Avantgarden und die Desorganisation des Kino-Raum
Zuletzt war es wieder ein Sprung, der das Räumliche im Kino neu strukturiert und unter Zuschauern Reaktionen der Bewunderung und des Staunens ausgelöst hat: Trinitys Sprung am Anfang des ersten MATRIX-Films, der die Schauspielerin Carrie-Anne Moss einen Moment lang wie jenseits von Zeit und Raum in der Luft stehen ließ, isoliert von aller Umgebung, fremd in einer fremden Welt, einsam und konzentriert, bevor dann, wie von eisernem Willen gesteuert, alle Energie gebündelt ist und Trinitys Bewegung mit einem Schlag weitergeht. Das Verhältnis von Körper und Raum erscheint in diesem Sprung nicht nur als Überwindung der Schwerkraft und als willkürliche Beherrschung aller Dimensionen durch Körpertechniken, der Sprung vermittelt auch das Gefühl einer Möglichkeit, gehalten zu sein im Raum, getragen vom Raum und von vielfältigen Blicken, die ihn durchdringen und zu etwas Gegenständlichem werden lassen. Eiserne Disziplin legt ein kohärentes und durch Leder und Sonnenbrillen doppelt konturiertes Imaginäres über die Figuren und ihre flüchtigen Realitäten im Film. Diese Realitäten sind durch eine Dreiheit, eine profane Trinitas konstituiert: Körper, Raum und Blick. Der filmische Sprung markiert ihre Verschränkung als entsprechend profane Erleuchtung. Drei berühmte kinematographische Sprünge, Kino-Ur-Sprünge, sollen die Konstitution von je neuen kinematographischen Räumen sichtbar werden lassen: 1918 der Sprung eines Regisseurs, Dziga Vertovs selbst, aus dem Filmpalais, und seine Projektion in Zeitlupe; 1945 der übermenschliche Sprung eines Tänzers, den Maya Deren am Schneidetisch zusammensetzte, und 1999 der Sprung, in dem die Regisseure Andy und Larry Wachowski ihren Figuren den Raum zurechtbiegen, so daß sie über ihn zu verfügen scheinen. Es sind Experimente, explizit oder implizit avantgardistische, immer jedoch solche, die den Status des Subjekts medienhistorisch zur Disposition stellen: Das Subjekt steht nicht mehr mit beiden Beinen auf festem Boden.
Seitdem Kameras Blicke simulieren, seitdem Filmmontage sich als radikale Konstruktion, nicht Rekonstruktion, von Raumrealität versteht, werden die Räume des Kinos komplexer. Davon handeln zuerst Dziga Vertovs Kinoki-Manifeste aus den zwanziger Jahren, und zuletzt zeigte das, im Amok-Jahr 2003, Gus van Sant in den insistierenden Kamerafahrten von ELEPHANT (R: Gus van Sant, USA 2003). Seitdem sich die Kameraaugen mit digitalen Rechnern verbinden lassen, ähneln die Räume im Kino noch weniger dem, was wir mit eigenen Augen wahrzunehmen gewohnt sind. Zu den Möglichkeiten der Kamera, unsere Raumwahrnehmung durch Optiken, Farbe, Montage und Kamerabewegung zu modulieren, sind mit elektronischen Verfahren, digitale Bilder zu errechnen, weitere Verfahren gekommen, den Blick unmerklich vom Auge zu trennen. Die Kopplung von ganzen Kameraketten, deren vielfache Perspektiven dann, hochgerechnet und Pixel für Pixel zusammengesetzt, den Bruchteil einer Sekunde zu einer langen, andauernden Anschauung bringen, wie es in den Tricks von MATRIX geschieht, entfaltet den Raum als einen, der von allen Seiten zugleich durchdrungen werden kann. Das bedeutet für das Subjekt des Sehens, keinen Ort mehr zu haben in der diskontinuierlichen Zeit, für den Bruchteil einer Sekunde den materiellen Körper, den Körper von Gewicht1 zu verlieren.
Die omnilaterale Blickstruktur, die Trinitys Sprung trägt, ist nicht nur eine Film-Phantasie. Dichter als wir es wahrhaben wollen und können, ist der Raum, in dem wir uns bewegen von Überwachungskameras durchdrungen. Öfter als wir es wissen wollten oder könnten, werden unsere Bewegungen im Raum von elektronischen Geräten aufgenommen und zu Mustern zusammengesetzt, mit denen wiederum nur Rechnerprogramme etwas anfangen können. Die Ausstellung ‚Control Space‘ am ZKM in Karlsruhe hat das zwei Jahre nach dem Start von MATRIX visuell und virtuell dokumentiert: das Panoptikum Foucaults ist video- und satellitentechnisch global realisiert. Seine spröde und polizeiwissenschaftliche Weise, den Raum zur Überwachung zu durchdringen, wird durch Filme wie MATRIX nicht nur anschaulich sondern zur physischen Erfahrung. Die phantastischen Raumstrukturen in Science Fiction Filmen sind durchaus als Faction ernst zu nehmen, als Tatsachen, die im Politischen bereits zur Grundlage dessen geworden sein dürften, was als staatsbürgerliche Identität aller Kontrolle zugrunde liegt. Wir werden nicht einfach optisch überwacht, sondern potentiell optisch surround, wie Trinity in der MATRIX, durch viele versteckte und offene Kameraaugen und durch Rechner und Satelliten, die uns jenseits von Zeit und Raum einen Ort zuweisen.2 Trinitys Sprung endet entsprechend. Er trifft den Polizisten, der sich im controlled space allzu sicher wähnt.
