Über heisse Tränen und kalte Blicke
1.
In der Filmwissenschaft werden Tränen bisher in erster Linie als Thema und spektatorialer Effekt des Melodrams behandelt und die möglichen Tränen der Zuschauer auf Grundlage der narrativen Struktur des Melodrams erklärt. In der Thematisierung der Tränen und des Weinens im Kontext des Melodrams herrscht zudem die Annahme vor, eine Explikation der narrativen Struktur des filmischen Textes würde bereits eine Erklärung darüber implizieren, warum der Zuschauer zu Tränen gerührt wird. Der melodramatische Effekt, so etwa die Argumentation von Franco Moretti in seinem Text Kindergarten, der Steve Neale und Linda Williams gefolgt sind, beruhe auf einer temporalen Verschiebung, einer Verzögerung von Erkenntnis auf Seiten der Protagonisten gegenüber dem Wissensstand der Zuschauer/Leser oder gar dem endgültigen "Zu spät" einer Vereinigung von Figuren, die vom Zuschauer längst als zusammengehörig identifiziert wurden. Diese generische und strukturelle Engführung wird allerdings der Bandbreite möglicher Ursachen des Weinens nicht gerecht. Wir weinen aus Scham und Enttäuschung, Rührung und Verbitterung, Traurigkeit und Glück, Schande und Schmerz, aus Überwältigung, Schmach, Lust, Angst, Verzweiflung, Erniedrigung, Schock, uns kommen die Tränen vor Lachen und schließlich weinen wir auch grundlos oder aus berechnendem Kalkül. Aktuelle Ereignisse können Tränen ebenso hervorrufen wie Erinnerungen, Vorstellungen, Antizipationen.
Nahezu ebenso vielfältig wie die Ursachen des Weinens können unsere Reaktionen ausfallen: Tränen können Mitleid erregen, Gelächter auslösen, abstoßend oder sexuell stimulierend wirken. In Frage steht aber auch die Einheit des Phänomens des Weinens selbst. Die Alltagssprache nimmt hier eine Reihe von Differenzierungen vor, die von der phänomenalen Vielfalt des Weinens zeugt: Wir sind den Tränen nahe, uns stehen Tränen in den Augen, wir schluchzen, brüllen, vergiessen Tränen, haben Weinkrämpfe, heulen Rotz und Wasser, quetschen uns ein Tränchen ab und haben generell zu nah am Wasser gebaut - je nach Adressat der Tränen, sozialem Kontext, auslösendem Reiz und psychischer Verfassung. Auch physiologisch wird zwischen drei unterschiedlichen Tränenarten differenziert, deren chemische Zusammensetzung und Anteile an Hormonen und Proteinen höchst unterschiedlich ist: basale Tränen bezeichnen die kontinuierliche Sekretion in der Menge von ein bis zwei Mikrolitern pro Minute zur Benetzung der Augäpfel; reflektorische oder Reiztränen treten in Folge äusserer Reizungen auf; und psychische Tränen, die für unseren Zusammenhang die entscheidenden sind, werden gefühlsbedingt produziert. (vgl. Lutz, Tränen vergiessen, S. 71-74)
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Zahlreiche Affektlagen finden dementsprechend in Tränen unterschiedlichster Qualität und Wirkung einen expressiven Kanal, Affektlagen, die das Vermögen sprachlicher Artikulation übersteigen. Stets kommt, so eine These aus phänomenologischer Sicht, in Tränen ein Versagen der Sprache zum Ausdruck: Tränen fliessen, wenn die Affekte nicht mehr durch das Nadelöhr der Sprache passen, die Situation die Inanspruchnahme artikulierter Sprache verbietet oder die Fähigkeit des sprachlichen Ausdrucks schlicht abhanden gekommen ist. Weinen markiert einen Verlust der Herrschaft über uns selbst und verweist uns auf die grundsätzliche Unverfügbarkeit unserer leibseelischen Existenz (vgl. Meyer-Drawe, "Der lachende und der weinende Leib"). Die neuere Forschung legt jedoch nahe, Tränen nicht als unmittelbaren und zeitlich parallelen Ausdruck einer Krise des Subjekts zu begreifen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass Tränen in dem Moment auftreten, in dem der Körper schon wieder in einen homöostatischen Zustand zurückkehrt (vgl. Lutz, Tränen vergiessen, S. 113). Doch auch dieser Prozess einer Rückkehr zu einem Gleichgewicht kann als einer begriffen werden, der sich der Dimension des Sprachlichen entzieht.
