Eine kulturgeschichtliche Annäherung an den Auflösungs-Affekt
Trauernde, Klageweiber, Heulsusen – schon die Reihung dieser Bezeichnungen macht eine zunehmende Abwertung jener nach außen gewendeten feuchten Gefühlsäußerung klar. Den Tränen eignet Fallhöhe: Innerhalb der Kulturgeschichte scheinen Tränen, soweit ihre transparente Erscheinungsweise daraufhin durchdrungen werden kann, in ihrem Kurswert eher gefallen zu sein. Von dem anerkannten Ausdruck männlicher Trauer noch bei Homer und ihrer Einbindung in klösterliche Erbauungspraktiken und mönchische Reinigungsrituale im Mittelalter über ihre Hochschätzung als bürgerliche Reinwaschungsrituale im Aufklärungszeitalter stürzen sie hinab zu der ihnen heutzutage entgegengebrachten Verachtung und der allgemeinen Substitution von Rührung durch Unempfindlichkeit, Coolness genannt.
Der listige Odysseus weint in Homers nach ihm benanntem Epos, wenn er, durch Erzählungen an seine Heimat erinnert, von Heimweh verzehrt wird. Freilich wird bereits dieses sein Weinen als für den Mann unziemlich charakterisiert: "Aber Odysseus schmolz in Wehmut, Tränen benetzten ihm Wimpern und Wangen. Also weinet ein Weib und stürzt auf den lieben Gemahl hin..." (Homer , Odyssee, VIII. Gesang, 521-523). Tränen als Zeichen innerer Schmelzvorgänge scheinen von Anfang an dem weiblichen Geschlecht besser zu Gesicht gestanden zu haben – nicht über die Maßen listig ist die Vermutung, dass diese Zuschreibung für ihren andauernden Fall mitverantwortlich ist.
Aber beginnen wir mit den Göttern: Weinen ist ungöttlich, konstatiert die Gräzistin Nicole Loraux in ihren Studien zur griechischen Mythologie und Tragödie und zur Stellung der Frau daselbst: Artemis klage angesichts des von ihr verehrten Helden Hippolytos in der gleichnamigen Tragödie des Euripides, dass es allen Göttern verwehrt sei, über Sterbliche zu weinen. (Vgl. Loraux 1997) Tränenschwellen werden mithin schon zu Beginn mit Standesschranken verquickt: Göttinnen steht wie ihren männlichen Pendants der Tränenfall nicht zu Gesicht, insbesondere wenn er zugunsten ontologisch Niederstehender erfolgen soll.
Auf heftigen Schmerzausdruck zumindest bei Halbgöttern weist Lessing in seiner Schrift Laokoon (1766) hin: Herkules wird in der gleichnamigen sophokleischen Tragödie als schreiend und weinend vorgestellt. Auch Menschenfrauen dürfen im antiken Drama laut klagen, sich das Hemd zerreißen und die Brust aufschlitzen wie in den Bacchen des Euripides, wenn sie von einem Gott geblendet und genarrt worden sind. Sie müssen klagen und anklagen, da sie die denkbar schlimmste Tat vollbringen: Sie töten das eigene Kind. Nichts erscheint dramatischer und herzzerreißender als den unschuldigen Kindlein angetane Leiden: In gewisser Weise hebt auch das Christentum mit einer solchen Urszene des Mitleidens an, wie es die bildnerischen Ausgestaltungen der von König Herodes Hingemetzelten noch vor den Darstellungen des Kreuzestods evozieren.
Gleichwohl spricht Lessing davon, dass die Darstellung Medeas im Moment vor ihrer Tat, im inneren Kampf zwischen Eifersucht und Kindsmord, weitaus dramatischer sei als die der Medea, die getötet hat. Und was der dichterischen Zeitkunst allenfalls noch erlaubt ist, ist der bildnerischen Raumkunst in jedem Fall verwehrt: Die Abbildung extremen Schmerzes würde nicht nur das Schönheitsideal durchkreuzen, sondern das freie Spiel der Einbildungskraft töten. Der Zuschauer könnte dem Dargestellten durch keine gleich starke Vorstellung begegnen, der Affekt der Abbildung würde in der Rezeption geschmälert; nur gefasste, zurückgehaltene Emotion wie in der Laokoon-Skulptur, in der der Schmerz in jeder Muskelfaser, nicht jedoch im Gesicht zum Ausdruck gebracht wird, erwecke Rührung – eine Überlegung, die dem zeitgenössischen Hollywoodkino gut zu Gesicht stehen könnte.
