Das sentimentale Genießen und das melodramatische Kino
"In unserem Jahrhundert des Verschwindens ist das eigentliche Thema des Kinos die Seele – ihr bietet es eine umfassende Zuflucht. Dies ist, so glaube ich, der Schlüssel zu der Sehnsucht, die es ausdrückt, und zu dem Reiz, den es für uns hat."
John Berger
Anders als etwa den berühmten Graugänsen der Verhaltensforschung ist es der menschlichen Spezies eigen, dass nicht das Kind, sondern die Erwachsenen durch die erste Begegnung mit ihrem Nachwuchs nachhaltig geprägt werden. Im Fall der glücklichen Familie macht das Neugeborene kurzen Prozess mit den Egoismen und lässt aus wilden Jugendlichen liebevoll sorgende Eltern werden. Diese Ursprungskonstellation menschlicher Liebesfähigkeit steht am Anfang von ARTIFICIAL INTELIGENCE: A.I. (USA 2001), dem vorletzten Film Steven Spielbergs. Doch ist der kleine David (Haley Joel Osment) bereits ein großer Junge und seiner Mutter nur deshalb gegeben, um sie über den Verlust ihres leiblichen Sohnes zu trösten, der nach einem Unfall nicht mehr aus dem Koma zurückgekehrt ist. David ist ein Roboter, eine Tröstungsmaschine, ein gefühlserzeugender Automat, eine Kindsimulation, von solch bestechender Prägnanz, dass die Mutter sehr bald einem hypnotischen Liebeswahn verfällt. Als das leibliche Kind wider Erwarten aus dem Koma erwacht, hat es die Liebe seiner Mutter an den mechanischen Konkurrenten verloren: fast verloren, denn schließlich triumphiert das Realitätsprinzip. Statt aber, wie es die Vorschrift verlangt, David verschrotten zu lassen, setzt die Mutter ihn im dunklen Wald aus.
Mit dieser Wendung ins Märchenhafte beginnt der kleine David nun auch die Gefühle des Kinopublikums durcheinander zu bringen. Ist er doch alles andere als eine Maschine, nämlich der Schauspieler Haley Joel Osment, der mit dem Film THE SIXTH SENSE (USA 1999) den Typus des Hollywood-Kinderstars reanimierte. Tatsächlich spielt er den verlassenen Androiden mit Präzision als ein blechernes Kindchenschema, das dem Publikum gerade nicht suggeriert, es habe ein lebendiges Kind vor sich. Und doch dürfen wir annehmen, dass das Publikum Gefühle mobilisiert, als begegnete ihm ein hilflos umherirrendes Kind.
Was ist das für ein Publikum, das einem jugendlichen Schauspieler, der einen Automaten spielt, Gefühle entgegenbringt, ohne im strengen Sinne getäuscht zu sein? Wenn es schließlich weint, sind seine Tränen ohne Zweifel physisch real, und doch sind sie nicht weniger artifiziell als die Intelligenz des Protagonisten.
So gesehen reflektiert der Film im ersten Teil eine Grundfrage bürgerlicher Subjektivität: Was ist das lebendige "menschliche" und "mitmenschliche" Empfinden, wenn sich dieses Empfinden nicht nur im hohen Maße täuschen lässt, sondern selbst noch auf Täuschungen und Illusionen gründen kann?
Nach dem kurzen Prozess der Initialisierung der Mutterliebe folgt die lange Geschichte der Menschwerdung der Maschine: Wie entsteht in einer Folge von Rückkopplungen aus dem Objekt einer mehr oder weniger aufoktroyierten Liebe ein empfindendes Wesen? Wie alle Märchen ergibt der Film am Ende eine Parabel vom Erwachsenwerden: David flieht in hellen Vollmondnächten vor dunklen Männern, durchquert die Schauerwelt einer Heavy-Metal-Gothic-Party, reist in das Las Vegas monströser Sexualphantasien, um nach einer blauen Fee zu suchen, die ihn in einen vollwertigen Menschen verwandelt. Am Ende wird er sie finden, eine Holzpuppe auf dem Grund des Meeres, mit einem aufgemalten Lächeln, umschleiert von wogendem Plankton. Auch die blaue Fee ist nur ein Dummy aus dem Vergnügungspark einer untergegangenen Welt, die unsere Gegenwart bezeichnet, versunken im Meer, erstarrt in ewigem Eis. Doch da David eine Maschine ist, blickt er höchst aufmerksam und erwartungsvoll in das Gesicht der Puppe; er, der Android, das Kind, wartet bis ans Ende der kommenden Eiszeit.