Andererseits sind Tränen, wenn sie auch genuine Sprachlichkeit überschreiten oder unterlaufen, doch ebenso ein Mittel der Kommunikation, das zeichentheoretisch aufgeschlüsselt werden kann und bei dem Gegenüber des Weinenden fast zwangsläufig hermeneutische Bemühungen in Gang setzt, die sich nicht in der Dichotomie von "echten" und "falschen" Tränen erschöpft: Warum diese Tränen jetzt, in dieser Situation und mir gegenüber? Daß Tränen eine kommunikative Dimension eignet, erschließt sich durch die Tatsache, daß Tränen lügen können. Sie können Mitleid fordern, wo keines angebracht ist, sie können auf Gefühle verweisen, die nicht da sind, und sie können strategisch eingesetzt werden, als pathetische Geste, die dringlicher als die verbale Sprache vom Gegenüber eine Antwort verlangt. Und schließlich können sie auch der Selbsttäuschung des Ichs dienen, wie Roland Barthes bemerkt hat: "Ich bringe mich zum Weinen, um mir zu beweisen, daß mein Schmerz keine Illusion ist." (Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 253)
3.
Gesteht man beiden Thesen, der phänomenologischen und der semiotischen, eine gewisse Berechtigung zu, begreift man ihren Antagonismus nicht lediglich als theoretische Konkurrenz, sondern als Ausdruck der Komplexität des Gegenstandsbereichs, dann stehen Tränen zwischen Zeichenhaftigkeit und unmittelbarem, nicht-sprachlichem Affektausdruck. Dies lässt sich zeigen, wenn man dem Fluss der Tränen entlang dem Pfad der Liebe folgt, denn Liebe und Tränen sind seit jeher eng miteinander verknüpft. Die Ambivalenz bestimmt die Rolle der Tränen seit ihrer modernen Codierung, die tentativ für das 18. Jahrhundert veranschlagt werden kann. Nur in der angeführten Ambivalenz können Tränen ihrer Funktion gerecht werden, als Medium dessen zu dienen, was Niklas Luhmann unter dem Titel der Inkommunikabilität als Entdeckung des 18. Jahrhunderts beschreibt. In der literaturgeschichtlich als "Empfindsamkeit" rubrizierten Periode werden nach der Formulierung Manfred Schneiders die Tintenkanäle direkt an die Tränenkanäle angeschlossen (Schneider, Liebe und Betrug, S. 145): Werther weint auf den rund hundert Seiten des Briefromans mehr als sechzig Mal, und seine Tränen sind Botschaften aus "der unzugänglichen Welt, die Werther das Herz nennt, der die aufblühende Psychologie dann den Namen Seele geben wird" (ebd., S. 144). Zwar setzt die Wissenschaft unter dem Titel der Psychologie in der Tat zur rationalen Aufklärung noch der innersten seelischen Regungen an; doch als Sprache des Herzens, als die Tränen im Werther fungieren, kommt ihnen noch eine betont anti-aufklärerische Position zu. Und nicht zuletzt liegt ihre anti-aufklärerische Pointe darin, dass Tränen den Blick verschleiern und damit den prominentesten Sinn des aufklärerischen Impulses in der Moderne sabotieren.