Aller Kritik enthoben sind bis heute haltlose Tränenergüsse in der Lebenswelt beim Tode Nahestehender – ja im Sinne des Ausdrucks authentischer Trauer und letzter Spuren von Menschlichkeit im öffentlichen Bereich sogar erwünscht. Laokoon'sche Selbstbezwingung wäre Kanzler Kohl bei der Beerdigung seiner Frau nicht positiv ausgelegt worden; die Träne wusch etwas vom Vorwurf der Mitschuld an ihrem Selbstmord weg.
Bekanntlich hat das Christentum einen generellen emotionalen Aufweichungsschub mit sich gebracht, der die von Nietzsche so gehasste Sklavenmoral mit ihren verknechteten und beleidigten Repräsentanten erstmals repräsentationswürdig werden ließ. Mitleiden über alle Standesgrenzen hinweg wurde nun positiv konnotiert und der Niederfall vor dem Geringsten mit dem Versprechen auf späteren Aufstieg geadelt, persönliches Leiden freilich erst auf Bildern des späten Mittelalters zum Ausdruck gebracht. Das Passionsbild und die Pièta, zu deutsch Erbärmdebild, tragen das Mit-Leiden schon im Namen.
Auch das Geschlecht scheint nun keine Hemmschwelle in Sachen Tränenerguss mehr darzustellen: Im Bußtraktat des Jacopo Passavant wird von einem Ritter erzählt, der vor einer Madonna tränenreich Vergebung erbittet. (Vgl. Claussen 2000) Das Christentum lebt indes nicht nur von der Abbildung weinender Madonnen und Schmerzensmänner, sondern von Tränen als "Währung der Andacht": von einer im Vergleich zu Euripides' Drama weniger schrillen, verinnerlichteren und vereinzelteren Form der Klage über die Opferung des Gottessohnes. Die zweite Urszene des Christentums führt im katholischen Raum freilich bis heute zu massenhysterischen Tränenergüssen auf Kreuzwegen und Pilgerfahrten und wie keine andere Szene zu emotionalen Ansteckungen und bildnerischen Wiederholungszwängen. Die schillerndsten Tränen der gesamten Kunstgeschichte sollen auf einer Kreuzesabnahme von Rogier van der Weyden den Trauernden Maria, Johannes und Josef über die Wangen kollern, auf eine Weise, "dass man um die Oberfläche des Bildes fürchtet" (Claussen 2000, 132). Der demonstrative Tränenfall scheint sogar die Materialität des Bildes zu tangieren, die Darstellung mit Entkonturierung zu bedrohen; er dürfte als Zeichen fortschreitender Individuierung gelesen werden, das Recht auf Tränen mithin als Menschenrecht...
Auch Leonardo da Vinci hat einen positiven Tränenbezug, bestimmt er doch im Zusammenhang mit Fragen naturgerechter Menschendarstellung unterschiedlichste Typen von weinenden Personen. Aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Tränen zum Signum des Menschlichen erklärt, wird die Bühnenwürdigkeit von Tränen theoretisiert und von aufgeklärten Zeitgenossen wie Diderot als Spiegel erstarkender bürgerlicher Sensibilität und Tugendhaftigkeit höchstpersönlich bei allen nur erdenklichen Gelegenheiten unter Beweis gestellt. Die Studie Le goût des larmes au XVIII siècle von Anne Coudreuse (1999) sucht zu belegen, dass Tränen nicht mehr in Anlehnung an den Schmerzensmann, sondern in gewisser Weise als Wut über sich selbst und die jahrhundertelangen Erniedrigungen durch den Adel vergossen werden; diese Art kollektiver Trauerarbeit kleidet sich in das Argument unverstellter Empfindsamkeit und erstmaligen Menschentums: Das Maß an Menschlichkeit wird von Tränenquanten abhängig gemacht. Ein tiefgreifender emotionaler Schmelz- und Verweichlichungsschub war offensichtlich Voraussetzung der Selbstlegitimation des sich behaupten wollenden Bürgertums; in dem Maße, wie Tränen die Verderbtheit des Adels wegwuschen, stieg das Bürgertum zu Selbstbewusstsein auf. Lessing registriert in seiner Abhandlung Vom weinerlichen Lustspiel (1765) jene neue mittlere Stimmungslage des Bürgers zwischen Weinen und Lachen ob seiner ungefestigten gesellschaftlichen Stellung und erklärt sie zu der für das Theater angemessensten: In ihr kann sich der abstrakte Bürger am zweifelfreisten wiedererkennen.
