Tränen als Ereignis im Fernsehsport
Der Fernsehsport produziert systematisch Emotionen. Indem er Menschen in Extremsituationen (Wettkampf!) und mit geringem Handlungsspielraum (Spielregeln!) unter systematische Beobachtung stellt, werden die emotionalen Regungen zugleich zurechenbar. Dies umso mehr als die fortlaufende Kommentierung der Vorgänge durchgängig einen individuell-psychologisierenden Maßstab an das Geschehen anlegt. Trotz der Differenzierung und Flexibilität dieses Emotionenbeobachtungsapparats passiert es, dass etwas passiert, das diesen Apparat ins Stocken bringt. Einmal zum Beispiel, beginnt Pete Sampras zu weinen; mitten während eines Tennisspiels; ganz ohne Grund.
Viertelfinale der Australian Open 1995. Gegen Ende des vierten Satzes schlägt Jim Courier (gegen Pete Sampras) einen einfachen Schmetterball ins Netz. Die Stimme des Kommentators Volker Kottkamp bleibt konzentriert und nüchtern: "das sieht man selten, dass ein Überkopfball von einem Weltklassespieler so verzogen wird". Seine Ausdeutung der psychischen und physischen Verfassung der Spieler trägt zur Erklärung des Spielgeschehens bei: "zweiter Satzball für Sampras, der im Moment mit dem Druck von Jim Courier besser fertig wird". Parallel dazu fordert die routinierte Abfolge der Kameraeinstellungen eine sorgfältige Beobachtung und Bewertung von Gestik und Mimik einer Vielzahl von Akteuren heraus, die sich um das Spielgeschehen anordnen. Vor dem Aufschlag die Großaufnahmen der Kontrahenten. Sampras ist ruhiger, stoischer als Courier; wie immer sieht man seine Zunge zwischen den Lippen. Nach einem misslungenen Schlag von ihm sehen wir erst ihn, dann seine Freundin mit Gesten des Ärgers oder Entsetzens. Nach dem gescheiterten Schmetterball Couriers sehen wir eine Nahaufnahme von Sampras' Freundin, die ekstatisch jubelt. Der Schnitt zurück auf die Spieler zeigt eine etwas gedehnte Pause vor dem folgenden Aufschlag; mehrere Blicke auf das müde und angespannte Gesicht von Sampras. Ich würde gerne ausführlicher in dieser Mimik 'lesen', aber in der standardisierten Montage des Fernsehtennis folgt jetzt ein längerer Blick auf den Gegner Courier. Schneller Punktgewinn für Sampras; jetzt sehen wir wieder ihn beim Aufschlag, er verzieht sein Gesicht. Halbnahe Einstellung, endlich bleibt die Kamera wieder etwas länger bei Sampras. Er wischt sich mit einer Hand über den Mund, wischt sich mit dem Oberarm des anderen Arms über das Gesicht. Die Kamera springt kurz zurück: im Vordergrund Courier, im Hintergrund Sampras; zum Glück wechselt die Einstellung schnell wieder zu einer näheren Aufnahme von Sampras. Vielleicht mutmaßt das Fernsehen, was ich mutmaße. Sein Mund ist ganz deutlich verkrampft; nochmal ein Wischen mit dem kurzen Ärmel des Shirts über den Mund; Sampras dreht sich von der Kamera weg und drückt nochmals den rechten Oberarm an sein Gesicht, er dreht sich wieder in Richtung Kamera, und zieht einen Zipfel des Shirts aus dem Schulterbereich hoch, um sich damit über das Auge zu wischen. Gegenschuss zu Courier, der sich mit der Hand den Schweiß vom Gesicht wischt; etwas ungeduldig spielt er am Schläger herum. Und noch einmal wird zurück zu Sampras geschnitten. Augen und Mund verraten nun eindeutig: Sampras weint. Dennoch schlägt er jetzt auf – Return-Winner für Courier. Endlich eine Großaufnahme von Sampras' nassem Gesicht. Sie wird aber sofort von einer Zeitlupenwiederholung des Aufschlags unterbrochen. Die Kamera ist so hinter Sampras positioniert, dass wir die Ausführung des Aufschlags kontrollieren können; sie ist an rein sportlichen Kriterien orientiert, die mich jetzt nicht mehr interessieren. Sampras weint während des Spiels; aber nur ganz zögerlich durchbricht das Fernsehen die für das Tennis vorgesehene Découpage ...