A.I. ist wie andere Spielbergproduktionen auch ein Film über die Erinnerung an die Unendlichkeit der Kindheit, die jeder Erwachsene in sich trägt. Dem Kind nämlich ist die Zeit eine Ansammlung von Ewigkeiten, die Stunden des Wartens so gut wie die Unzählbarkeit zukünftiger Tage. Was immer es erwartet, der Zustand der Erwartung lässt jede Gegenwart schier hoffnungslos anwachsen. Fragt man nach den Gefühlen des Publikums im Kino, dann steht die Erinnerung an solche Zeiterfahrungen zur Diskussion. Die künstliche Intelligenz, die David schließlich seinen Wunsch erfüllt, indem sie ihm für ein paar Stunden eine liebende Mutter schenkt, das ist die Illusion des melodramatischen Kinos, die Matrix "sentimentaler Phantasie".2
Was man als Unterhaltungskultur bezeichnet, lässt sich in dieser Perspektive als der Versuch verstehen, die Ewigkeiten zu simulieren, die man das Glück der Kindheit nennt – eine andere Zeiterfahrung als die des Alltags. Sie ginge einher mit mehr oder weniger regulierten und reflektierten Regressionsübungen, die den Riss zwischen dem Bewusstsein objektiver Zeit und den Maßen subjektiver Zeithorizonte kitten, indem sie die Leere der ersten mit den phantasmatischen Stoffen der zweiten auffüllen.3 Das zu Tränen gerührte Publikum vermittelt vielleicht die genaueste Vorstellung von dieser Funktion, obwohl doch Unterhaltungskultur westlicher Prägung eine ganze Reihe anderer Manifestationen kennt. Im Lachen und Weinen, in Angst und Mitleid, in Horror und Thrill lassen sich ihre Register nach Typen der Affektion unterscheiden.4
Man ist es gewohnt, dem ästhetische Erleben des Kinos eine emotionale Dimension zuzuschreiben, die in anderen Bereichen der Kunst- und Unterhaltungskultur nicht (mehr) selbstverständlich ist. Man hat diese Wirkungsmacht stets mit der emotionalisierenden Kraft kinematografischer Darstellung erklärt, mit der scheinbar unmittelbaren Affektivität seiner Bildlichkeit. Sei es, dass man darin eine Nähe zur Macht der Musik oder zum illusionistischen Potential des synästhetischen "Gesamtkunstwerks" entdeckte, sei es, dass man die identifikatorische Struktur, die das Gefühl des Zuschauers involvierenden Dramaturgien kritisch analysierte, oder dass man in der gesteigerten Affektivität das Grundprinzip moderner Medienformate erkannte.
Doch während die Filme dieses Kinos längst nobilitiert worden sind, lässt sich dies vom sentimentalen Genießen seiner Zuschauer so nicht behaupten. Die selige Selbstvergessenheit – die man sich von Kracauers kleinen Ladenmädchen bis zu den weinenden Fans von Leonardo Di Caprio in TITANIC (USA 1997) meist weiblich denkt – gilt immer noch als Scheinverfallenheit, infantile Täuschungssucht und regressive Verschmelzungslust. Die Selbstverständlichkeit mit der man Medienereignisse wie den überragenden Erfolg von James Camerons TITANIC kommentiert, entspricht durchaus nicht dem prekären theoretischen Status, den der weinende Zuschauer für die Film- und Medientheorie bezeichnet. So mag das Phänomen des tränenseligen Publikums seinen Erkenntniswert vor allem darin finden, dass es die Filmtheorie zwingt, im Kino eine Wahrnehmungsform zu reflektieren, die sich der texttheoretischen Gegenstandsbestimmung ebenso entzieht wie einem wirkungsästhetisch oder medientheoretisch begründeten Determinismus. Die Aktivität des rührseligen Kinozuschauers lässt sich weder auf ein "Textverstehen" noch auf ein affektives Reiz-Reaktionsschema bringen.
Tatsächlich erfüllt die Rührung im Kino das Paradox einer passiven Aktivität. Denn einerseits setzt sie voraus, dass der Rezipient von seinem Selbst- und Wirklichkeitsbewusstsein absieht, um sich einer Illusion zu ergeben (seine erste Aktivität besteht darin, die Augen vor der Realität – auch der Realität des ästhetischen Gegenstands – zu verschließen); andererseits aber ist die Illusion lediglich die erste Stufe einer Umwandlung des realen Bilds in eine faktische psychische Realität. Im Idealfall dokumentiert sich diese Transformation in einem körperlichen Symptom: eben den Tränen des Publikums.
Was man leichthin der Identifikation und der Einfühlung mit den repräsentierten Figuren zuschreibt, erweist sich bei genauem Hinsehen als eine komplexe ästhetisch-semiotische Aktivität. Denn der Zuschauer ergibt sich keineswegs der Illusion einer lebendigen Figur, in deren Schmerz er sich einfühlt und in deren Situation er sich versetzt. Er eignet sich vielmehr die dargestellte Welt im Ganzen als einen "inneren Zustand" an.
Das aber betrifft den Darstellungsakt selbst, die Zeit des Entstehens, der Entfaltung des kinematografischen Bilds im ästhetischen Wahrnehmungsprozess. Im Prozess der filmischen Darstellung verwandelt sich dem Zuschauer das kinematografische Bild in ein Objekt seiner Innerlichkeit. In diesem Prozess werden "der kleine David" und "das Schiff der Träume" zu einem "inneren Objekt"5, in dem sich sein eigenes Selbstempfinden repräsentiert. Seine Tränen bezeugen weniger das schwindende Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen fiktionaler und realer Wirklichkeit als vielmehr das Schwinden der Differenz zwischen dem Objekt und dem Subjekt des Empfindens, zwischen dem Bild eines Empfindens und dem Empfinden dieses Bilds.
Das Weinen des Publikums bringt dieses Nachgeben, dieses Loslassen und Aufgeben der klaren, sprachmächtigen Objektbeziehung gegenüber dem kinematografischen Bild zum Ausdruck. So jedenfalls stellt es sich dar, wenn man der Phänomenologie des Weinens folgt, wie sie der Philosoph Helmuth Plessner entwickelte. Für ihn ist das Weinen aus eben diesem Grund ein Wesensmerkmal des sprachbegabten Menschen (Plessner, 1982, 463). Es sei primär als eine Beziehung des sprachmächtigen Ich zu seiner durch passive Empfindungsfähigkeit geprägten Körperlichkeit zu begreifen.