Im Sinne der Adelung dieses Gattungsmenschen bestimmt Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1769) denn auch das allgemeinmenschliche Unglück und die Schwäche eines unverdient leidenden Menschen als das allein Darstellungswürdige. Dabei erklärt er die Aristotelische Absicht der Erregung und Reinigung von Mitleid und Furcht für eine listige Kombination, da Mitleid durch Furcht potenziert und Rührung damit maximal gesteigert werde: "Was hindert uns anzunehmen, dass die vermischte Empfindung über das physikalische Übel eines geliebten Gegenstandes nur allein durch die dazukommende Furcht für uns zu dem Grade erwächst, in welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet?" (Lessing 1769, 314). Der Affekt erscheint als Kombination gegenläufiger Empfindungen, setzt sich zusammen aus der Anteilnahme am unverdienten Unglück des Herrn Jedermann und der Furcht, von eben diesem Unglück selbst ereilt zu werden. Er lebt mithin von der Vorstellung der Verallgemeinerbarkeit des unverdienten Unglücks, letztlich von der Vorstellung einer Universalität menschlichen Leids.
Gezielte Angstproduktion, so könnte man folglich sagen, gekoppelt an den Appell zu vernünftigem Verhalten im Sinne der Vermeidung der vorgeführten desaströsen Folgen, kennzeichnet die aufklärerische Trauerveranstaltung. Tränen müssen fließen, auf dass die Leidenschaft zu Mord und Totschlag und fragloser Anmaßung in Enthaltsamkeit und Selbstzucht, in sogenannte Tugend verwandelt werde – im Sinne der emotionalen Vorbereitung auf das bürgerliche Gesetzbuch und die Formulierung der Menschenrechte.
Tränenergießungen werden mithin gekoppelt an Fragen politisch-epistemologischer Natur. Diderot und Lessing bringen den 'natürlichen' Menschen, als no name, nur in seiner familiären Funktion, als Vater, Mutter, Sohn und Tochter, auf die Bühne und lassen ihn an Standesschranken und moralischen Normen scheitern. Tränen werden an den Bereich des Häuslichen, an das mit dem Menschlichen identifizierte Kleinfamiliäre, an dessen Streben nach Sittlichkeit, Repräsentationsfähigkeit und seine Gefährdungen gebunden. Dass der neue moralische Rigorismus des häuslichen Patriarchen dabei das Opfer von Mädchen wie von Emilia Galotti (Lessing 1772) - und des Begehrens kostet, ist das zu Beklagende, das nicht mehr artikulierbar ist.
Um auf die Urszenen des Mitleids zurückzukommen: Die tatsächlich am unverdientesten Leidenden sind Kinder. Kinder als Opfer vorzuführen, hat etwas Unfaires an sich: Der Anteilnahme mit ihnen wie einem innerlichen Aufbegehren dagegen kann man sich schwerlich entziehen. Ein solcher Film ist auf Tränenfall programmiert, frei nach der Devise des Pioniers des amerikanischen Kinos, D.W. Griffith: "Sie wollen, dass ein Film einschlägt? Dann geben Sie mir einen zehnjährigen Jungen und ein Mädchen von fünfzehn, den Jungen für die Handlung, das Mädchen für das romantische Gefühl...". Potenziert werden kann diese Affektmischung aus Aktion und Romantik, bis hin zu STAR WARS, EPISODE II gültiges Hollywoodmuster, durch Schilderung gesellschaftlicher Misere, die mit der zwangsläufig mitgegebenen menschlichen Bosheit in Darstellungen nicht überbietbarer Dramatik münden kann. Kinder und Jugendliche gehen dann stellvertretend für die noch nicht sprach- und weinfähig gewordene Arbeiterklasse in den Tod: Spielarten des Neorealismo, von LADRI DI BICICLETTE (Vittorio de Sica) bis zu GERMANIA ANNO ZERO (Roberto Rossellini), haben in sozialanklägerischer Absicht den wehrlosen Proletarier, dessen Nichtweinenkönnen das Opfer des Kindes erzwingt, auf die Leinwand gebracht. Tränenreiche Betroffenheit ist einem solchen Film sicher; dass er in dieser infantilisierenden Naturalisierung des gesellschaftlichen Notstands seine aufklärerische Absicht eher verwässert, verliert er hinter dem Tränenschleier aus dem Blick.
