Grenzgänge in den Filmen von Lætitia Masson
Zeitgleich zu anderen internationalen Regisseuren oder zur dänischen Dogma-Gruppe verwendet Lætitia Masson mit der Videokamera gefilmte Aufnahmen, um den Eindruck von Authentizität zu betonen, wie bereits längst im Reality-TV oder unlängst in einem Film wie dem BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999) geschehen. Ein Unterschied ist allerdings, daß Massons Filmen nicht die dort vorhandene Form der Berichterstattung anhaftet und dem szenischen Schauspiel nicht der Anschein von außerfilmischer Realität verliehen wird. Ihr Umgang mit der Handkamera ist vielmehr ein experimenteller, so daß nur von einem gleichzeitigen Vorhandensein realistischer Ausprägungen bzw. einer Anlehnung an Formen des Realismus gesprochen werden kann, die auf Spielarten des Neorealismus und der 'Nouvelle Vague' (z.B. des 'Cinéma Vérité') verweisen. Bei Masson verleiht die Handkamera dem Dargestellten etwas Ungefiltertes, so daß die auf diese Weise gefilmten Szenen unmittelbarer erscheinen als die 'herkömmlichen'. Die per Handkamera erzeugte Bildverwacklung kann z.B. als mediale Umsetzung der Erschütterung von Frances Lebenswelt in A VENDRE (F 1998) angesehen werden: Eine Welt(-sicht) gerät aus ihren Fugen. (So stellen z.B. die Videobilder France in ihrem 'verwirklichten Traum' dar, in welchem sie benommen durch die US-Straßen (schlaf-) wandelt).
Diese 'Mise en scène' wird durchbrochen, da A VENDRE Einstellungen aufweist, die einen 'unterkühlt' wirkenden Aufbau besitzen. Masson kombiniert diese Inszenierungsform, die den dokumentarischen Charakter zu unterlaufen scheint, mit der zuvor angeführten, um verschiedene Realitätsebenen miteinander zu verknüpfen und um das unterschiedliche Wirklichkeitserleben der Protagonisten zu veranschaulichen. So steht z. B. die Lichtdramaturgie mit ihren Rot- und Blaufiltern für die Verhältnisse der Figuren zueinander. Mittels einer stimmungs- bzw. neigungsbedingten 'Einfärbung' des Beisammenseins wird eine emotional-farbliche Aufladung hervorgerufen. Die fehlende Transparenz der Figuren auf der inhaltlichen Ebene findet u.a. in den Aufnahmen mit im Halbdunkeln gehaltenen Körpern, die oft nur noch ihre Silhouette erkennen lassen, ihr Äquivalent. Diese ans Schemenhafte grenzende Auflösungsform deutet gleichfalls die bei Masson eingegangenen Aufhebung hinsichtlich der Realitäts- und Persönlichkeitsebenen an. Die auf diese Weise hervorgerufene Schablonenhaftigkeit verweist sowohl auf die Stellvertreterfunktion der Figuren als auch auf die mangelnde Konkretisierung der Lebensentwürfe. Gesellschaftliche und individuelle Vorstellungen manifestieren sich in ihnen. Massons Figuren lassen sich als personifizierte (Alp)Träume bezeichnen, da sie Sehnsüchte bzw. Ängste anderer verkörpern.
So gleicht z.B. Frances Dasein in A VENDRE dem eines Schattens: Immer wenn ihr Verfolger ein Stück ihrer Geschichte aufgeholt hat, hat diese in ihrer Fortführung bereits einen weiteren Verlauf genommen. Indem Masson szenisch die später einsetzende Verfolgung mit der zeitgleich sich fortsetzenden Flucht verknüpft, setzt sie Mosaik- für Mosaiksteinchen der handlungsrelevanten Begegnungen nebeneinander, um so ihr Spiel mit verschiedenen Realitätsebenen in Verbindung zu ihrer (vorübergehenden) Entgrenzung zu inszenieren. Massons Filme dokumentieren die mangelnde bzw. gänzlich fehlende existentielle und individuelle Behauptung der Figuren in ihrer Lebenswelt, sei diese gestellt oder selbst gewählt. Gezeigt werden die Werdegänge, Neuanfänge, Fehlschläge und Schlußstriche der Protagonisten, mehr das Innenleben betreffend als in biographischer Sicht.