Plessner begreift das Weinen als ein paradigmatisches Phänomen des menschlichen Ausdrucks, das diesen von jeder anderen Form von Ausdrucksbewegungen unterscheidet. Der Mensch hebe sich in seinem imaginären und symbolischen Selbstbezug gegen die physische Existenz ab und könne sich deshalb als "Ich" raum- und ortlos denken. Er kann als "Ich" – sich von seinem Körper distanzierend – zu sich reflexiv in Beziehung treten. Er ist ein "Ich", das einen Körper bewohnt, zugleich aber nichts anderes als dieser ist.6 Seine Selbstwahrnehmung spaltet sich in ein Innesein der physischen Empfindungsbewegung Körper (ein Leib-sein) und in das Bewusstsein ihres Erscheinens am Körper (einen Körper-haben). Diese Doppelstruktur des "Leib-seins" und des "Körper-habens" strukturiert den Modus der Ausdrucksbewegung und unterscheidet diesen sowohl von der zeichenhaften Geste wie von einer allgemeinen physiognomischen Lesbarkeit lebendiger Wesen.
Plessner erläutert diesen Gedanken im Vergleich mit dem Lachen. Im Lachen gerät der Mensch "[...] in einen anonymen Automatismus. Er selbst lacht nicht, es lacht in ihm, und er ist gewissermaßen nur Schauplatz und Gefäß für diesen Vorgang. Anders das Weinen. Im Weinen gibt der Mensch auch eine Antwort, indem er sich einem anonymen Automatismus überläßt, der mehr oder weniger langsam in Gang kommt, aber Gewalt über ihn gewinnen kann. Nur bezieht sich der Mensch selber in diese Antwort ein. Er ist innerlich dabei beteiligt – ergriffen, gerührt, erschüttert. Wenn sich ihm die Kehle zuschnürt und die Tränen kommen, läßt er sich innerlich los, es übermannt ihn, und er überläßt sich dem Prozeß des Weinens." (Plessner, 1941, 333).
Das Weinen ist also mit einem Akt der Selbstaufgabe verbunden, der Weinende "überläßt sich" der körperlichen Reaktion, er "läßt los", "gibt sich überwältigt."7 Das Tier gehe am Weh zugrunde, der Mensch hingegen setze sich mit seinen Tränen in ein Verhältnis zur Übermacht des empfindungsvollen Körpers. Und genau darin behauptet er sich noch im Verlust seiner Sprache als sprachmächtiges Wesen. Denn im Weinen bekundet sich noch das Bewusstsein der Ausdrucksdimension des eigenen Körpers – das Bewusstsein, ein Gesicht zu haben.8
Im Affekt des Weinens artikuliere sich ein Bewusstsein der Grenze der "Repräsentation", eine Erfahrung des "Leib-Seins", die der sprachgebundenen Fähigkeit des "Ich" sich von seinem Körper getrennt zu denken, ein Ende setzt; zugleich behauptet sich dieses Ich im Wissen um die Ausdruckskraft der Tränen als ein prinzipiell sprachmächtiges, wenn auch überwältigtes Subjekt.
In dieser Perspektive weist das Weinen auf eine Art mimetischen Verhaltens, für das die Begriffe Identifikation und Empathie einstehen. So gesehen öffnet sich zwischen dem Kind, das seine Hilflosigkeit weinend einbekennt, um an das Mitleid der Mutter zu appellieren, und dem Erwachsenen, der diesen Zustand aktiv aufsucht, obwohl niemand da ist, der ihn trösten könnte oder den er zu trösten hat, der Spielraum des sentimentalen Genießens.
Die Frage nach dem Weinen führt "auf das Feld einer neuen Anthropologie, auf dem sich", so Helmuth Plessner, "Psychologie und Ästhetik um ein Bewußtsein vom Zusammenhang ihrer Probleme" bemühen, ein Bewusstsein, das 'kaum über das Denken des 18. Jahrhunderts hinausreiche' (Plessner 1941, 212). Für die Epoche der Empfindsamkeit bezeichnete das Theater den Ort eines Publikums, das sich mitfühlend den dargestellten Figuren nähert, um sich im nachempfundenen Leiden in seiner Empfindungsfähigkeit zu genießen.
Dieses Problembewusstsein manifestiere sich eben deshalb so nachdrücklich an der Emphase des tränenseligen Zuschauers, weil 'das gefühlsgebundene Weinen' sich nicht der Repräsentationsfunktion dramatischer Darstellung füge (Plessner 1941, 212). Das Theater der Empfindsamkeit eröffnet den Raum einer kulturellen Praxis, in der die Rührung und die Rührseligkeit des Zuschauers als Erlebnisweise künstlerischer Darstellungen sich selbst genug war. Und die Tränen kunstvoller Anteilnahme dokumentierten in der Wirkung auch den Zweck der ästhetischen Veranstaltung. Sie waren das körperlich greifbare Symptom einer gelungenen Transformation theatraler Illusionen in reale Empfindungen.
In der Idee des mitleidvollen Weinens übersetzt das Theater der Empfindsamkeit ein ästhetisches Paradigma, das so alt ist wie die abendländische Poetik, die Katharsis, in ein Konzept ästhetischer Erfahrung, auf das sich die grundlegenden Kategorien modernen psychologischen Denkens gründen: das der Einfühlung, der Identifikation, der Empathie.
