fernsehen damit beschäftigt, uns das Authentische nahezubringen. Zu denken ist dabei z.B. an Doku-.Soaps wie Abnehmen in Essen oder an die Boxerschule in Köln-Kalk. Das Authentische in den Doku-Soaps wird plötzlich zu einer neuen Kategorie für den Dokumentarfilm im Fernsehen. Natürlich zählt auch Big Brother dazu. Das Authentische lockt Millionen an die Fernsehschirme. Damit diese Aussage nicht so banal wird, sollte man sich das Gegenteil des Authentischen vor Augen halten: Nicht angesagt sind Exotik, Urlaub, in die Ferne Schweifen. Man bleibt in der Nähe und zaubert das Leben selbst auf die Bildschirme: das Alltägliche, das Triviale, das Banale. So betrachtet bekommt das Authentische eine etwas andere Färbung, durchaus koppelbar mit der Bedeutung von ‘authentisch’ als dem Eigentlichen, dem Unverfälschten, dem Direkten, dem Nicht-Medialen. Die Frage wäre nun, was unsere Zeit auszeichnet, daß es zu dieser Konjunktur kommt.
Beilenhoff: Zur Geschichte möchte ich noch auf die Gutgläubigkeit hinweisen, die wir ins Spiel bringen: Man braucht nur ein historisches Dokument zu verwenden, und sofort wird dem entsprechenden Ereignis ein Authentizitätsattribut zugeschrieben. Deine Beschreibung der Gegenwart halte ich für noch eingrenzbarer und zwar mit der Frage, ob es privilegierte Zonen gibt, an denen das Authentische oder die Sehnsucht nach dem Authentischen andockt. Wir haben bereits von Geschichte und von Körper gesprochen. Das, was Du Gegenwart nennst, würde ich unter dem Gesichtspunkt von sozialen Beziehungen einengen. Der Bereich der sozialen Strukturen ist ein Laborfeld für die Erschließung von Authentizitätsfiktionen. Es gibt also privilegierte Bereiche, in denen die Erfahrung des Authentischen möglich ist. Im frühen Christentum sollte man den Finger in die Wunde Christi legen, heute ist es so, daß es bestimmte Bereiche gibt, in die ich meinen Finger legen kann, und dann durchzuckt mich der Strom des Authentischen.
Im Seminar haben uns die Techniken der Authentifizierung, also das, was Rainer Authentifikation genannt hat, interessiert. Wie kommt es, daß das Wackeln einer Handkamera für uns als Indiz des Authentischen verstanden wird? Im Seminar haben wir diese Frage bis ins Early Cinema verfolgt. Anhand der Filme der Brüder Lumiére hat Belloi gezeigt, daß durch die Rahmung der Dinge, gewissermaßen durch ihre Medialisierung, sich die gefilmten Personen nach Maßgabe des Feldes der Kamera bewegen (Belloi, 1995). Die vorfilmische Wirklichkeit wird also so ausgerichtet, daß Personen sich in einem Dispositiv bewegen, das für die Kamera im Sinne der Füllung des Bildes, der Ausnutzung der Bildfläche, der Präsenz der Figuren optimal ist. In der damaligen Diskussion haben diese Bilder jedoch einen hohen Authentizitätsgrad gehabt. Im Cinema Direct wurde hinsichtlich der Techniken der Authentifizierung dagegen eine ganz gegenteilige Position eingenommen. Im Kontext gegenwärtiger Entwicklungen, wie z.B. BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999) oder Dogma 95, zeigt sich, daß jeweils aktuelle Technologien Probleme aufwerfen, die dazu führen, daß man nach neuen Strategien der Authentifizierung sucht. Das Problem heute wäre die Digitalisierung: Der gesamte Diskurs über Digitalisierung zeigt ja, welche Brisanz im Konzept des Authentischen steckt.
ndf: Und eine aktuelle Strategie ist die Verfassung eines Manifests?