Ihre Protagonisten bewegen sich ständig zwischen den Daseinsformen der Verfolgung, Flucht und Suche von/nach etwas bzw. von/nach jemanden. Es sind Suchende: nach einer (besseren) Arbeit, nach einem Menschen der sie liebt wie sie sind, nach dem eigenen Ich und den dazugehörenden Wunschvorstellungen, die das Individuum in Bewegung setzen, sei es in Richtung Vorstadt, Großstadt, Pension oder Straße. Dem Wunsch nach innerer Befreiung und äußerer Bestätigung, der sich von EN AVOIR (OU PAS) (F 1995) über A VENDRE bis zu LOVE ME (F 2000) immer mehr in den Vordergrund drängt, wird über die Ortsveränderung nachgekommen. Diese Form des ungebundenen Unterwegsseins verleiht Massons Filmen den Charakter von Road-Movies, auf deren Genre sie sich allerdings nicht festlegen lassen. Die Filme widerstreben der Einordnung in derartige vorgefaßte Kategorien, indem Motive und Handlungselemente aus anderen Filmkontexten zur Darstellung solcher 'Traumreisen auf der inneren Landkarten' übernommen werden, deren 'blinde Flecken' es zu entdecken gilt. Das Aufbrechen solcher äußeren festen Strukturen findet in der Psyche der Figuren sein nach innen verlegtes Äquivalent: Es handelt sich um Grenzgänge zwischen den Individuen und ihrem (tatsächlich) Erlebten, deren Verknüpfung über assoziative Versatzstücke hergestellt wird.
Bisweilen versuchen die Protagonisten sich in Scheinwelten zu flüchten. So betäubt sich France in A VENDRE, indem sie sich in eine Art Laufrausch begibt, Luigi greift zu Tabletten und Alkohol wie auch Gabrielle und Lennox in LOVE ME. Ansatzweise versuchen die Protagonisten (wenn auch größtenteils benommen) sich der Realität zu stellen. Für den Betrachter beginnt aufgrund der filmischen Teilhabe am Schwindelgefühl der Figuren, die Grundlage zur Beurteilung des Geschehens gleichfalls ins Wanken zu geraten.
So wie sich France in ihre Vorstellungswelten verrennt, so versteift sich Luigi auf ein Bild, welches er von sich und seiner Umgebung nach seinem Duktus geformt hat. Aus Luigis Perspektive eröffnet sich das fragmentarische Bild einer zwiegespaltenen Frau, die ihren Beobachter indirekt an seine eigenen Grenzen führt, letztlich zu sich selbst. Der Staub der Vergangenheit haftet an ihren brennenden Sohlen, quasi als Belastungsmaterial. Sie sehen sich gezwungen, die Flucht vor ihrem eigenen Leben anzutreten: France, indem sie umherstreift und immer neue Orte zum Verbleiben aufsucht; Luigi, indem er sich so ausgiebig mit dieser Flüchtigen beschäftigt. Beide überschreiten Grenzen gegenüber sich und den anderen, indem sie sich auf für sie 'schädliche' Personen und Situationen einlassen. Sie haben genügend Einblicke in die Verlogenheit der sie umgebenden Verhältnisse bekommen.
Sie reisen mit dem, was sie bei sich haben, in der Reisetasche oder im Auto mit sich führen, wie Nichtseßhafte in Ermangelung eines festen Wohnsitzes. Der Wille nach Verbesserung, die innere Zerrissenheit und Unzufriedenheit treibt sie voran, in Gegenden und zu Einblicken, die ihnen fremd sind. Trotz vordergründig fehlender Alternativen nehmen sie für sich diese Bewegungsfreiheit in Anspruch. "Im allgemeinen tun die Menschen das Gegenteil: sie passen ihr Leben an. Sie ertragen die schrecklichen Dinge. Sie überleben Brüche... Meine Personen wollen in einer anderen Dimension leben: und damit stoßen sie ans Romantische. Auf ihre eigene Gefahr."1 Auf Luigi und France trifft die Bezeichnung 'Vagabunden' zu, denn hinsichtlich der Vorstellung, die diesem Begriff innewohnt, erscheint ihr Dasein wie das des Fahrenden Volkes romantisch verklärt. Aber als Fremde bleiben sie auch immer Eindringlinge.