Der erste Film, der das soziale Elend von Kindern außereuropäisch zur Anklage bringt, scheint LOS OLVIDADOS (1951) von Luis Buñuel zu sein. Gedreht in den Slums von Mexiko City zeigt er, wie ein etwa zehnjähriger Junge namens Pedro durch den älteren und skrupellosen Anführer seiner Jugendbande zunehmend tiefer ins Verhängnis getrieben und physisch fertiggemacht, zuletzt umgebracht wird. Diese tödliche und ob ihrer beiläufigen Präsentation revoltierende Grausamkeit, die, um mit Lessing zu sprechen, in der Tat zu haarsträubend für eine adäquate Gefühlsbekundung zu sein scheint, wird in einer tränenstimulierenden Szene vorbereitet, in der ein Einzelner diesen Verhängniszusammenhang zu durchbrechen und sich als unerwartet großherzig zu erweisen sucht. Wenn der Direktor der Schule, in die Pedro zum Zweck der Besserung und Unterweisung gesteckt wird, ihm einen Vertrauensbeweis erbringt, wie ihn Pedro bislang noch nicht erfahren hat, und einen Moment lang ein Hoffnungsschimmer auf Unterbrechung des Zwangsläufigen aufscheint, kann man sich der Tränen nicht mehr erwehren.
Unerwartete Güte, so würde ich gegen Lessing und seinen mörderischen Tugendzwang behaupten wollen, ist unverhältnismäßig anrührender als das erwartbare Verhängnis; die Durchbrechung von Konvention und gesetzestreuer Indifferenz durch großherzige Überbietung erschüttert mehr als die naturalistische Fahrt ins Unglück. Mehr Tränen als der Tod der aidskranken Frau befördert daher in Almodóvars Film TODO SOBRE MI MADRE (Spanien, 1999) die Entscheidung der mütterlichen Figur, sich des Kindes der Verstorbenen anzunehmen und um dessen Überleben zu kämpfen. In SHORT CUTS (USA, 1993) von Robert Altman wird man nicht nur beim Tod des von einem Auto angefahrenen Jungen durchgeschüttelt, sondern vielleicht noch mehr in der Szene, in der der Geburtstagskuchenbäcker die Mutter, nachdem er vom Tod des Jungen erfahren hat, bittet sich hinzusetzen und ihr Gutes tun will. Oder in dem chinesischen Film XING FU SHI GUANG (Happy times) von Zhang Yimou (2001) erweicht einen die Tatsache, dass ein blindes Mädchen sich von einer Gruppe von Rentnern, die ihm eine fiktive Welt erbauen, erstmals umsorgt und dadurch in seinem Lebenswillen bestärkt empfindet. Plötzliche, nicht unmittelbar interessengebundene Fürsorge erscheint als Tränenkatalysator per excellence...
Der erste Mexikofilm von Buñuel, so wird wiederholt behauptet, habe die gesamte Tradition des lateinamerikanischen Kinos eröffnet und einem ganzen Genre von Filmen das Thema vorgegeben: der Darstellung der Marginalisierung und Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen in den Ländern der Dritten und Vierten Welt. Ob der damit zwangsläufig ausgelösten Rührung wird dieses Kino nicht zufällig von Sylvia Oroz "Kino der Tränen" genannt. Sie hat dabei freilich nicht ausschließlich die Darstellung von Kindern und Jugendlichen als randständigen Figuren im Auge wie etwa Radomiro Spotorno, der seine Studie 50 ANOS DE SOLEDAD (2001) ganz dieser Problematik widmet, sondern behandelt die soziale Problematik im allgemeinen, wie sie sich im Melodrama insbesondere Mexikos und Brasiliens niederschlägt. Laut ihrer Studie MELODRAMA – O CINEMA DE LAGRIMAS DA AMERICA LATINA (Oroz 1992) fließen die Tränen in diesem Kino nicht in erster Linie im Anblick der sozialen Misere der untersten Gesellschaftsschicht und ihrer schwächsten Glieder, sondern angesichts der allgemeinen Zwangslage und der mehr oder weniger hoffnungslosen Kämpfe des Kleinbürgertums um sozialen Aufstieg, gesellschaftliche Anerkennung und das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung.