Während binnenliterarisch "die Tränen beurkunden, daß die Herzen trotz der zwischengeschalteten toten Buchstaben in unmittelbarem Kontakt miteinander gestanden haben" (ebd., S. 145) und die Tränen gegenüber der Sprache den Sieg in der Konkurrenz um die Stellung als adäquates Medium des Ausdrucks des authentischen, inneren Ichs davontragen, lässt sich dies in der soziologischen Optik Luhmanns als Ergebnis des Prozesses der Trivialisierung der Liebeskommunikation begreifen. Waren Liebesgeschichten vormals adligen Protagonisten vorbehalten, steht das 18. Jahrhundert vor dem Problem der Notwendigkeit der Inklusion breiterer Bevölkerungsschichten in das Kommunikationsmedium der Liebe. Der sozialen Trivialität der aus dieser Situation heraus gestalteten literarischen Protagonisten wird mit innerer Komplexität geantwortet. Inkommunikabilität, also die Vorstellung, dass "die komplexe psychische Realität der Beteiligten [...] nicht voll mitteilbar [ist]", wird entwickelt als Instrument der "Entbanalisierung der Mittelmäßigkeit" der neuen literarischen Helden. "Ihr ist zu danken, daß auch Normalmenschen noch eine Geschichte zustandebringen, für die andere sich interessieren können." (Luhmann, Liebe als Passion, S. 153f) Werther wäre des Leserinteresses nicht wert, wenn er nicht ein so interessantes und komplexes Gefühlsleben aufweisen würde, das aber nicht sprachlich kommunikabel ist. Und genau dieses Innenleben simuliert sein nicht versiegender Tränenfluss. Der fiktive Herausgeber der Briefe empfiehlt Werther dem Publikum dementsprechend auch nicht aufgrund seiner Taten, sondern mahnt statt dessen: "Ihr könnt seinem Geiste und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen." (Goethe, Die Leiden des jungen Werther, S. 7) Tränen bezeugen den "unmittelbaren Kontakt der Herzen" nicht nur zwischen den fiktionalen Figuren, sondern ebenso zwischen diesen und dem Leser. Tränen, mit anderen Worten, invisibilisieren gleichsam das zentrale Problem vor allem intimer Kommunikation, ohne es jedoch lösen zu können: die Intransparenz des Bewusstseins.
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Niklas Luhmann, der die Inkommunikabilität als die große Entdeckung des 18. Jahrhunderts würdigt und es offen bedauert, dass den geschwätzigen modernen Beziehungen der Sinn für diese Problematik und damit für die Bitterkeit des Alleinseins in der Intimität abhanden gekommen ist (vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 159), führt in Liebe als Passion eindrucksvoll die Implikationen und Facetten dieses Konzepts vor Augen. Denn Inkommunikabilität bezeichnet nicht lediglich eine Störung der passionierten Rhetorik oder einen Verlust amouröser Eloquenz, sondern die Einsicht in prinzipielle Schranken der Kommunizierbarkeit und in die damit verbundene Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit (vgl. ebd., S. 154). Mit anderen Worten: Unter dem Titel der Inkommunikabilität geht es nicht um "die Beschränkungen des sprachlichen Ausdrucksvermögens", sondern "um das Problem, ob es nicht, und zwar gerade in Intimbeziehungen, Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand einer Mitteilung macht" (ebd., S. 155), weil, bildlich gesprochen, "die Mitteilung nicht kühl bleiben [kann], wenn die Information zu heiß ist" (ebd., S. 156). Dem 'kalten' Medium der Sprache ist zu mißtrauen, wenn es um Angelegenheiten des Herzens geht, um die Artikulation authentischer, unverstellter Gefühle. Unter den Bedingungen derart paradoxer Kommunikationsanforderungen, wie sie in Liebesangelegenheiten vorliegen, greift man statt auf die 'kalte Sprache' besser auf 'heisse Tränen' als Medium der Kommunikation zurück.
5.
Nun lässt sich allerdings gerade unter der Bedingung 'uneigentlicher' Kommunikation - d.h. Kommunikation im Modus des "als ob", wie man Fiktionalität generell beschreiben kann - das Experiment einer unaufgelösten Differenz von heisser Information und kalter Mitteilung durchführen und für ästhetische Formgewinne fruchtbar machen. Die Filme Eric Rohmers bilden hierfür exponierte filmische Beispiele. Obwohl in erster Linie mit Herzensangelegenheiten beschäftigt, sind Filme wie L'AMI DE MON AMIE (1987) kalkulierte Planspiele, bei denen die Protagonisten wie Spielfiguren von unbekannter Hand in einer artifiziellen Versuchsanordnung der Gefühle bewegt werden. Ihr Sprechen ist nicht Ausdruck einer authentischen Innerlichkeit, sondern sie werden gesprochen, sind determiniert durch einen vorgängigen Diskurs. Der ästhetische Reiz liegt genau in der Kollision zweier thermischer Qualitäten, der Kälte des Diskurses und der Hitze der Liebe. Die meisten Filme sind bemüht, eine Kongruenz von Information und Mitteilung zu erzeugen, d.h. Liebe nicht kalt darzustellen. Doch Rohmers ästhetisches Kalkül ist viel eher das treffende Modell einer Filmerfahrung, die nicht zuletzt mit dem Film als Medium körperlichen Erscheinens zu tun hat.