Inzwischen allerdings staunt niemand mehr über einen Trick wie Trinitys Sprung. Jede halbwegs seriöse Sportsendung hat diese Raumoperation der Wachowski-Brüder in Fußballreportagen oder Superbowl-Berichten implementiert, und eine Prä-MATRIX-Kamerafahrt, die sich erst langsam durch den Raum hindurch kämpft, anstatt ihn sich schnell zurechtzubiegen, würde jedes Fernsehpublikum strapazieren. Die Sportschau kann in diesem Kontext die Rolle eines Testprogramms beanspruchen. Walter Benjamins Hinweis, daß „unter den gesellschaftlichen Funktionen des Films (...) die wichtigste (diejenige ist), das Gleichgewicht zwischen dem Menschen und der Apparatur herzustellen“3, dann müßte sich an dieser neuen Art der Raumdarstellung auch der Hinweis auf eine im weitesten Sinne soziale Struktur aufzeigen lassen: sei diese realer oder imaginärer Art. Benjamin hatte 1935 hinzugefügt: „Diese Aufgabe löst der Film durchaus nicht nur auf die Art wie der Mensch sich der Aufnahmeapparatur sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt.“4 Trinity, die Dreifaltigkeit im Film, die von der hochgerechneten Vielfalt der Kamerablicke getragen ist, verbindet das alles zu einer hybriden Subjektivität, die, weil sie die Medialität der MATRIX mitdenkt, sich die Welt aneignen bzw. die MATRIX durchbrechen kann. Nur dank des digitalisierten Films als Aufnahmeapparatur und insofern der Raum als Umwelt schlechthin medial konstruierbar erscheint, wird ihr Menschen-Körper zum Subjekt der Geschichte. Besonders auf dem Sprung.
Die experimentellen Sprünge im Kino sind Attraktionen auch deshalb, weil sie die Wahrnehmung des Raumes ins Labor der empirischen und historischen Möglichkeiten transportieren. Raum erweist sich als veränderbar, kann, mit dem Kino, nicht mehr als Apriori der Wahrnehmung gelten, ist keine feste Basis mehr und nicht verläßlich in seiner Relationierung von Dingen und Gestalten. In Konkordanz mit psychophysischen und insbesondere neurologischen Wahrnehmungsexperimenten ihrer Zeit — das gilt insbesondere für Vertov5 — zeigen frühe Filmexperimente, wie die Desorganisation des Räumlichen im Blick nicht nur Schwindel erzeugt, sondern auch die Fähigkeit, sich anders und vielfältig zu re-orientieren, re-organisieren. Die Erfahrung, daß sich im Kino seltsame und befremdliche Raumerfahrungen auftun und die Zuschauenden in ihrem sensomotorischen Verhältnis zur Umwelt radikal neu koordinieren, ist eine historische und wird seit den ersten Aufführungen im Salon Indien und der heranrasenden Lokomotive immer wieder beschrieben: als Schock, Schrecken und Begeisterung. Auch wenn vieles daran Legende ist6, äußert sich in den Beschreibungen die Erfahrung von unvorhergesehenen Relationen im Raum, die in den Laboratorien der Psychologen und in den Studios der Filmproduzenten analysiert werden, wobei die Chronometrie der Laboratorien sich auch als Verzeitlichung in den Raumexperimenten niederschlägt.