Beilenhoff: Die Rhetorik von Dogma 95 ist eine der Strategien, es gibt aber auch noch andere Beispiele, die wir bisher jedoch nur angedacht haben. Wie ist es z.B. mit der Aktivierung des Farb- und des Schwarzweiß-Kodes? Im Grunde läuft es immer darauf hinaus, Differenz zu erzeugen und diese für eine Rhetorik des Authentischen produktiv zu machen. Man könnte sagen, das Authentische der Bildtechnologien besteht darin, daß sie eingesetzt werden, um sich selbst gegenüber in Distanz zu treten bzw. um eine Differenz zu dominanten Kodes oder Darstellungsstrategien zu erzeugen.
Vowe: Welche Strategien benutzt werden, um auf die Erzeugung virtueller Welten zu antworten, ist eine bisher unbeantwortete Frage. Da müßte die Erzeugung des Authentizität eine wichtige aber auch regressive Rolle spielen. Vorerst läßt sich zusammenfassen, daß es ältere Strategien gibt, wie beispielsweise in JFK (USA 1991) oder SCHINDLERS LISTE (USA 1993), in denen der Schwarzweiß-Kode die Wahrheit verbürgen soll. Dann gibt es andere Möglichkeiten, nämlich ein Mainfest zu formulieren, um die Wirklichkeit, die Realität wieder zur Geltung zu bringen, mit in diesem Manifest ausgeführten Verfahren. Und auf einer weitere Stufe wird mit diesen Verfahren, die nie obsolet werden, sondern immer zu Konventionen der Realitätsverbürgung gehören, gespielt und werden die Zuschauer - beispielsweise im BLAIR WITCH PROJECT - mit der Frage entlassen, "war das nun echt oder war das gespielt?"
Ein weiterer Bereich, der erstaunlicherweise auch vom Authentischen erfaßt wurde, ist die Werbung. Ein Beispiel, das auch Gegenstand eines Referats war, ist die Werbung für die Drogeriekette dm, die mit dem Slogan wirbt: "Hier bin ich Mensch, hier kauf’ ich ein". Die Bilder sollen unterschiedslos jeden Kunden ansprechen und für Produkte werben, die eigentlich Gift für eine Werbung sind, weil sie nämlich nur einen ganz kleine Sektor des Alltags berühren, z.B. Abschminktücher oder Badehauben. (Abb.) Diese Anknüpfungen an Alltäglichkeiten werden von der Werbeagentur Young & Rubicam, Frankfurt/M., explizit unter der Maßgabe des Authentischen beschrieben. Es handelt sich also nicht darum, daß wir den Begriff ‘authentisch’ nachträglich in Bezug auf die Veralltäglichung der Werbung eingeführt haben, sondern er wird selber als zeitgenössischer Begriff zum Maßstab des Werbeaufwandes gemacht. Bierreklamen oder Zigarettenreklamen werben zwar immer noch mit der großen Welt, aber dagegen wird man zunehmend feststellen könne, daß die Alltagswelt des Konsumenten eine größere Rolle spielt. Aus den Ausführungen der Agentur1 kann man folgern, daß damit geworben wird, daß unsere Konsumerfahrungen es wert sind, auf dem Bildschirm zu erscheinen. Vollmundig könnte man sagen, die Werbung beteiligt sich daran, eine Art Demokratie einzulösen, bzw. sie beteiligt sich an einer Demokratiesuggestion. Jeder kann als Konsument auf dem Bildschirm erscheinen, weil das, was er macht, nämlich zu konsumieren, absolut authentisch ist. Dieses Partizipationsversprechen, das Werbung/Fernsehen anbietet, gilt natürlich nie für substantielle Anteile der Demokratie - also für Eingriffe in Politik - sondern gilt einfach nur für ein Dabeisein. D.h. es ist allenfalls auf der Erscheinungs-, auf der Präsentationsebene gültig. Um es noch etwas zugespitzter zu sagen: Der Alltag wird reduziert auf die Achselhöhle, was die dm-Werbung betrifft.
ndf: Ihr habt schon mehrfach die Frage angesprochen, wie die Konjunktur des Authentischen, sei es nun in der Werbung oder im Film, bzw. die Sehnsucht nach dem Authentischen zu erklären ist. Sind es die neuen Bildtechnologien, die das Authentische reaktivieren?