Und doch ist zwischen der psychologischen und der ästhetischen Funktion des empathischen Vermögens zu unterscheiden. Die mitleidvolle Traurigkeit, sei es mit realen Personen, sei es mit fiktiven Figuren eines Dramas, eines Films, ist etwas völlig anderes als der sentimentale Genuss des Mitgefühls "Traurigkeit". Das erste ist ein Aspekt zwischenmenschlichen Verhaltens, der sich auch auf den Umgang mit fiktiven Figuren beziehen kann, das andere weist auf einen Modus ästhetischer Erfahrung, der zum genuinen Bestand bürgerlicher Unterhaltungskultur gehört. Um ein Verständnis eben dieses Erlebens muss es gehen, will man das Genießen des tränenseligen Publikums verstehen.
Eine Frau allein in einem dämmrigen Zimmer, ein aufblitzender Lichtschein, der in regelmäßigem Rhythmus das Zimmer erhellt – ihre Augen weiten sich, ihr Kopf wiegt hin und her; sie beginnt zu schaukeln, so als könne sie das Gewicht des Kopfes nicht mehr ausbalancieren; ein ansteigendes Zittern durchläuft ihre Glieder und versetzt ihren Körper in unruhige Vibration. In kleinen, hastigen Schritten bewegt sie sich auf einen Punkt zu, der ihren Blick gefangen nimmt. Mit fahrigen Fingern betastet sie die Fotografie eines jungen Mädchens; sie küsst zitternd das Bild. Als seien ihr schwere Gewichte auf die Schultern gelegt, imaginiert die Schauspielerin die psychische Überlastung als ein konkretes körperliches Geschehen. Sie zeigt die Gebärde einer gequälten Kreatur, die unter einer unsichtbaren Last zu zerbrechen droht. Ihre weit aufgerissenen Augen, die unsicher tastende Bewegung, geben der Figur deutlich einen Zug ins Wahnhafte.
In der nächsten Einstellung sitzt die Frau am Fenster, nun endgültig in ein selbstvergessenes Sich-wiegen versunken. Das aufblitzende Licht der Neonreklame erhellt im Stakkato kurzer Momente den stark abgedunkelten Raum. Verzerrte Straßengeräusche formieren sich in einer Klangcollage, deren Lautstärke kontinuierlich ansteigt. Die schaukelnde Bewegung, das ausdruckslose Gesicht, die geweiteten Augen verbinden sich mit dem Rhythmus des flackernden Lichts und dem ansteigenden Geräusch zu einem Ausdrucksensemble, in dem die Elemente der schauspielerischen Darstellung mit denen des kinematografischen Bilds verschmelzen.
Deutlich handelt es sich nicht um eine subjektive Perspektive – das Bild zeigt nicht etwa, was die Protagonistin sieht, indem die Kamera deren Position übernähme – und doch bringt das Bild eine subjektive Wahrnehmungs- und Empfindungswelt zum Ausdruck. Seine Ausdrucksqualitäten – Licht und Geräusche – lösen sich aus den räumlichen Bezügen; sie weisen auf ein Außen des wahrnehmungslogischen Raums, auf das unsichtbare Innenleben der Figur. Die Frau hat Gift zu sich genommen, und was man sieht, ist ein kinetisches Bild der ansteigenden Todesangst.
Die beschriebene Szene steht am Ende eines Films von Rouben Mamoulian: APPLAUSE (USA 1929). Es handelt sich um einen der ersten Tonfilme der Filmgeschichte, von einem Regisseur, der wegen seiner akustischen Experimente im Theater bekannt war (Berthomieu, 1995). In mehrfacher Hinsicht kann der Film von Rouben Mamoulian als Paradigma einer Theorie des Melodramas dienen:
Erstens bezeichnet das gezeigte Tableau, die "Frau, allein in einem Zimmer" eine stehende Formel, die, weit über das Kino hinaus, auf die szenische Grundkonstellation des Melodramas verweist – eine Frau sieht sich von ihrem Geliebten betrogen und erkennt ihre Verlassenheit. Der Prozess dieser Erkenntnis ist das eigentliche Drama, die wiederkehrende melodramatische Urszene.
Zweitens zeigt sich in der Spielweise der Protagonistin das grundlegende Muster melodramatischer Schauspielkunst. Deren körperlicher Ausdruck stellt ein Leid vor Augen, das sich sprachlich nicht artikulieren kann.
Drittens ist gerade in der unausgereiften Form des frühen Tonfilms die schauspielerische Darstellung noch nicht an die kinematografische Erzählweise assimiliert. So sehen wir einerseits das melodramatische Schauspiel wie eine gefilmte Bühnenszene, andererseits aber können wir die kinematografische Übersetzung dieses Schauspiels in eine hyperbolische Bildsprache verfolgen.9 Das Bild der Angst ist schließlich nicht mehr durch die Kunst der Schauspielerin getragen, sondern gründet in der filmischen Inszenierungsweise.