Auch sie spricht von einem gemischten Genre, insofern es im Melodrama keinen hohen Ton und keinen tragischen Schicksalsbegriff, wohl aber exzessiv ausagierte Leidenschaften und Enttäuschungen, Fehltritte und Versöhnungen des vornehmlich weiblichen Personals gibt, das in seiner häuslichen Sphäre und der dazugehörigen Empfindungslage zwischen Lachen und Weinen vorgeführt wird. Oroz sucht diesem Genre als Ausdrucksform des Populären nachholende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schon weil es im Zeitalter des Fernsehens in seiner seriellen Streckung das breiteste Artikulations- und Verständigungsmedium der Massengesellschaft ist.
Diese Spielart des weinerlichen Lustspiels kennt freilich nicht Buñuels Zuspitzung der existentiellen Situation auf das Entweder-Oder von Müllhalde oder Überleben; hier werden nicht in Lessingscher Tradition Frauen den Standesgegensätzen zum Opfer gebracht; es verlangt nicht nach gesellschaftlichem Umsturz oder auch nur nach Recht aufs Menschenrecht. Vielmehr ist es ein Genre, das mittels sanfter Rührung und kleiner Tränen mit der allgemeinen Kontingenz des Lebens in einem wenig chancenreichen Umfeld unterhaltsam zu versöhnen sucht - und auf Fortsetzung setzt. Auf dass die Dinge mehr oder weniger so bleiben, wie sie sind, werden ein bißchen Mitleiden und Furcht erweckt, werden die Alltagssorgen katalysiert und dann weggewaschen; es ist das Drama des kleinen Tränenfalls, von dem nur soviel vergeudet wird, dass am nächsten Tag das Reservoir wieder gefüllt ist und für die neue Serie verausgabt werden kann.
Die Tatsache, dass in Melodramen gelegentlich provokative Frauen vorkommen, mag gleichwohl eine gewisse emanzipatorische Wirkung auf die Zuschauerin haben und ungewohnte Frauenbilder zunehmend salonfähig machen; vielleicht arbeiten sie auf lange Sicht gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen zu, wie sie das bürgerliche Trauerspiel vorführen wollte und wie es Buñuel bereits mit den Eingangssätzen von LOS OLVIDADOS gefordert hat. Oroz spricht allerdings von "Archetypen" dieses Genres, als gäbe es auch Naturgesetze der melodramatischen Repräsentation.
Das "Kino der Tränen" erzählt im Titel vor allem von der Zuschauerrezeption, wenn auch in den filmischen Melodramen des spanischsprachigen Kulturkreises Tränen nicht selten eine Wange zum freien Fall angeboten bekommen. Aber wer wüsste schon zu sagen, ob mehr Tränen in Lateinamerika als in Hollywood niedergehen?