Die Tränen von Pete Sampras sind eine außergewöhnliche Fernseherfahrung, weil sie das System des Fernsehsports gleichermaßen unterlaufen und auf den Punkt bringen. In Film und Fernsehen gibt es Orte für Tränen. Nach einem differenzierten Raster erhalten Tränen Plausibilität und Wirkung. Eine Vielzahl von Mechanismen ist an dieser Produktion plausibler Tränen beteiligt; es existieren Dramaturgien, die das Weinen hervorbringen, und Ikonographien, die das Weinen klassifizieren. Auch soziokulturelle Kategorien haben einen wichtigen Anteil an der Verortung von Tränen; ganz zentral wird Weinen entlang der zwei Geschlechter differenziert.
Männliche Tränen sind eine Domäne des Sports. Weinende Fußballfans, wenn der Abstieg nicht mehr zu verhindern ist, schluchzende Spieler, wenn ein Finale dramatisch verloren ging – die 'Schicksalsentscheidungen', die durch Sieg und Niederlage unhintergehbar gefällt werden, sind die Möglichkeitsbedingung für männliche Tränen (und wohl die einzigen institutionalisierten Orte für männliche Tränen überhaupt). Es können – etwas seltener – durchaus auch Freudentränen sein; durch punktuelle Anreizungen wird bei der Medaillenübergabe, der Nationalhymne oder auch im anschließenden Interview die Emotionalität des Resultats nochmals reproduziert ("haben wir da etwas Feuchtes in ihren Augen gesehen?" freuen sich die Reporter). Die Tränen haben ihren Ort – nach dem Ende des sportlichen Ereignisses; außerdem haben sie (durch Verlauf und Resultat des sportlichen Ereignisses) ihren eindeutigen Grund. Vielleicht ist der Sport deshalb der Ort für männliche Tränen, weil sie dort so gut begründet sind, wie nirgends sonst. Tränen sind für den Fernsehsport ein überaus wichtiges Ereignis (wichtig sowohl in ästhetischer wie ökonomischer Hinsicht), das diskursiviert werden kann, aber sie bleiben ein (vom Sportereignis) abgeleitetes Ereignis. Die Kommentierung und Einschätzung der Tränen durch den medialen Apparat ist deshalb systematischer Teil des Fernsehsports; es lässt sich eine diskursive und ästhetische Kontinuität feststellen zwischen der Bearbeitung des sportlichen Hergangs und der Bearbeitung der emotionalen Reaktionen.
Dass dieser fließende Übergang zwischen Sport und Tränen an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist (dramaturgische Verortung; kausale Begründung etc.), zeigt sich gerade an den Irritationen und Bruchstellen, die in seltenen Sonderfällen derart zum Vorschein kommen, dass die Tränen zu einem eigenen Ereignis werden, das nicht mehr in dem Sportereignis aufgeht. Bei der regelmäßig anberaumten Pressekonferenz mit den drei Ersten eines Formel 1 Rennens brach Michael Schumacher einmal während der Befragung in Schluchzen aus; er saß nicht zum ersten Mal an dieser Stelle und nichts an dem gerade beendeten sportlichen Ereignis konnte als Grund für diese emotionale Regung angeführt werden. Dementsprechend war das weinende Gesicht Schumachers am darauffolgenden Tag das Titelbild der Bild-Zeitung (wie später dann nochmals das weinende Gesicht der Verona Feldbusch, die in einer Talkshow ihre Lebensbeichte abgelegt hatte – Tränen sind offensichtlich ein besonderes intermediales Scharnier). In der italienischen Presse wurde dies dem Vernehmen nach als Menschwerdung des sonst so kaltschnäuzigen Deutschen gefeiert. Die Selbsterklärung Schumachers führt die Tränen schließlich auf die Erleichterung nach Wochen angespannter Arbeit zurück; eine Erklärung, die nicht ausreichte, um dieses Ereignis an die Logik des Sports zurückzubinden.