Beilenhoff: Das Authentische wird häufig mit Prozessen der Zivilisation zusammengebracht. In regressiven Perspektivierungen, die sich beispielsweise in entsprechenden politischen Kontexten finden, stellt sich das Authentische dar als widerständig zu den zivilisatorischen Verstrebungen. Unsere Grundidee ist jedoch eine andere: Es gibt zur Kategorie des Authentischen immer auch eine ihr korrespondierende oder differenzerzeugende andere Kategorie, die manchmal mit Künstlichkeit und manchmal mit Spiel besetzt wird. Wenn man diese Vorstellung an den Komplex Medien koppelt - z.B. Big Brother oder Digitalisierung - dann zeigt sich, daß Digitalisierung selbst nur verstanden werden kann über das, was von ihr ausgegrenzt wird. Und dadurch kommt es zu einer notwendigen Thematisierung dieses Ausgegrenzten. In Zusammenhang mit Big Brother zeigt sich, daß dieses Ausgegrenzte dann in einer Rückläufigkeit von den Medien selbst wiederum erzeugt werden kann.
Das Authentische bei Big Brother ist, ebenso wie in Amateurfilmen und Home Movies, Produkt eine Laborsituation, wie sie über Medien erzeugt werden kann. Das war in der Entwicklung von Big Brother auch sehr aufschlußreich: wie anfangs das Labor als Labor deutlich wurde, wie sich die Leute an den Kameras orientierten, und sich diese Präsenz der Kameras dann schrittweise verflüchtigte und damit auch der Normalismus deutlicher wurde. Oder die eigene vormediale Realität gelebt werden konnte. Das Spiel trat zurück.
ndf: Das trifft auf die Situation der Kandidaten zu. Auf einer anderen Ebene hat doch aber auch eine deutliche 'Versoapung' stattgefunden, indem der voice-over-Kommentar beispielsweise cliffhanger konstruiert hat und damit 'das Medial' sehr offensichtlich wurde.
Beilenhoff: Möglicherweise gibt es inkommensurable Perspektiven: Die der Kandidaten und die der Zuschauer mit Forderungen nach Unterhaltung und Dramatik.
ndf: Was hat uns als Zuschauer eigentlich an Big Brother interessiert? Wenn ich Unterhaltung und Dramatik möchte, schaue ich mir andere Formate an.
Beilenhoff: Das ist wie in einem frühen Experimentalfilm, den ich vor kurzem gesehen habe. Er zeigte eine mikroskopisch aufgenommene Zahnbürste. Sehr lange wußte man nicht, was eigentlich dargestellt wird, und rätselte herum. Mit der Laborsituation in Big Brother ist es ähnlich: man erfährt Alltag in Großaufnahme, und durch diese Vergrößerung entsteht ein Effekt, der Interesse erzeugt, der Verortungen ermöglicht, der - ähnlich wie das in der Filmtheorie in den 20er Jahren immer wieder angesprochen wurde - für den Zuschauer eine Testperspektive einbringt. Das Interesse entsteht durch diesen Vergrößerungseffekt: Sozialverhalten oder Sozialstrukturen in Großaufnahme. Das fortwährende testende Einstimmen auf Kontexte, in denen man sich auch selbst bewegt.
Vowe: Auch wenn der Begriff Labor mißverständlich ist, finde ich ihn in diesem Zusammenhang sehr gut, zumal die Kandidaten von Big Brother oder auch von Talkshows in einem Container oder einer abgeschlossenen Studiosituation sind, in der Widerstand gar nicht möglich ist. Keine von uns wird jedoch den Schluß daraus ziehen, daß es sich um Opfer einer großen medialen Foltermaschine handelt, die man auch Labor nennen kann. Ich habe ja die Vermutung, daß man - genauso wie bei BLAIR WITCH PROJECT - mit dem Authentischen spielen kann. Die Teilnehmer an Talkshows und an Big Brother-Experimenten haben selbstverständlich auch die Möglichkeit, Authentizität zu spielen. Sie sind zwar keine Schauspieler, aber die Tatsache, daß sie sowohl Privatperson als auch ein bißchen Schauspieler sind, verlangt nach einem neuen Begriff. Akteure ist ein zu blasses Wort, um das Dreieck Schauspieler, Privatperson und öffentliche Person beschreiben zu können.