In diese Versuchsreihen gehört auch Dziga Vertovs Sprung 1918 aus der Höhe von anderthalb Stockwerken des Palais' des Filmkomitees in Moskau. Ein Kameramann filmte diesen Sprung in Zeitlupe, und auf diese Weise machte Vertov im Selbstexperiment die vielen und differenten Empfindungen und Gefühle auf seinem Weg nach unten sichtbar. Ein „optisch Unbewußtes“, wie Benjamin es im Kunstwerkaufsatz beschreiben wird, versteht Vertov hier unmittelbar auch als Möglichkeit politischer Kommunikation oder Kontrolle. Er beschreibt seinen Sprung, Jahre später, als Eröffnung einer Kinowahrheit dank ‚Kino-Auge‘:
Vom Gesichtspunkt des gewöhnlichen Auges sehen Sie die Unwahrheit. Vom Gesichtspunkt des kinematographischen Auges (mit Hilfe besonderer kinematographischer Mittel, in diesem Falle – der Zeitrafferaufnahme) sehen Sie die Wahrheit. Wenn vom Lesen der Gedanken eines Menschen auf Entfernung (und es ist nicht selten wichtig für uns, nicht die Worte eines Menschen zu hören, sondern seine Gedanken zu lesen) die Rede ist, so haben Sie diese Möglichkeit gerade hier erhalten. Die Mittel des ‚Kinoglaz‘ haben sie entdeckt. Die ‚filmtauglichen‘ Mittel bieten die Möglichkeit, die Maske vom Menschen wegzunehmen, ein Teilstück der Filmwahrheit zu erhalten. Und meinen gesamten weiteren Weg im Film habe ich eingerichtet als einen von mir mit allen zugänglichen Mitteln geförderten Aufschluß eben dieser Wahrheit.7
Vertovs Sprung, der die Relativierung jeder Intersubjektivität im kinematographischen aufgebogenen Raum erprobt, soll das Subjekt in einen kommunistischen Raum befördern, in dem Beziehungen nicht zwischen Subjekten, sondern erst vermittelt über Apparaturen zu objektiven, gerechten, daher ‚wahren‘ werden können. Damit stellt er in seinen gesprungenen Kino-Raum-Experimenten zur Disposition, was Benjamin später als „unbewußt durchwirkten Raum“8 beschreiben wird. Weil Benjamin seinen Text anläßlich des beginnenden Schreckens eines Wahrnehmungsraumes im Nationalsozialismus schrieb, der alle Anstrengungen unternahm, den Raum medial zu homogenisieren, bleibt die Frage, inwiefern Formen des Kinos neue Relationen, auch explizit soziale, möglich werden lassen. Filmwissenschaft kann in diesem Sinne untersuchen, ob Raumstrukturen in einem Film Möglichkeiten von Relationen vervielfältigen, heterogenisieren oder aber, durch die Raumkonstruktionen selbst und also jenseits aller Diskursivität, Beziehungen homogenisierend reglementieren.
Historisch läßt sich in aller Kürze zusammenfassen, daß einer Vielfalt und Anarchie von Raumformen, mit denen in den ersten Jahren des Kinos experimentiert wurde, später in den klassischen Hollywoodformen der zwanziger oder in den ausgeprägten Genreformen der dreißiger Jahre, harte Raumgesetze gegenüberstanden. Die wilden Räume des frühen Kinos beruhten, schreibt Tom Gunning, auf diversen Tricks, die den Raum modifizierten: zuerst der legendäre und offenbar ja selbst als Unfall ins Filmbild gestolperte ‚Jump Cut‘, der den Raum einer hüpfenden Zeitstruktur unterwirft; zweitens die Mehrfachbelichtung — die Gunning insbesondere an Méliès-Filmen illustriert; drittens die frühe Montage, die Räume aus unabhängigen, heterogenen Elementen zusammensetzt; viertens die Kamerabewegung, die die Möglichkeiten der Kamera dokumentiert, den Raum zu mobilisieren, zu erkunden und zu beherrschen; und fünftens die Lenkung des Blicks, die den Raum erneut spalten und konfigurieren kann. Durch die Blickstruktur im Kino habe das frühe Kino zunächst das Verhältnis zwischen Schauspielern und Zuschauern, das im Kino abstrakter als im Theater war, neu geknüpft. Allerdings war der Blick des Schauspielers aus dem optischen Raum der Kamera heraus in den künstlichen, imaginierten Zuschauerraum von einer ambivalenten Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit geprägt, so daß die Schauspielerblicke in die optische Achse der Kamera als gespenstische oder — da sind Gunnings Beispiele frühe Pornos — als (be)trügerische galten.9 Diese Unheimlichkeit des Blicks hat Heide Schlüpmann nicht einfach als Anarchie, sondern als Strategie in einem politischen Kontext situiert. An der Organisation der Blicke und folglich eines imaginären Raums zeigt sie detailliert an zahlreichen Produktionen des frühen Kinos, daß es sich bei dieser Struktur um die emanzipatorische Ästhetik einer Kinoepoche handelt, in der Geschlechterdifferenzen in der neuen Sinnlichkeit des Mediums ausgespielt und ausgehandelt wurden, in der sich „eine Opposition gegen das patriarchal organisierte Geschlechterverhältnis“10 bildete, wesentlich durch die filmische „Koalition von weiblicher Erzählperspektive mit dem Kino der Attraktionen.“11 Erst mit der Industrialisierung des Kinos im ersten Weltkrieg setzte sich in der kommerziellen Filmproduktion das Gebot eines Schauspielerblickes durch, der sich nie direkt an die Kamera wenden und damit in die Augen der Zuschauer blicken sollte. Dadurch sollte perfekte ‚Illusion der Realität‘ garantiert werden. Diese Realität war mithin auch räumlich definiert und, weil sie die Anspielungen auf Anwesenheit und Abwesenheit des physischen Körpers der Zuschauer unter ein Tabu stellte, zugleich eine, die sich im Sinne traditioneller Schriftkultur daran macht, Körperlichkeit zu neutralisieren. Insofern auch sind die verschiedenen Versuche von Avantgarden, den Raum des klassischen Erzählkinos zu sprengen, immer auch Formen einer Wieder-Holung des Körperlichen ins Kino.