Gleichwohl stehen Tränenfall und gesellschaftliche Lage nicht in einfacher Korrelation. Wie bereits am aufklärerischen Tränentheater gezeigt, geht gerade gesellschaftliche Mobilität mit zum Teil exzessiven Gefühlsbekundungen einher. Wer dafür und trotz aller Berechtigung auf der Leinwand kaum weint, sind Kinder, erst recht keine Kinder im randständigen sozialen Milieu. Insofern ist es nur folgerichtig, dass die ihnen gewidmete Studie (Spotorno 2001) frei nach Garcia Marquez das Thema der gesellschaftlichen "Einsamkeit" in den Vordergrund rückt. Kindliche und jugendliche Protagonisten weinen weniger in dem Maße, wie ihre gesellschaftliche und persönliche Notlage auswegslos ist. Im Gegensatz zu den beredten Protagonisten des weinerlichen Lustspiels, die sich durch Ausbreitung ihres Innenlebens eine gewisse Selbstvergewisserung erreden und erheulen, fehlt den Kindern der neorealistischen Filme die Sprache, um ihr unverdientes Unglück zu benennen, fehlen ihnen sogar die Tränen, die wider allen Anschein eine Form des – und sei es noch so minimalen - selbstbewussten Durchblicks voraussetzen. Insofern übernehmen die entsprechenden Filme hier kompensatorische Ausdrucksfunktion, performieren bis zu einem gewissen Grad, was traumatisch ungesagt bleibt. In gewisser Weise reichen sie die immer schon versiegten Tränen nach, weichen auf, was naturgesetzlich fixiert zu sein scheint und als zu große Bedrohung jede psychische Regung unmöglich macht. Gewöhnt an einen beinharten Überlebenskampf und an keinerlei Entgegenkommen von außen, scheinen diese mexikanischen, iranischen, indischen, kolumbianischen oder brasilianischen Kinder, die in den letzten zehn Jahren vermehrt auf der Kinoleinwand erschienen sind, nicht einmal jenes Mindestmaß an Lebensprojektion und Selbstbezug in sich zu tragen, deren Nichteinlösung sie verzweifeln und zerfließen ließe. An keine Gnade gewöhnt, kennen sie kein Mitleid mit sich selbst und anderen, vielleicht auch keine Furcht... Allerdings leben sie eine basale Anteilnahme füreinander wie in dem iranischen Film ZEIT DER TRUNKENEN PFERDE (Iran, 2000) von Bahman Ghobadi, in dem sich verwaiste Geschwister um ihren behinderten Bruder kümmern und ihn unter unsäglichen Mühen über Berg und Tal, durch Eis und Schnee schleppen. Tränen fallen nicht. Das abweisende Land wie die unsägliche Gemeinheit des Schicksals lassen gefrieren, breiten sich als Ausdruck von Leere und Einsamkeit auf den Gesichtern aus. Von den Kindern aus LOS OLVIDADOS (Mexiko, 1951) weint keines um den ermordeten Pedro; fraglich ist, ob die Mutter geweint hätte, hätte sie gewusst, dass unter der Plastikplane die Leiche ihres Kindes liegt.
In den lateinamerikanischen Filmen, die die soziale "Einsamkeit" der entrechteten Kinder zum Thema haben, fließen keine Tränen über Kinderwangen: Die etwa zehnjährige JULIANA, die sich als Junge im gleichnamigen peruanischen Film der Gruppe Chasti (1988) allein durch die Slums von Lima schlägt, weint ebenso wenig wie ihr Pendant PIXOTE (Brasilien, 1980), ein Strassenjunge aus Sao Paolo, oder LA RAULITO (Argentinien, 1974, Laurato Murua), ihre etwa vierzehnjährige Vorgängerin aus Argentinien, die sich bereits um einen noch kleineren Straßenjungen kümmert und ihn wie eine Schutzmantelmadonna unter ihrem Gewand birgt. In dem nicaraguanischen Film ALSINO Y EL CONDOR (Miguel Littin, 1982) wird davon gesprochen, dass die Menschen voller Zorn waren, "wie der Fluss, wenn er anschwillt": Gleichwohl gehen dem buckligen Jungen die Augen nicht über. Es ist kein Zufall, dass in der neuesten Variante dieses Genres, PERFUME DE VIOLETAS – NADIE TE OYE (Mexico, 2001, Maryse Sistach), die etwa dreizehnjähige Protagonistin aus den Suburbs von Mexiko City, vaterlos, von der Mutter zur Hausarbeit abgerichtet, vom eigenen Stiefbruder prostituiert und irgendwie immer schon malträtiert, nie weint, wohl aber schlägt und erschlägt, während ihre Freundin, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, etwas besser gestellt, halbwegs geborgen und von der zuhörenden Mutter umsorgt, sehr wohl aus Wut über das ihr von der Freundin Angetane in Tränen ausbricht. Weinfähigkeit der Kinder, so scheinen diese Filme zu dokumentieren, hängt von der Präsenz von Erwachsenen, von deren Willen zur emotionalen Entlastung der Kinder und zur Aufrechterhaltung von Familienstrukturen ab: Auch der etwa gleichaltrige Junge in Walter Salles neuem Film HINTER DER SONNE (Brasilien/Frankreich/Schweiz, 2001), Kind einer Zuckerrohr bearbeitenden armen Bauernfamilie, weint ob der Unausweichlichkeit des eigenen Todes aufgrund des über die Familie verhängten Blutrachegesetzes und des vom Vater autoritär vertretenen Ehrenkodex...