France ist Schnell- bzw. Langstreckenläuferin. Im Laufe von A VENDRE reduziert sich ihr Training immer mehr, im Gegenzug dazu nimmt der Lauf der Dinge, Frances Schicksalslauf frappierend an Geschwindigkeit zu. Wird der symbolische Lauf durch die Wirklichkeit ersetzt oder gar überholt? France scheint daraus eine Art Überlebensstrategie abgeleitet zu haben, denn sie läßt tatsächlich und unwiderruflich Personen und Orte hinter sich, alles nach ihren eigenen, den anderen unzugänglichen Spielregeln. Eine Maßnahme, um mit den Füßen so gut wie nie festen Boden in Verbindung zu bringen (ein Synonym für Ungebundenheit). Frances' Sport, das Laufen, ist eine zusätzliche Unterstreichung ihres manischen Unterwegsseins.2
Bei Masson scheint außer Frage zu stehen, daß das 'äußere' Weggehen positiver zu beurteilen ist, als das 'innere' Verharren und das damit zusammenhängende ortsgebundene Daseinfristen, wie es von den Familien, Freunden oder Arbeitgebern der Protagonisten praktiziert wird. Einen Platz in der gegenwärtigen Gesellschaft zu finden, einen Fußbreit an Stabilität zu erlangen, so lautet der unterschwellige Appell an den Zuschauer, der sich nicht melodramatisch in das Filmgeschehen einfühlen soll. Die Protagonisten müssen sich ihrer Ängste, Hoffnungen, Zukunftsvisionen und Ansprüche bewußt werden, da sie sich früher oder später diesen Problemen (freiwillig) stellen (müssen).
Masson hat in allen Filmen die Idee des Weggehens thematisiert, das Überwinden von äußeren Umständen und Strecken immer auch auf das Innenleben ihrer Figuren verweist (Vgl. Jean Luc Brunets Interview mit der Regisseurin). Allen Protagonisten ist gemein, daß sie sich zeitgleich mit der von ihnen zurückgelegten Strecke auf dem inneren Weg zu sich selbst befinden. Sie sind im Begriff sich zu verändern, welches als Form der persönlichen Weiterentwicklung zu werten ist. Insofern unterscheiden sie sich von den anderen Figuren Massons, die in ihrer 'Ausgangsposition', ihrem ursprünglichen Leben verharren. Die Filmenden verheißen den Aufbruch zu neuen Zielvorstellungen.
Im Verlauf der Masson-Trilogie ist eine stete Abkehr von sozialkritischen Elementen und von sozialer Wirklichkeit zu beobachten, sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene. Eine erneute Hinwendung zum Experimentellen mit spezifischer Zugangsweise ist zu verzeichnen. Das Leben der Figuren scheint mehr auf einen Traum (vgl. Starkult in LOVE ME) als auf die Gegenwart ausgerichtet. Dem Anschein nach hat die Regisseurin das Problem der Identitätsfindung von einem gesellschaftlichen zu einem psychologischen verlagert, welches sich in symbolisierter Weise dem Filmsubjekt als real offenbart. Somit gleichen sich die Kinobilder den Traumbildern an, die u.a. für die Zersplitterung der Figuren in Persönlichkeitsteile stehen.