APPLAUSE entwickelt auf eindrückliche Weise, was gerade der Stummfilm so nicht zeigen konnte. Denn was im Verlauf der beschriebenen Szene entsteht, ist ein Bild, in dem sich das Schweigen der Empfindungen darstellt. In demselben Maße, in dem die Elemente der dargestellten Welt (eine Frau allein in einem Zimmer, die Geräusche, das Licht von der Straße) dramatisiert und selbst darstellend werden, verlieren sie ihre 'realistischen' Bezüge (Straßenlärm, Leuchtreklame). Sie formieren sich zu einem Bild des Gefühls: Das Flackern des Lichts wird eindringlicher, die Geräusche verstärken sich, die Bewegungen der Schauspielerin werden zunehmend selbstvergessen. Der Raum, in dem sich bisher eine Handlung vollzog, löst sich auf in einer Collage von Klang und Lichtwerten, mit der das kinematografische Bild selbst zu einer empfindsamen Oberfläche geworden ist, an der sich die Empfindungsregungen der Protagonistin zeigen, als sei die Leinwand selbst zu ihrem Gesicht geworden. Dessen Ausdruck bezieht sich auf das buchstäblich Unsagbare der Gefühle.
Dieses Bild erzählt nicht von der Befindlichkeit der Figur, sondern setzt das Bild ihres Leidens als eine Verwandlung des äußeren Raums in ein phantasmatisches Bild in Szene. An Stelle der dargestellten Figur tritt dem Zuschauer gleichsam eine rhythmische Textur aus Geräuschen und Lichtwerten als ein Bild des Empfindens vor Augen. Der Reiz des in die Augen fallenden Lichts, das anschwellende Geräusch einer aus den Fugen geratenen Welt wird im dunklen Raum des Zuschauers zur Simulation eines Wahrnehmungs- und Empfindungszustands.10
In APPLAUSE ist die Wahrnehmung des Zuschauers der einzige Ort, an dem dieses Bild zur Erscheinung kommt. Sein Sehen und Hören allein misst die Spanne aus, welche die Höhe des Bewusstseinssturzes der Figur, ihre anwachsende Angst ausmacht. Die Figur entsteht weder auf der Ebene der gestischen Darstellung vor der Kamera noch auf der Ebene der Repräsentation der Erzählung. Sie entsteht allein im Dunkel des Kinosaals; sie entsteht in der Inszenierung einer spezifischen Art und Weise des Hörens und Sehens; sie entsteht als ein lyrisches Ich, ein "Ich sehe, ich empfinde" der Kamera.11 Der Raum, in dem sich dieses "Ich-empfinde" ereignet, ist nicht der repräsentierte Raum auf der Leinwand, nicht die imaginäre Welt der erzählten Handlung, es ist der Wahrnehmungsraum des Zuschauers.
In diesem "Kamera-Ich" fusioniert die simulierte Wahrnehmungswelt der Figur unmittelbar mit der ästhetischen Wahrnehmung des Zuschauers. Ihm wird die dargestellte Welt im Ganzen zum Bild eines "inneren Zustands", zu einem Bild einander korrespondierender perzeptiver, affektiver und symbolischer Werte, das in der Zeit seiner ästhetischen Wahrnehmung entsteht. Letztlich ist es das Empfinden des Zuschauers, das in der zeitlichen Entfaltung der melodramatischen Szene seine Modulation erfährt. Das Bild meint sein Gefühl; das ist weniger sein Mitgefühl für die Figur als ein Empfinden seiner eigenen Sensibilität, das Fühlen seines Mitfühlens. So betrachtet bildet die dargestellte Szene lediglich den Ausgangspunkt einer Umwandlung der ästhetischen Realität des kinematografischen Bilds in eine faktische psychische Realität.
Diese psychische Realität, das "Zuschauergefühl", steht im Zentrum jeder melodramatischen Darstellung. Sie zielt nicht auf Mitteilung und Repräsentation, sondern auf die Erzeugung der Gefühle im Akt des Zuschauens; sie zielt auf die Inszenierung eines sich selbst genießenden Empfindens im dunklen Raum des Publikums. Der Ausgangspunkt sentimentaler Unterhaltungskultur war das Melodrama, wie es das Theater der Empfindsamkeit hervorgebracht hat.
Eines der ersten Melodramen, Ariadne auf Naxos (1775) von Johann Christian Brandes knüpft an eine überaus populäre mythologische Szene an: Ariadne, die erkennt, dass ihr Geliebter, Theseus, sie einsam auf der Insel zurückgelassen hat. Das Stück setzt ein mit einer kurzen Rede des Helden: Theseus, der die Liebende und also die Bühne verlässt. Seine Worte führen dem Publikum die Schlafende vor Augen, sie setzen gleichsam die melodramatische Szene in Gang – die Heroine erwacht, sie beginnt zu sprechen. Der dann folgende lyrische Monolog beschreibt in einem furiosen Wechsel zwischen Verzweiflung und Hoffnung den Prozess, in dem Ariadne ihre Verlassenheit erkennt. Ihre Rede gliedert einen emotionalen Parcours, der im Gebärdenspiel der Schauspielerin, begleitet von der Musik, durchlaufen wird. Mal um Mal ergreift die verlassene Geliebte das Bewusstsein ihrer Verlorenheit, Mal um Mal richtet sie sich an neugeschöpfter Hoffnung auf – bis zur spektakulären Sterbeszene: Ariadne stürzt vom Felsen ins Meer.