Die Tränen von Sampras spitzen dies nochmals zu. Ihnen fehlt nicht nur der Grund (fängt er doch an zu weinen, als der Reporter anmerkt "Sampras geht jedes Tempo mit"); sie sind vor allem am dramaturgisch falschen Ort: Mitten während des eigentlichen Wettkampfverlaufs wird das Sportereignis durch ein zweites, vollkommen unabhängiges Ereignis ergänzt. Für das Fernsehen überlagern sich damit in dramatischer Weise zwei Ereignistypen, die beide für das Fernsehen wichtig sind, die aber nur getrennt voneinander vorgesehen sind. Zum einen das geplante Ereignis, das durch feste Erwartungen und vorstrukturierte Verlaufsmöglichkeiten ausgezeichnet ist (Idealtyp: Krönung); zum anderen das plötzliche Ereignis, das unvorhergesehen kommt und dessen Folgen unabsehbar sind (Idealtyp: Katastrophe). Im Gegensatz allerdings zu einem terroristischen Anschlag, einem Zusammenbrechen von Zuschauertribünen und weiteren möglichen Vorfällen, die als eindeutige Eindringlinge zu dem eigentlichen Sportereignis in Konkurrenz treten können, ist Weinen beim Sport – selbst für männliche Sportler – eben nicht gänzlich ausgeschlossen. Deshalb schält sich im Fall des weinenden Tennisspielers die Simultaneität zweier an sich unvereinbarer Ereignisse erst allmählich heraus. Man kann davon ausgehen, dass das Fernsehen seine eigentlichen Ereignisse (für die die Kameras installiert wurden) soweit als möglich vor Konkurrenzereignissen bewahrt; diese werden entweder ignoriert oder eben als Teilereignisse um das Zentralereignis herum angeordnet. Da sich hier das Weinen aber in keiner Weise dem Sportereignis fügt, muss das Fernsehen nach einigem Zögern die Existenz eines zweiten Ereignisses anerkennen; immerhin fünf Ballwechsel vergehen zwischen den ersten Anzeichen in Sampras’ Gesicht und dem Eingeständnis des Kommentars, dass es sich hier nicht mehr um ein Sportereignis im üblichen Sinne handelt.
... eine Zeitlupe mit dem Aufschlag von Sampras. Dieser macht ohne weitere Unterbrechungen den nächsten Punkt (währenddessen eine Schrifteinblendung: "im Anschluß folgt das Damendoppel"). Dann eine Amerikanische Einstellung, wie Sampras von rechts nach links und wieder zurück durchs Bild läuft, das Gesicht in die Armbeuge begraben; die Profil-Großaufnahme von der Gegenseite (Achsenprung) lässt ein weinendes Zucken und ein verzerrtes Gesicht sehen. Sampras macht ein Spiel (Stand: 6-7; 6-7; 6-3; 6-4; 1-0). Jetzt erst konzentriert sich die Kamera fast ausschließlich auf ihn; die Bildregie führt die Verlagerung in der Hierarchie der beiden Ereignisse ein, die sich in der folgenden kurzen Pause entfaltet. Sampras geht zu seinem Stuhl, bedeckt seinen Kopf mit dem Handtuch, zieht es wieder herunter; kurz sieht man sein weinendes Gesicht, das er dann im Handtuch begräbt. Der Kommentar weigert sich noch, dem Konkurrenzereignis Rechnung zu tragen: "Immer wieder interessant zu beobachten […], wie Spiele sich wandeln […]." Kurz darauf hören wir aber ein zögerndes Eingeständnis: "und nun erleben wir einen – ja, ich würde fast sagen – weinenden Pete Sampras"; ein Eingeständnis, das – hierin ganz den Verfahren der Sportberichterstattung folgend – jedes Teilereignis in eine bio-historiografische Kette einzubinden versucht: "vielleicht denkt er an seinen Trainer, der mit einer Herzattacke hier ins Krankenhaus eingeliefert werden musste und der mittlerweile in die USA zurückgeflogen ist; lassen wir das Spekulieren und lassen wir diese Bilder einfach für sich sprechen; Pete Sampras, der eine enorme Energieleistung vollbracht hat […]" Während der Reporter weiter die vergangenen Spiele Sampras' Revue passieren lässt, erhält dieser etwas Wasser aus einer Plastikflasche, wischt sich damit das Gesicht; der O-Ton "Time" ist vom Schiedsrichterstuhl zu hören. Die Kamera folgt zum ersten Mal wieder Courier und findet zum Teil zu den ästhetischen Verfahren des Fernsehsports zurück; allerdings gibt es nun ein kurzes Replay vom weinenden Sampras auf dem Pausenstuhl. Während der nächsten Ballwechsel zeigt die Kamera durchgehend Sampras. Während im Off eine Verwarnung gegen Courier ausgesprochen wird, zeigen sich bei Sampras wieder Anzeichen für das Weinen. Courier gewinnt das Spiel; in einer etwas längeren Pause vor dem nächsten Aufschlag läuft Sampras über den Platz und beugt sich weit nach vorne. "Bilder, wie ich sie in dieser Form noch nie erlebt habe während eines Tennisspiels" äußert der ansonsten sehr zurückgenommene Kommentar. Zum ersten Mal nach langer Zeit sehen wir Sampras' Freundin kurz mit versteinerten Gesicht. Nach dem nächsten Ballwechsel sehen wir sie in einem sichtlich besorgten Gespräch mit zwei anderen Frauen. Auch die relationalen Bilder beziehen sich jetzt eindeutig nicht mehr auf das Sportereignis, sondern lassen uns Reaktionen auf das Konkurrenzereignis sehen.