Offensichtlich ist, dass in diesen Filmen, wie schon anlässlich der italienischen Beispiele vermutet, die Kinderkörper nicht gemeint sind; sie sind vielmehr Demonstrationsfiguren der sozialen Anklage und des zugespitzten Vorwurfs der Zukunftszerstörung. Wie die Kinder nicht gemeint sind, so wiederholen diese Filme, trotz ihrer scheinbaren politischen Korrektheit, die Entindividualisierung der Kinder, die ihnen bereits aufgrund ihrer sozialen Randstellung widerfährt. Da sie stattdessen als Chiffren gesellschaftlicher Ausweglosigkeit fungieren, erhebt sich die Frage, ob sie in ihrem stumm verkörperten Leiden und in ihrer Unfähigkeit zu lösender Katharsis beim Zuschauer eher Wut und Aufbegehren katalysieren oder diesen in ebenso großäugig trockenem Staunen erstarren lassen.
Mit Deleuzes Kinobüchern Das Bewegungs-Bild (1997) und Das Zeit-Bild (1998) hat der Affekt, der bei Lessing mit der Zuschauerreaktion verbunden wurde, eine neue Bewertung erfahren: Der Affekt des Kinos wird nun an ein bestimmtes Filmbild gekoppelt, an ein affektive Qualitäten aufrufendes Bild: die Großaufnahme. Die Nahaufnahme liefert keine erzählerische Information, zeigt keine Aktion, eröffnet nur eine piktorale Räumlichkeit, einen unklaren Raum, den Deleuze den "beliebigen Raum" nennt; sie führt uns Objekte und Gesichter in überdimensionaler Nähe vor, wie wir sie in Normalwahrnehmung nicht sehen. Während uns die neorealistischen Filme stumm staunende Kinderaugen präsentieren, scheint das Bild in der Großaufnahme selbst Staunen zu werden. Die Selbstauflösung, von der die Tränen erzählen, ist nun eine des Bildes selbst: Es überbietet die Wiedergabe des Anthropomorphen, entstellt es, entfiguriert es, verleiht sich einen Affektausdruck mittels Auflösung der Bildkonvention.
In der Attraktionsmontage von Eisenstein wird der Großaufnahme katalysatorischer Wert zugesprochen, insofern sie durch serielle Reihung Intensitätssteigerungen hervorruft und herkömmliche Qualitäten in neue Unbekannte umschlagen lässt: Dem Affekt der Demütigung, in PANZERKREUZER POTEMKIN (Sowjetunion, 1925) ins Bild gesetzt durch Großaufnahmen von Stiefeln, Gewehren, Personen bis hin zum Kinderwagen, die bilddiagonal von links oben nach rechts unten herabsteigen und –stürzen, wird begegnet durch einen Affekt des Aufbegehrens und Widerstands, montiert aus Großaufnahmen von aus der rechten unteren Ecke ansteigenden Blicken vor allem der Mutter, die ihr ermordetes Kind wie einen Bremsblock dem Sturz ins Inferno entgegenhält und die künftige politische Gegenbewegung antizipiert.
Der Affektgehalt der Großaufnahme ergibt sich aber jenseits ihrer ideologisierender Funktionalisierung und ihrer Einbindung in Montageweisen bereits aus der Bildqualität selbst: Das überdimensional vorgeführte Objekt verliert seine Wiedererkennbarkeit und Klischeehaftigkeit. Verfremdet, führt es Nie-Gesehenes vor, wird in seiner Expressivität zu "Gesichtlichem": "Die Sache ist wie ein Gesicht behandelt worden, ihr wird ins Gesicht gesehen, oder vielmehr, sie hat ein Gesicht bekommen und nun starrt sie uns an" (Deleuze 1997, 124). Als solches unterbricht es die narrative Bewegung, löst die Narration aus ihren raumzeitlichen Koordinaten, verweist in seiner Flächigkeit auf die Bildhaftigkeit selbst, verleiht dem gesamten Film affektiven Charakter, der ihn weinen lässt in dem Maße, wie sich seine Bilder selbst dekonstruieren.