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In vielerlei Hinsicht erbt der Film die Rhetorik der Liebe - und ihre Fallstricke - von der Literatur. Auch der Film erzählt Liebesgeschichten, wie die Literatur Worte, so findet auch der Film Bilder, um die Herzen sprechen zu lassen. Doch Film ist nicht nur ein Medium der Erzählung, auf die wir als Zuschauer in intensiven Momenten mit Tränen reagieren, sondern immer auch ein Instrument der Beobachtung von Körpern. Hier gewinnt das Kino gegenüber der Literatur und auch gegenüber den anderen Künsten und Medien eine eigene Dimension. Wir vermögen mit Sympathie und Empathie auf die filmischen Erzählungen zu reagieren, doch stets gibt es auch die Möglichkeit einer distanzierten, beobachtenden Haltung, die sich an der Sprache des Körpers orientiert. Im Film werden Körper in einer intimen Nähe als Objekte der Beobachtung ausgestellt, die soziale Konventionen unterschreitet. Reizvoll ist dies nicht zuletzt in Momenten intensiver Gefühle, denn gerade diese finden nicht in der Öffentlichkeit statt und wir sind auf das mehr oder weniger geringe Maß an Erfahrung angewiesen, das uns auf der Basis persönlicher Beziehungen zur Verfügung steht - und damit im Rahmen von Situationen, in denen es besonders schwierig ist, gleichzeitig die Rollen des Beteiligten und des Beobachters einzunehmen. Im Film werden Körper in einer Genauigkeit und intimen Nähe beobachtbar, die alltagsweltlich dem privaten Bereich vorbehalten ist. Der Film ist insofern das zentrale Aufklärungsmedium körperlicher Intimität. Rohmers ästhetisches Kalkül erweist sich in dieser Hinsicht als Modell einer zentralen Form der Filmerfahrung: Auf der einen Seite steht die 'heisse' Information, die Darstellung affektgeladener, emotionaler Geschichten und Situationen; auf der anderen Seite die Möglichkeit eines 'kalten' Blicks, der sich nicht identifizierend auf die erzählte Geschichte und ihre Protagonisten einlässt, sondern sein Wissen an der Beobachtung von erregten, liebenden, verzweifelten, aufgewühlten und in Tränen aufgelösten Körpern schult.
Ein in Tränen aufgelöstes Gegenüber erzwingt in der Regel Anteilnahme wenn nicht gar Handeln von uns. Auch im Kino mögen die fiktionalen Figuren um unser empathisches Empfinden buhlen, doch gleichzeitig haben wir stets Körper vor Augen, die nüchtern auf ganz andere Informationen hin abgetastet werden können: Wann darf man weinen, wie viele Tränen sind angemessen, welche Reaktion empfehlenswert, wie kann man Tränen trocknen oder hervorrufen, welche Eindrucksqualität kommt weinenden Körpern überhaupt zu, welche unterschiedlichen Arten des Weinens lassen sich konstatieren? Mit jeder Liebesgeschichte formuliert das Medium Film auch Antworten auf solche Fragen.