Sampras serviert mehrere Asse; zwischen den Ballwechseln weitere Weinanfälle. Der Kommentar kann den Status des unerwarteten Ereignisses wiederum nur negativ artikulieren: "So etwas wie heute habe ich noch nie erlebt; ein von Gefühlen völlig übermannter Pete Sampras, der während eines Spieles Tränen vergießt". Interessanterweise gesteht der Kommentar erst wenig später, als sich Pete Sampras schon wieder weitgehend beruhigt hat und das Spiel seinem 'regulären' Verlauf folgt, ein, dass die Präsenz des Konkurrenzereignisses so stark ist, dass das eigentliche Sportereignis aus den Fugen gerät: "das Spiel ist jetzt kaum noch mit normalen Maßstäben zu messen". 'Normal' wären hier eben die Kategorien des Fernsehsports; 'normal' wären Tränen am Ende eines Spiels. Der Kommentar (und die Bildführung) machen überdeutlich, dass diese Tränen kein Teilereignis aus dem Repertoire des Fernsehsports sind; innerhalb des Verfahrensmodus der Sportübertragung treten Irritationen auf, ohne dass allerdings tatsächlich der Modus gewechselt würde. Das Personal, das Equipment, das diskursive Repertoire für überraschende und unabsehbare Ereignisse ('Katastrophen') steht am Rande des Tennisplatzes nicht zur Verfügung.
Und auch wenn das Ereignis sich für einige Momente der Live-Übertragung in Form von Irritationen Geltung verschaffen konnte, so wird es durch die Dominanz des Apparats nachträglich doch erstaunlich schnell wieder zu einem Teilereignis des sportlichen Wettkampfs. Wenn bei einer weiteren kurzen Pause der Physiotherapeut nicht mehr zu Sampras gelassen wird, erläutert der Kommentar unter Bezug auf das Regelwerk der Sportart: "offensichtlich sind es keine Verletzungsprobleme, die Pete Sampras derzeit hat, das war ja auch klar zu erkennen, das bedarf keiner weiteren Erwähnung; nur, die Regeln besagen nun mal, dass der Physiotherapeut nur zur Behandlung auf den Platz darf […], wenn es sich eindeutig um Verletzungen handelt." Die Übermacht des Fernsehsports über andere Ereignisse stützt sich dabei nicht zuletzt darauf, dass jedes Sportereignis, in diesem Fall das einzelne Tennisspiel, immer nochmal seinen Maßstab durch die Einbindung in eine größere Konkurrenzsituation erhält; so kann der Kommentar noch vor Ende des Viertelfinals (!) erklären: "wie auch immer es ausgeht, das ist das Spiel der Australian Open". Selbst wenn die Tränen von Sampras in der Live-Übertragung zu einem eigenen Ereignis wurden, das zuerst meine Wahrnehmung und schließlich auch die Apparaturen des Fernsehens anders justierte, als dies ein Sportereignis tut – in der übermächtigen und bilderverzehrenden Fernsehsportgeschichte sind die Tränen nicht mehr als ein Surplus. Dies hat lediglich zur Folge, dass Bilder dieses Sportereignisses etwas häufiger in Rückblicke eingeschleust werden als die anderer.