Wie in zahllosen Melodramen danach, hüllt Ariadne in mythologische Gewänder, was eine durchaus alltägliche Erfahrung ist; thematisiert das Stück doch nichts anderes als das Leiden einer verlassenen Frau, die aus der Illusion ihrer Liebe erwacht. Die Apotheose, der Sturz vom Felsen, das ist der Sturz des verliebten Ich, das seine trügerische Hoffnung fahren lässt. Von Anfang an ist die Tränenseligkeit des bürgerlichen Publikums an dieses Leidensbild gebunden: Im Hin und Her zwischen Hoffnung und Verzweiflung, im Prozess der Inszenierung, artikuliert sich das wachsende Bewusstsein vom Scheitern der Liebesillusion. Der Prozess dieser Bewusstwerdung bezeichnet die melodramatische Urszene. Am Ende steht das Schweigen des unsagbaren Empfindens.
Seltsam pompös wirkt es, wenn in den letzten Worten des Monologs das Liebesleid der Verlassenen mit dem Schweigen der Götter verknüpft wird. Doch die Disproportion zwischen hohem Ton und alltäglicher Realität verdankt sich nicht einfach der mythologischen Verkleidung bürgerlicher Innerlichkeit, der es an tragischem Talent mangelt. Das Melodrama handelt per se von den "Tragödien" der einfachen Seelen, dem Drama der alltäglichen Gefühle und unterscheidet sich darin grundlegend von den tragischen Formen nichtbürgerlicher Kultur. Genau diese Differenz kommt in den letzten Worten Ariadnes zum Ausdruck; sie verbinden die gescheiterte Liebesillusion mit der Erfahrung einer gottverlassenen Welt.
"Meine Kräfte – der Sturm – unwiderstehlich! – Götter! – Vergebens! – Hülfe! Hülfe! – Theseus! – Götter! Theseus! – Ach!" (ein Blitz fährt auf sie zu; sie erschrickt und stürzt vom Felsen ins Meer.)
Die zerbrochene Liebesillusion impliziert die Erfahrung, dass keine höhere Macht eingreifen, kein Deus ex machina das Schauspiel der leidenden Heroine beendet. Man darf in dieser Deutung des Mythos durch das Melodrama durchaus eine einschneidende Umdeutung sehen. Denn während in den allermeisten Darstellungen des Mythos, Ariadne von Dionysos aus ihrer verzweifelten Lage gerettet und zur Braut erkoren wird, beharrt das Melodrama auf dem Erkennen der Verlassenheit.
Die Disproportion der melodramatischen Szene weist auf ein Bewusstsein, dem der Glaube an die Götter abhanden gekommen ist. Diesem Bewusstsein ist die Erfahrung des sterblichen und sexuellen Körpers, die Erfahrung der Liebe, Grenze und Grund seiner Subjektivität. Diese Subjektivität findet sich als 'Weiblichkeit der Seele' in der Leidensszene der melodramatischen Heroine personifiziert.
Ariadne ist eine bürgerliche Frau, deren Liebeshoffnung zerbricht. Der Blitz dieser Erkenntnis – eine berühmte Metapher Foucaults aufnehmend – enthüllt ihr das Dunkel der Nacht eines Gottes, der nicht mehr kommen wird, der gestorben ist. Die Transformation dieser Erfahrung der Gottverlassenheit in das Schema des Trennungsschmerzes eines unglücklich liebenden Ich bezeichnet den historischen Ort der melodramatischen Szene und unterscheidet sie vom älteren Pathos der Tragödie und der Passion. Insofern ist das Melodrama eine genuin bürgerliche Unterhaltungskunst, die sich nicht bruchlos in die Reihe der Pathosformen seit der antiken Tragödie einreihen lässt.
Seien es die Bühnenmelodramen von der Ariadne bis zur Kameliendame, seien es die melodramatischen Filme Hollywoods – seit ihrem ersten Auftritt im empfindsamen Theater des 18. Jahrhunderts durchläuft die melodramatische Heroine immer neu den Zirkel von angstvoller Erwartung und der Erkenntnis ihrer Verlassenheit. Mal um Mal führt die Apotheose auf die ursprüngliche Szene der leidenden Heroine zurück, die Erfahrung ihrer Verlassenheit.
Allerdings wird man mit Blick auf die Schauspielerin nur mit einigem Vorbehalt von einer Apotheose sprechen können, ist doch die Nähe von Todesschrecken und Rettungshoffnung das durchgängige Prinzip ihrer Spielweise. Tatsächlich weist der Topos der im Liebesleid vergehenden Frau auf die Schauspielkunst selbst zurück.
Als bestehe das Stück aus einer Folge von Peripetien, bewegt sich das Gestenspiel der melodramatischen Schauspielerin von Umschlagspunkt zu Umschlagspunkt ständig auf der Höhe einer "Apotheose".12 Die Virtuosität dieses Spiels zielt nicht auf die Illusion eines gestischen Körpers, der als Erscheinung sichtbar werden lässt, was Worte nicht sagen können, sondern auf die schauspielerische Verwandlungsfähigkeit selbst, den rapiden Wechsel der Ausdrucksqualitäten. Sie zielt auf das Empfinden des Zuschauers, der sich nach- und mitfühlend durch die Stufen der Verwandlung hindurch bewegt.
Die Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts wird nicht müde, diesen Umstand zu diskutieren. Im Ergebnis kommt diese Diskussion auf eine Pointe hinaus, die meist unverstanden bleibt; liest man die Poetik empfindsamer Schauspielkunst doch gewöhnlich als Theorie einer Mimesis des Schauspielers an eine vorgestellte Figur. Doch die empfindungsvolle Geste weist so wenig auf die Realität des Körpers der Schauspielerin wie die Figur auf eine außerästhetische Wirklichkeit guter, böser oder idealer Menschen. Die gestische Verkörperung des Gefühls zielt vielmehr auf den realen Effekt der theatralen Darstellung im Publikum – auf das sentimentale Genießen des Zuschauers.