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Die Unterscheidung von heissen Tränen und kalten, toten Buchstaben, die historisch die Stellung der Tränen als Sprache des Herzens bestimmt hat, ist nicht nur durch den investigativen Blick auf die heissen Tränen des Kinos problematisiert worden. Mit dem Film verschärft sich auch das Problem, dass sich die Unterscheidung heiss/kalt in das Phänomen des Weinens selbst hineinkopieren lässt. Dass Tränen falsch sein können, selbst als kalte Zeichen einer gezielten Manipulation des Gegenübers einsetzbar sind, wusste man freilich schon immer. Doch im Kino wird jede Träne, die fliesst, von dem Wissen begleitet, dass sie künstlich ist - künstlich in dem Sinne, dass sie Ergebnis einer schauspielerischen Leistung ist. Von den lacrimae decorae Meg Ryans zu den pleurs aphrodisiaques von Penelope Cruz werden Tränen durch die Evokation innerer Vorstellungen oder durch äußere Hilfsmittel hervorgerufen. Schlagend dokumentiert wird dies durch eine Anekdote über den Schauspieler John Barrymore, der sich bei einem Regisseur erkundigt haben soll, welche Art von Weinen in einer Szene verlangt sei. Auf die Bemerkung des Regisseurs hin, dies sei ihm egal, Hauptsache er weine, soll Barrymore geantwortet haben: "Also gut, ich schlage vor, ich liefere Ihnen zwei große Tränen vom linken Auge gefolgt von drei kleinen aus dem rechten." (zit. n. Lutz, Tränen vergiessen, S. 302) Diese Anekdote überspitzt jedoch nur eine allgemein bekannte Tatsache. Nur selten, etwa angesichts Sinead O'Connors kunstvoller Tränen in dem Video-Clip zu NOTHING COMPARES 2 U, wird die Frage nach der Echtheit der Tränen noch einmal aufgeworfen. Durch das Wissen um ihre generelle Artifizialität, hat das Kino Tränen endgültig als authentische Sprache des Herzens oder der Seele desavouiert. Der Film weist Tränen beständig als 'kalte' Zeichen aus, die nicht weniger manipuliert und manipulativ eingesetzt werden können als die 'toten' Buchstaben. Allerdings: Wer käme auf solche Gedanken, wenn der Liebespartner einem weinend gegenübersitzt? Wer wüsste es zu goutieren, wenn umgekehrt der Partner auf die eigenen Tränen mit Täuschungsverdacht reagieren würde? Derartige "Schizophrenien" in der gesellschaftlichen Kommunikation müssen aber keineswegs irritieren, sie sind vielmehr erwartbar: Mit Luhmann kann man geradezu von einer "Bewährungsprobe kultureller Fiktionen sprechen. Es gibt solche, die im Falle des Durchschautwerdens sich auflösen, und andere, die sich gerade in dieser Lage bewähren" (Liebe als Passion, S. 104, Anm. 34, vgl. a. Woodard, "The Role of Fictions"). Tränen erfüllen ihre soziale Funktion auch dann noch, wenn sie bereits durchschaut sind.
8.
Drei Blicke konnten wir identifizieren, die Tränen im Kino auf unterschiedliche und widersprüchliche Arten beobachten: ein empathischer Blick, der sich auf das Weinen der fiktionalen Figuren mitleidig/mitleidend einlässt, ein investigativer Blick, der aus den situativen Kontexten des Weinens Lehren für das alltagsweltliche Miteinander und körperkommunikative Verhalten in zwischenmenschlichen Extremsituationen zu ziehen trachtet, und schliesslich ein technischer Blick, der Tränen als schauspielerische Leistung goutiert und somit eine Entzauberung der Sprache des Herzens betreibt. Damit steht eine Phänomenologie kinematischer Tränenproduktion allerdings erst am Anfang. Im Schnittpunkt dieser drei Blicke konfiguriert sich das filmische Weinen auf immer neue Weise und mit vielfältigen Effekten. Aufgabe einer Phänomenologie und Hermeneutik der Tränen wäre es, die unterschiedlichen Eindrucksqualitäten und Bedeutungskonfigurationen auszubuchstabieren, die dem weinenden Gegenüber auf der Leinwand oder dem Bildschirm als Objekt dreier Formen des Blicks zukommen.
9.
An zwei Beispielen, einem ästhetischen und einem nicht-ästhetischen, soll abschließend skizziert werden, welche Einsichten von einer derartigen Lacrimalogie zu erhoffen wären.