Dieses Weinen ist freilich kein menschliches mehr: Das "zum Gesicht gemachte" Objekt öffnet sich wie eine unbekannte Landschaft, durch welche Tränenbahnen wie Bäche rinnen; seine poröse Struktur erhält geologische Dimension. In den aufgeblähten Kinobildern gewinnen Tränen ahumane Qualitäten; Deleuze sieht in ihnen die Affekte "unpersönlich" werden und gerade darin in ihrer "Essenz" in Erscheinung treten, als "gesättigter" Ausdruck von Leiden und Schmerz, der größeres Pathos als das menschenmögliche zur Ansicht bringt: "Das Gesicht nimmt so am nichtorganischen Leben der Dinge teil..." (ebd., 130)
Die Tränen auf dem Gesicht von Dreyers JEANNE D'ARC (Frankreich, 1928) – "dem affektiven Film par excellence" (ebd., 148) - sind fremde Körper auf einer gekrümmten Ebene, dank welcher Jeanne d'Arcs Prozess zur Passion, der Raum spirituell und das Bewegungsbild pathetisch wird. Der Film "enthumanisiert" sich in diesem Vorgang des Selbstunterlaufens des Anthropomorphen, der Vergrößerung der Tränen zum Ausdruck des "Ahumanen" – als der einzig denkbaren ethischen Haltung für Deleuze.
Indem Großaufnahmen wie impressionistische Gemälde das Gezeigte in unzählige Pixel zerlegen, dessen molekulare Struktur, das Wimmeln und die Dynamik seiner Partikel, die Nacktheit seiner Gesichtlichkeit freilegen, eröffnen sie Einblicke in Metamorphosen und Werdensprozesse, von denen sich Deleuze eine Ansteckung ins Gesellschaftliche erhofft. Mehr als von tränenreichen Demonstrationen verspricht er sich von diesen mikroskopisch vorgeführten "Dividuationen", von den immanenten Vervielfältigungen der Bilder, von ihren virtuellen Verweisen nach außen, die er sich in ein gesellschaftliches Wir-Werden, in ein Politisch- und Revolutionär-Werden verlängert wünscht.
Trotz ihrer allenfalls leicht salzigen Nullsubstanz fungieren Tränen solchermaßen immer wieder als Katalysatoren und Lupen bei der Suche nach fortgesetzter Demokratisierung der Welt. Diese Suche verläuft selbstverständlich nur über den Zugriff eines haptischen, fühlenden und träumenden Auges, das sich durch den Schleier hindurch Klarsicht erkämpft; eines Auges, das nicht cool perspektivierend auf Halbdistanz bleibt, sondern durch welches – wie in Buñuels CHIEN ANDALOU (1929) – das Messer hindurchgeht, auf dass sein Weiß in eine unübersichtlich vielfältige Spektralität zerfällt.
Claussen, Cornelius (2000) Der Schmerz der Bilder, in: Kunstgeschichte, Magazin Uni Zürich, 4/, S. 57-60.
Coudreuse, Anne (1999) Le goût des larmes au XVIII siècle, Paris.
Deleuze, Gilles (1997) Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt a.M.
Ders. (1998) Das Zeit-Bild, Kino 2, Frankfurt a.M.
Euripides (1972) Sämtliche Tragödien und Fragmente, hg.v.G.A.Seeck, München.
Homer (1979) Ilias, Odyssee, München.
Oroz, Sylvia (1992) Melodrama – O Cinema de Lagrimas da America Latina, Rio de Janeiro.
Sophokles (1968) Tragödien, hg. v. W. Schadewaldt, Zürich, Stuttgart.
Spotorno, Radomiro (2001) 50 anos de soledad, Huelva.
Gotthold Ephraim Lessing (1765) Abhandlung von dem weinerlichen oder rühren Lustspiele , in: Werke, Bd. V, München: Carl Hanser Verlag, S. 7-51.
Ders., Laokoon (1766), in: Werke, Bd. VI, München: Carl Hanser Verlag, S. 7-188.
Ders., Hamburgische Dramaturgie (1769), in Werke, Bd. V, München: Carl Hanser Verlag.
Ders., Emilia Galotti (1772), in: Werke, Bd. II, München: Carl Hanser Verlag.
Loraux, Nicole (1997) Was ist eine Göttin?, in: Georges Duby, Michelle Perrot, Geschichte der Frauen, Bd. 1, Frankfurt a.M. , S. 33-64