In dieser kulturgeschichtlichen Perspektive erscheint der "dunkle Raum des Kinos" als das Dispositiv einer kulturellen Praxis, in der 'neue' und 'alte' Medientechnologien sich verbinden. Ihre Grundform sind die Metamorphosen empfindsamen Schauspiels, wie sie von Diderot im Begriff der "geste sublime" und von Lessing im Begriff der "individualisierenden Geste" reflektiert wurden. Die Theorie der empfindsamen Geste lässt sich nämlich als Programm der Erzeugung einer höchst kunstvollen Seele lesen, die sich auf die akzidentellen Gefühle einer neuen Spezies von Zuschauern, auf eine Art sekundäre Menschlichkeit gründet. Die Tränen des "Mitleids", das war für das Theater der Empfindsamkeit keineswegs ein Effekt eines die Empfindungen der Figur nachvollziehenden Zuschauers.
Das Mitleid geht mit der Aktivität des Nachempfindens einher, es ist aber nicht mit diesem identisch. Vielmehr bezeichnet es eine eigenständige affektive Aktivität des Zuschauers, eine Aktivität, deren Bewusstwerden gleichsam die wirkungsästhetische Kehrseite der dramatischen Apotheose darstellt – gleich ob der Zuschauer diesen Affekt als emotionales Erleben der dargestellten Figur zuschreibt oder ihn als seine eigene Emotionalität erkennt. Analytisch bezeichnet "Mitleid" die affektive Wahrnehmung des Affiziertseins durch die theatrale Inszenierung.
Das Mitleid ist der Affekt, dessen Gegenstand das Schauspiel selber, der ästhetische Gegenstand ist: nicht die nachvollzogene Freude, nicht die vorgestellte Angst, nicht der mitempfundene Schrecken, also nicht die Illusion der Figur, sondern das Affiziertsein durch den Akt der Darstellung. Deutlich unterscheidet Lessing das Mitleid als einen primären Affekt von den "mitgeteilten zweiten Affekten".
"Die spielende Person gerät in einen unangenehmen Affekt, und ich mit ihr. Aber warum ist dieser Affekt bey mir angenehm? Weil ich nicht die spielende Person selbst bin, auf welche die unangenehme Idee unmittelbar wirkt, weil ich den Affekt nur als Affekt empfinde, ohne einen gewissen unangenehmen Gegenstand dabei zu denken.
Dergleichen zweite Affekten aber, die bei Erblickung solcher Affekten an andern, in mir entstehen, verdienen kaum den Namen der Affekten; daher ich denn in einem von meinen ersten Briefen schon gesagt habe, daß die Tragödie eigentlich keinen Affekt bei uns rege mache, als das Mitleiden. Denn diesen Affekt empfinden nicht die spielenden Personen, und wir empfinden ihn nicht bloß, weil sie ihn empfinden, sondern er entsteht in uns ursprünglich aus der Wirkung der Gegenstände auf uns; es ist kein zweiter mitgeteilter Affekt etc." (Lessing, 1973, 203f).
Mitleid ist eine Affektivität, die aus der realen Aktivität des Zuschauers, dem Zuschauen eines Schauspiels rührt. Ein 'lebendiges Empfinden', das genuin dem Publikum eignet und weder von der Figur noch vom Schauspieler geteilt werden kann. Man könnte es das Zuschauergefühl nennen.
Wenn Lessing auf einem genuinen Zuschauerempfinden beharrt, dann weil die Seele des mitmenschlichen Menschen als eine höherstufige Form des Empfindens aus den Begierden und Affekten allererst zu formen ist. Seine Überlegungen antizipieren eine Theorie des reflexiven Empfindens, ein 'Gefühl höherer Ordnung' als das von Lust und Unlust, Genuss und Ekel. Anders aber als die philosophischen Ästhetiken – von Kant und den Romantikern – begreift er dieses Gefühl höherer Ordnung nicht als Reflexivität, in der sich das Subjekt vom sinnlich-materiellen Grund seines Empfindens lösen kann, um sich in seiner Subjektivität zu ergreifen. Nicht Reflexion, sondern das sinnliche Erleben der eigenen Empfindsamkeit im Prozess theatraler Darstellung steht im Zentrum der Poetik des Mitleids. Als ästhetische Erfahrung aber ist das "Mitleid" an die Gegenwart seines Gegenstands, an das Gegenwärtigwerden der eigenen Empfindsamkeit gebunden. Eben diese zeitliche Form sieht Lessing im kathartischen Schrecken benannt:
"Das Schrecken in 'der Tragödie' ist weiter nichts als die plötzliche Überraschung des Mitleides, ich mag den Gegenstand meines Mitleids kennen oder nicht. Z.E. endlich bricht der Priester damit heraus: 'Du Ödip bist der Mörder des Lajus!' Ich erschrecke, denn auf einmal sehe ich den rechtschaffnen Ödip unglücklich; mein Mitleid wird auf einmal rege." (Lessing, 1973, 162)
Der "Schrecken" des Zuschauers rührt nicht vom Dargestellten her, sondern ist der affektive Index eines plötzlichen Sich-selbst-in-seinem-Empfinden-gegenwärtig-seins. Der Zuschauer kann vor dem dargestellten Unglück erschrecken, er mag sich an der glücklichen Wendung erfreuen oder vor dem sich ankündigenden Verhängnis ängstigen – es sind dies alles schwache, sekundäre Affekte ohne Gegenstand; was den Zuschauer trifft, ihn überrascht, ihm zustößt ist das Empfinden seiner eigenen Empfindsamkeit: die ihn überraschende Begegnung mit seiner eigenen Affektivität.