In WHEN HARRY MET SALLY (USA 1989) kommt es zum Tränenausbruch Sallys (Meg Ryan), als sie erfährt, dass ihr ehemaliger Freund demnächst heiraten wird. Harry (Billy Crystal) wird in seiner Funktion als tröstender Freund hinzugerufen. Der Status von Sallys Tränen ist zunächst doppelt prekär: Zum einen hat sie Harry in einer früheren, berühmt gewordenen Szene im Restaurant einen Orgasmus vorgespielt und damit bereits eine andere Form des Ausdrucks vermeintlich unkontrollierter körperlicher Lust als manipulierbare Zeichen enttarnt. Dies wirft einen Schatten auch auf ihre Tränen: Handelt es sich um 'heisse' Tränen, die realen Nöten und Qualen Ausdruck verleihen, oder spielt sie nur erneut auf der Klaviatur körperlicher Zeichen? Nun stellt der Film in seiner Inszenierung weniger die Echtheit ihrer Tränen in Frage als vielmehr ihre Angemessenheit. Denn in den Tränen kommt weniger der Liebesverlust als die Kränkung zum Ausdruck, dass ihr Ex-Freund sie zu keinem Zeitpunkt heiraten wollte. Auf diese Weise kommuniziert der Film mit den Tränen ihre Paradoxie, sowohl unmittelbarer Ausdruck der Seele und manipulative Zeichen zu sein, gleich mit und hebt die Paradoxie in der lakonischen Distanz Harrys auf, dessen Freundschaftsdienst in besagter Szene weniger in empathischem Mitgefühl, als im rechtzeitigen Überreichen von Papiertaschentüchern besteht, wodurch der Zuschauer in eine Position gesetzt wird, in der Sympathie, Skepsis und Belustigung koalieren. Trotz Harrys zunächst nüchterner Reaktion auf den "tränenbenetzten, in fließender Ausdehnung begriffenen Körper" (Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 251) verfehlen auch hier die Tränen nicht ihre erotisierende Wirkung, leitet die Szene doch die erste und seit Jahren 'verschobene' sexuelle Begegnung von Harry und Sally ein. Bekanntlich ist diese erste sexuelle Begegnung der beiden jedoch - noch - nicht der Beginn einer glücklichen Paarbeziehung. Die gemeinsame Nacht wird zunächst als Fehler, als freundschaftssabotierender Ausrutscher klassifiziert, wodurch innerdiegetisch eine erneute Hermeneutik der Tränen ansteht, diesmal im Hinblick auf die Eindrucksqualitäten, die die Tränen für Harry besaßen: Aufgeworfen wird die Frage, ob die Tränen tatsächlich eine erotisierende Wirkung hatten (dies wäre verzeihlich), oder ob durch sie die anschließende sexuelle Eskapade nachträglich als Akt des Mitleids bewertet werden muß, eine Frage, die durch Billy Crystals zurückgenommenes, distanziertes Spiel in der zentralen Szene noch forciert wird. Das Spiel mit der Bedeutung der Tränen in WHEN HARRY MET SALLY gründet nicht in ihrer Faktizität, sondern in der Art und Weise ihrer Emanation und ihrer inszenierten Kontextualisierung. Wenn hingegen die Protagonistin (Heather Donahue) in THE BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999) in die Kamera heult, so wird jede sophistizierte Hermeneutik durch die Art des Erscheinens des weinenden Körpers abgeschnitten: Hier geht es auf seiten des Weinenden nicht um eine lustvolle Regression in den Körper eines Kindes (vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 251) und auf seiten des Betrachters nicht um den Blick auf einen erotischen, in fließender Ausdehnung begriffenen Körper, sondern um die peinvolle Auflösung eines verzweifelten Subjekts, dessen Körper schon die Grenzen des Abjekten (vgl. Kristeva, Powers of Horror) tangiert: Zwar zählen Tränen zu den gesellschaftlich sanktionierten Körperausscheidungen, doch figurieren sie angesichts einer gewissen Intensität als Zeichen der Möglichkeit, dass auch die Dämme der übrigen Körperöffnungen brechen könnten, dass der Verlust körperlicher Selbstbeherrschung endgültig und absolut sein könnte, dass sich die salzigen Tränen mit Blut und anderen Ausscheidungen eines sterbenden und der Selbstkontrolle beraubten Körpers vermischen könnten.
10.