Auffallend in Bezug zu den Filmen A VENDRE und LOVE ME ist, daß Amerika als vermeintliches Traumland der Protagonistinnen gehandhabt wird, in dem sich nach Vorstellung der Protagonistinnen Kindheits- und Jugendträume erfüllen sollen, dies aber letztlich nicht eingelöst werden kann. Das Ticket dorthin beinhaltet allerdings noch keine Garantie auf Erfolg, für den kein Weg zu weit und keine Unannehmlichkeit zu groß sind, um sie nicht in Kauf zu nehmen. Die Grenze des eigenen Horizontes gilt es zu finden. Amerika erscheint als vorläufiger Horizont einer Selbstauslegung als 'Self-made-(Wo)-man'. Aufgrund der partiellen Berührungspunkte zur Realität erweisen sich diese Träume als besonders widerstandsfähig. Sie führen ein Eigenleben, fordern Selbstaufgabe. Die Vorstellungen von Glück bzw. vom Glücklichsein stehen im Widerspruch zur innerfilmisch erlebten Realität. Vorerst läßt sich für sie Amerika als gelobtes Land bezeichnen, in das frau sich schon seit geraumer Zeit hineingeträumt (symbolischer Aufbruch zu neuen Ufern) zu haben scheint.
In LOVE ME, Massons drittem Langfilm, ist ein Großteil der Wegstrecke ins Innere, in die Psyche der Figur verlegt, so daß dieser Film die bisher größte Verknüpfung zwischen äußerer und innerer Veränderung und Entwicklung herstellt. Dies bedeutet eine sich stärker abzeichnende Tendenz zur Verinnerlichung. Dies erklärt auch den z.T. sehr seltsam anmutenden Verlauf des Films, der sich somit nicht am Wahrscheinlichkeits- bzw. Wahrheitsgehalt einer außerfilmischen Realität messen läßt und allenfalls werkimmanent zu erfassen ist.
Die Protagonistin Gabrielle, die nicht einmal weiß, daß ihr Name so lautet, ist ohne Identität und den ihr zustoßenden Ereignissen relativ schutzlos ausgeliefert. Als sie ohne Papiere und Gedächtnis den Boden eines amerikanischen Flughafens betritt, weiß sie nicht, was ihr geschieht, geschweige denn, wie sie es einordnen soll. Im folgenden wird sie in den USA mit ihren Mädchenträumen oder vielmehr mit ihrem Mädchenschwarm, einem Sänger aus ihrer frühen Kinder- und Jugendzeit, konfrontiert: Dieser wesentlich ältere Mann verschließt sich gegenüber dem Traum von verliebter Zweisamkeit gänzlich. Gabrielles Gegenwart bringt diese sehnsuchtsvolle Seite in ihm wieder zum Schwingen. In ihrer gemeinsamen Fluchtbewegung vor Gegenwart und Vergangenheit in Richtung ungewisse Zukunft finden beide ein Stück weit zueinander und zu sich selbst.
Innerhalb des Filmes kommt es zu abrupten Wechseln der Realitätsebenen. Zwischen den einzelnen Ebenen, die sowohl räumlich, zeitlich als auch rational angesiedelt sind, setzen immer wieder Ohnmachten der Protagonistin ein, die sie auf eine neue Ebene katapultieren. Letztlich schafft sie es trotz Widerstände, diese scheinbar früheren Daseinsstufen ihrer selbst zurückzulassen, um im Anschluß daran einen anderen Traum zu verfolgen. Dem psychoanalytischen Ansatz folgend sind Strukturen des Unbewußten Bestandteil der Geschichte. Der Betrachter wird in die Vorstellungswelt der Protagonistin Gabrielle gezogen, so daß er das Geschehen über den Blick der Figur wahrnimmt. Vieles bleibt durch die ans Unüberschaubare grenzende Perspektive in der Schwebe gehalten, einer wachgerufenen Erinnerung gleich. Demgemäß ist die Regisseurin auch bei der Realisierung dieses Films vorgegangen: Die Einstellungen zu Love me wurden nicht in der US-Stadt Memphis gedreht, sondern in Le Havre. Die Regisseurin erachtete reale Ortsbindungen mit ihren originalen Befindlichkeiten bei derlei 'Grenzübergängen' zwischen innerer und äußerer Welt als unerheblich. Der Eindruck und die subjektive Sicht sind wesentlich. Eine Form der 'Einschränkung', die (im Film wie im wirklichen Leben) auch sonst vorhanden ist.