Auf die Zeit dieser Selbstvergegenwärtigung in der sinnlichen Wahrnehmung der eigenen Affektivität bezieht Lessing die Katharsis. Als sinnliches Empfinden seiner eigenen Empfindsamkeit bleibt es an die Realität des ästhetischen Wahrnehmungsprozesses, an die Dauer des Darstellungsprozesses gebunden. Die zeitliche Spanne des Schauspiels der Empfindsamkeit konstituiert, gliedert und begrenzt den Raum dieser Innerlichkeit. Sie bildet die wirkungsästhetische Kehrseite der dramatischen Apotheose, ist der Vollzug der Bewegung des Dramas in der Innerlichkeit des empfindsamen Subjekts – der Raum des Publikums. Das Mitleid ist ein genuines Selbstverhältnis, eine durch das Pathos des empfindsamen Theaters künstlich erzeugte Innerlichkeit.
Doch noch der Begriff, der diesen Sachverhalt fortgeschrittener Säkularisierung bezeichnet, "Verinnerlichung", führt als Konnotation den Vorwurf des Scheinhaften mit sich, der gegen das Individuationsprinzip bürgerlicher Kultur schon sehr bald erhoben wurde. Das Theater der Empfindsamkeit war ein Ort der Übung der Empfindungskräfte, damit aber auch – anekdotisch und seriös ist dies vielfach beschrieben – der Ort zur Schau gestellter Rührseligkeit. Noch die Peinlichkeit, die sich heute mit den künstlich initiierten Gefühlen verbindet, verdankt sich letztlich der erfolgreichen Umsetzung der Wertvorstellungen dieser Epoche. Sie ist das Ergebnis eines "Zivilisierungsprozesses", der die Kontemplation vor dem Bild, im Konzertsaal und im Theater immer strenger reglementierte, während das Weinen, wie alle Gefühligkeit, privatisiert wurde, um sie als authentisches Empfinden gegen die zur Schau getragene Rührung abzugrenzen. Selbst ein Phänomen der neuen, säkularisierten bürgerlichen Subjektivität hat die Emphase der Empfindsamkeit schon "den Anfang des 19. Jahrhundert nur in Gestalt eines sinkenden Kulturguts erreicht, teils als Unterstrom, teils als Gegenbild zur Romantik." (Koschorke, 1999, 462). In dem wirkungsästhetischen Kalkül dieses Theaters aber ist noch verbunden, was dann in der Entfaltung der bürgerlichen Kultur auseinander fällt, populäre Unterhaltungskultur und die ästhetische Reflexivität der Kunst.
Als niederes Zerstreuungsprinzip ist das sentimentale Genießen also nicht erst seit dem Kino schlecht beleumdet. Vom Verwandlungsspiel der melodramatischen Heroine des 18. Jahrhunderts über die bühnentechnisch aufgerüsteten Rührstücke des 19. Jahrhunderts, von dem abgedunkelten Publikum der Wagner-Oper bis zu den Lichtspielen des melodramatischen Kinos lassen sich die Manifestationen der kulturellen Praxis sentimentalen Genießens verfolgen.
Die intime Selbstbezüglichkeit ist an einen öffentlichen Ort gebunden, der Elemente der Versammlung und Vergemeinschaftung bewahrt. Einerseits verschwindet der individuelle Zuschauer, wird zum unkenntlichen Teil eines Resonanzkörpers, dem "Publikum", andererseits ist er im affektiven Getroffen-sein exponiert in seiner leibhaften Präsenz; er erfährt sich wie persönlich angerührt.
Der dunkle Raum bewahrt durchaus ein Moment ritueller Exaltation, der die "Schauspiele der Empfindsamkeit", seien es die des Theaters, die der Oper oder die des Kinos, von anderen Formen sentimentaler Unterhaltung (etwa dem Lesen sentimentaler Romane oder dem Schauen von Fernsehmelodramen) unterscheidet (Fischer-Lichte, 2000, 70–71). Er bildet die Grundlage einer sich in ihrer Sinnlichkeit und Affektivität selbst genießenden Subjektivität. Insofern ist die bürgerliche Seele ein Kunstprodukt des 18. Jahrhunderts und zugleich die Basis einer ebenso allgegenwärtigen wie in ihren Wirkungen existentiellen kulturellen Praxis der Subjektivierung lebendiger Individuen.
Wenn John Berger von der Sehnsucht nach der Seele spricht, die das Kino ausdrücke und die seinen Reiz ausmache, dann bezeichnet er den gegenwärtigen Ort dieser Praxis (Berger 1991) Doch handelt die Geschichte des "Jahrhunderts des Kinos" nicht nur vom Verschwinden der 'bürgerlichen Seele', sondern mindestens ebenso von der Globalisierung der Praxis ihrer Kultivierung. Noch immer wähnt sich der weinende Zuschauer auf dem Gipfel seiner Subjektivität, auch wenn er innerste Gefühle mit einem Publikum teilt, das regelmäßig nach Millionen zählt und sich in alle Erdteile zerstreut.
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