Zweites Beispiel: Gwyneth Paltrows "mascara meltdown" bei der Verleihung des Academy Award für ihre Leistung in SHAKESPEARE IN LOVE (USA 1998). Paltrows lange und detaillierte Dankesrede war in eine Performance eingebettet, die Gegenstand einer umfassenden öffentlichen Hermeneutik wurde, die ich an dieser Stelle vor allem an Hand der Diskussion im Usenet, in der Newsgruppe rec.art.movies.current-films, in ihren wesentlichen Punkten zu rekonstruieren versuche.1 Schon der Inhalt ihrer Rede wurde vor allem aufgrund der schier endlosen Auflistung von Kollegen, Freunden und Verwandten, denen sie danken wollte, Gegenstand von Kritik und Spott. Mehr Anlass zur Diskussion gab jedoch die Art ihrer Präsentation, die von einer völligen emotionalen Überwältigung zeugte und einem minutenlangen Weinkrampf glich. In Frage stand zum einen die Aufrichtigkeit der emotionalen Rührung, zum anderen die Angemessenheit ihrer Performance insbesondere in einem derart öffentlichen Rahmen. Wer mit einem empathischen Blick auf ihren Auftritt reagierte, gestand oftmals die eigene Rührung ein, verteidigte aber zumindest die öffentliche Artikulation von Emotionen vor dem vermeintlich zynischen Blick derer, die ihren Auftritt als inszenierten Akt werteten. Ein Diskussionsteilnehmer dazu: "While I'm not a particular fan of Gwenyth [sic!] Paltrow it always amazes me the number of people who have to tear down and criticize genuine people. Who cannot comprehend or accept the genuine, unrestrained expressing of emotion so have to conclude that it is phony. The thought police are on the march it seems and have declared what the acceptable amount of emotion is in any particular event and we must ridicule or hold in contempt those who do not meet the 'standards'." So steht im Hintergrund der Diskussion nicht zuletzt eine Werte-Debatte und eine Auseinandersetzung über die Angemessenheit von Emotionen und ihrer Zurschaustellung. Dies wird durch die folgenden drei Beiträge noch einmal herausgestellt:
- "Must all touching moments, such as Gwyneths acceptance speech, always be viewed with jaded cynicism? [...] I think her speech was heartfelt and very touching."
- "And she had me in tears, too. It was refreshing to see such an honest outpouring of emotion."
- "And if she's incapable of maintain some composure (which is an integral part of her CAREER fer chrissakes), she should have taken a valium beforehand."
Die Authentizität des Auftritts wurde vor allem aufgrund zweier Faktoren in Abrede gestellt: Zum einen wirkte die Performance aufgrund des melodramatischen Exzesses unwirklich; so schrieb ein Diskutant: "This seemed almost rehearsed. I can't recall any other actor just breaking down like that accepting an award. She just seemed overly melodramatic." Zum anderen wurde der Auftritt dadurch diskreditiert, dass es sich bei dem Ereignis bereits um eine Wiederholung handelte, hatte Paltrow doch schon bei der Verleihung der Golden Globe Awards in ähnlicher Weise die Fassung verloren: "and what's worse is that it's just the same speech she used for her golden globe award. that just makes her seem unreal and ungenuine." Andere verwiesen hingegen darauf, dass im Verlaufe der Oscar-Nacht der emotionale Exzess bereits absehbar war, da die Schauspielerin schon die ganze Zeit über bei jedem Preis, den ihr Film SHAKESPEARE IN LOVE bekam, den Tränen nahe war, was wiederum für die Echtheit ihrer Gefühle sprach, da diese schon die ganze Zeit an Paltrow genagt zu haben schienen. In dieser Perspektive wurde ihr finaler Auftritt als notwendige Explosion über den Abend hinweg aufgestauter Gefühle interpretiert.