Beilenhoff: Exzentriker?
Vowe: Jedenfalls spielt die Vermutung, daß es sich um etwas Authentisches handelt, bei der Rezeption von Big Brother eine wesentliche Rolle. Ich habe mir das deshalb sehr gerne angeschaut um herauszufinden, ob Authentizität auch gespielt werden kann. Um zu einem Ergebnis zu kommen, müßte man natürlich die Personen vor ihrer Medialisierung kennen, um eine Differenz feststellen zu können.
ndf: Deshalb wurden Freunde und die Familie ins Big Brother-Studio eingeladen, um das authentische Verhalten einzelner Teilnehmer zu bestätigen. Außerdem zielten auch einige Spiele auf die Produktion von Authentizität, z.B. das Radeln auf dem Hometrainer bis zur Schmerzgrenze.
Beilenhoff: Schauen wir uns doch einmal die synchronen Konstellationen an, in denen das Authentische auftaucht - als Idee, als Hoffnung, als Schlagwort usw. Im Kontext von Konzepten wie dem Spiel oder dem Körper, von Gentechnologie, Virtualität, Digitalisierung usw. hat das Authentische mit unterschiedlichen Identitätskonzepten zu tun. Um es zu verdeutlichen: wenn ich die Kategorie des Spiels negativ besetze, dann vergebe ich mir eine Perspektive von Identitätserfahrung im Sinne der Suspendierung der Fixierung auf mich-in-aktueller-Gegebenheit oder auch der Fixierung auf mich-in-meiner-Körperhaftigkeit. Damit wird das Potential gekappt, das in der Kategorie der Imagination steckt. Interessant ist, daß dies auch die Strategie von Dogma 95 ist, die ich als absolut reaktionäre empfinde. Es ist eine sehr demagogische Rhetorik zu sagen, wir wollen das Spiel völlig abwerfen und hinter dem Spiel, als wäre das Spiel eine Maske, kommt das Authentische zu Tage. Das ist mir viel zu mechanistisch. Oder auf der Ebene der Thematisierung von Körper und Körperhaftigkeit. Ich setze mich auf den Hometrainer und nach dem 823. Schweißtropfen bin ich total authentisch für einen Zuschauer. Wie einfach solche Rechnungen plötzlich werden, dadurch daß Industrien der Authentifizierung, der Vermarktung von Authentizität auftauchen! In unserem Seminar sind wir allerdings nur an den Punkt gekommen, an dem die weiterführenden Problemstellungen klar wurden und sich zeigt, welcher Stellenwert den Bildmedien in diesem Kontext zukommt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von Linda Williams, die bereits vor mehreren Jahren darauf hingewiesen hat, daß im Grunde die eigene Körpererfahrung Auslöser für unterschiedliche Perspektivierungen des Authentischen ist, und der Körper damit zu einer Ressource für die Generierung von Authentizität wird. Andere Dinge sind dagegen völlig verloren gegangen: das Authentische ist nicht mehr das Unbewußte, es ist nicht mehr das Wilde. Plötzlich sind wir beim Authentischen sehr klein geworden und fokussiert auf eine Linie.
Belloi, Livio (1995) Lumière und der Augen-Blick, in: KINTOP, Anfänge des dokumentarischen Films, 4/1995. Basel/Frankfurt: Stroemfeld, S., 27-49.
Gumbrecht, Hans Ulrich (1997) 1926. Living at the edge of time. Cambridge/London: Harvard Press.
Williams, Linda (1991) Film Bodies: Gender, Genre and Excess, Film Quarterly Vol. 44 (4) 1991, S. 2 - 13.