Kompliziert ist in dem diskutierten Fall auch das Verhältnis zwischen Weinen und Tränen, denn: "Who knows what's really lurking in her heart, but we certainly know what wasn't lurking in her eyes...tears. For all her theatrics she wasn't able to generate a single teardrop." In der Tat handelte es sich in dieser Hinsicht um einen stark restringierten "mascara meltdown", floss doch nicht eine Träne über Paltrows Gesicht. Wer den Auftritt als inauthentisch einstufte, sah sich durch diese Tatsache in seiner Ansicht bestätigt. Das Fehlen von Tränen desavouiert das Weinen und die Emotionalität: "RIGHT! and there were NO tears. i just rewatched the speech...no tears, just the whiney-voiced windup." Doch von den Verteidigern Paltrows wurde das Argument umgekehrt: Hätte es sich bei ihrem Auftritt um einen schauspielerischen Akt gehandelt, so wäre sie sicher in der Lage gewesen, die für eine überzeugende Leistung offensichtlich notwendigen Tränen in ihre Darstellung einfliessen zu lassen. Andere hingegen sahen keinen Widerspruch zwischen Exaltiertheit der Darstellung und Professionalität der schauspielerischen Leistung: "I know this will sound mean, but her speech seemed as though it was written beforehand and the crying was obviously overdramatic. IMO, she wanted her first Oscar acceptance to shine, and that it did. Her perfomance was wonderful. She should win another award just for it." Und ein anderer Diskutant wägte ab: "Either she was really overwhelmed by it actually happening [...] or else she's damn well the best actress of a generation, to pull off such a speech."
Für die Interpretation des Auftritts erwies sich auch die Reaktion von Gwyneth Paltrows während der Rede wiederholt eingeblendeten Eltern als bedeutsam. Irritiert bemerkt wurde vor allem deren völlig emotionslose Haltung: "While I thought Gwyneth's speech was genuine, I was puzzled by her parents lack of emotion." Während die einen sich schockiert zeigten über die Ungerührtheit der Eltern angesichts eines derart emotionalen Moments im Leben ihrer Tochter (und dagegen Paul Sorvinos Tränen während der Dankesrede seiner Tochter Mira am gleichen Abend ausspielten), legten andere die Versteinerung der Eltern kurzerhand als Zeichen ihrer peinlichen Berührtheit angesichts des schamlosen Auftritts ihrer Tochter aus. Die Interpretation von Paltrows Weinkrampf liess sich durch den Seitenblick auf ihre Eltern jedenfalls nicht an ein konsensuelles Ende bringen.
Hätten Tränen der Eltern Gwyneth Paltrows Auftritt authentifizieren können? Handelte es sich um eine kalkulierte narzisstische Selbstdarstellung oder um einen hemmungslosen Gefühlsausbruch? Und wäre das eine oder das andere unangemessener? Natürlich kommt es hier nicht darauf an, diese und andere Fragen zu klären. Sichtbar wird an diesem Beispiel nicht nur der prekäre kommunikative Status geweinter wie fehlender Tränen und die offensichtliche Dringlichkeit ihrer Interpretation und damit der Stillstellung des Tränenflusses, sondern auch, dass Tränen als Sprache des Herzens und als manipulierbares und manipulatives Zeichen in der sozialen Kommunikation gleichermassen verankert und präsent sind.
Und schliesslich zeigt sich zwischen den Zeilen permanent, dass Tränen nicht in erster Linie die grossen Gefühle des Mitleids, der Erotik, der Abstossung hervorrufen, sondern vor allem eine kleine, stets unterthematisierte und doch alltägliche leibliche Empfindung: das Gefühl des Peinlichen.
Barthes, Roland (1988) Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Goethe, Johann Wolfgang (1993) Die Leiden des jungen Werther, in: Werke in sechs Bänden, Bd. IV, Frankfurt/M. und Leipzig: Insel
Kristeva, Julia (1982) Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press
Luhmann, Niklas (1999) Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Lutz, Thomas (2000) Tränen vergiessen. Über die Kunst zu weinen, Hamburg/Wien: Europa
Newsgruppe rec.arts.movies.current-films, auf: http://groups.google.com
Schneider, Manfred (1992) Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens, München und Wien: Hanser
Meyer-Drawe, Käte, Der lachende und der weinende Leib - Verständigung diesseits der Vernunft, http://bidok.uibk.ac.at/texte/beh3-99-leib.html
Moretti, Franco (1983) Kindergarten, in: Ders., Signs Taken for Wonders, London: Verso, S. 157-181
Neale, Steve (1986) Melodrama and Tears, in: Screen Vol. 27, No. 4 , 6-22
Williams, Linda (1991) Film Bodies: Gender, Genre, and Excess, in: Film Quarterly, Vol. 44, No. 4, 2-13
Woodard, James W. (1944) The Role of Fictions in Cultural Organization, in: Transactions of the New York Academy of Sciences, Vol. 2, No. 6, 311-344.