Das Kino, das den Leib als Physis wieder in den Bildraum rückte, wurde insbesondere in einer Zeit, in der es, wie Heide Schlüpmann detailliert zeigte, anarchisch heterogenisierend ist, als fröhliches Wissen und die Filmwissenschaft als fröhliche begrüßt — wenn auch die Körper, die sich zuerst zeigten, und die Räume, die sie sichtbar machten, anfangs direkt aus den Laboratorien und aus den Anstalten der physiologischen Vermessung im 19. Jahrhundert kamen.12 Das klassische Erzählkino hingegen kennt immer nur partielle Ausbrüche aus einem ziemlich streng verfassten kodifizierten Kinoraum, Ausbrüche, die meistens Anzeichen für den Irrsinn der Protagonisten oder für Drogen im Spiel sind. Die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts haben jedoch stets alles darangesetzt, herrschende Kunst- und Kinoräume als Konzepte, als Modelle, als Territorien und als Wahrnehmungsräume zu modifizieren.
Analysen des Kinoraumes oder des ‚kinematographischen Raumes‘ sind schwer zusammenzufassen, vielleicht, weil das Objekt, das die Untersuchungen in den Blick bekommen müßten, zu diffus ist, weil zum Raum im Kino ja sowohl schlichte oder strukturelle Umgebungen gehören: der Luftraum und der Raumflugfilm, der Meeres-, der Unterwasser-, der Wüsten- oder der Bergfilm. Zu Studien filmischen Raums gehören ebenso Untersuchungen der Bühnentechnik, Ausstattung und Set-Architektur, als auch die Analyse von lediglich durch Kamera-Optik produzierter Räume und die Interferenz beider. Eine philosophische Klassifikation dieser Räume, wie Deleuze es beispielsweise in seiner Fortentwicklung von Balázs' Theorie des Physiognomischen als Struktur des ‚beliebigen Raums‘ bestimmt hat, fand noch am ehesten Eingang in die Filmtheorie. Heide Schlüpmann hat ihre Untersuchung der Interferenz von Blick und Bildraum im Kino als Plädoyer für eine Vergeschichtlichung der Filmtheorie geschrieben, und hat damit Weichen gestellt für ein produktive, politische Aneignung jeder Metapsychologie des Bildes.13
Am Beispiel der Filmavantgarden lassen sich experimentelle Verfahren, den Raum zu verändern, zugleich als ästhetische und als politische rekonstruieren. Von Anfang an zielte alle Subversion des Kinos darauf, je historische und scheinbar unumstößliche Gesetze realistischer Zeit- und Raumkonstruktion zu durchbrechen, um damit nicht nur zu demonstrieren, daß auch das, was kommerzielle Filmindustrie als ‚richtige‘ Realität verkauft, komplexe Konstruktion und sehr fiktiv ist, sondern auch, um die Interessen, die sich hinter oder besser in diesen Zeiträumen verbergen, sichtbar zu machen. Für Amos Vogel war das eine wünschenswert anrüchige Form der Sympathie mit dem Teuflischen. 1974 schrieb er:
Wie stets sind es die Avantgardisten gewesen, die die (...) inhärenten Möglichkeiten des Films an ihre äußerste Grenze getrieben haben. Mit ihrem dreisten Wunsch, das Medium zu beherrschen, entweihten sie auf kreative Weise das Zeit-Raum-Verhältnis, um es im Glanz ihrer jetzt schuldhaften Erkenntnis seiner Komplexität und Ungewißheit wiederherzustellen.14
All das kannte er aus unmittelbarer eigener Erfahrung im New Yorker Cinema 16, das er bereits 1947 gründete und dort die Filmexperimente der Künstler und Künstlerinnen des New American Cinema zum großen Teil uraufführte. Filmerinnen und Filmer, die damit begannen, den vom Mainstream-Kino strukturierten Raum der vierziger Jahre im Kino zu modifizieren, konnten sich auf diese Weise das Leben oder wenigstens eine Zeitlang die vom Krieg traumatisierten Körper retten.
In den vierziger Jahren experimentierten Künstler oder Amateure in den USA – unter ihnen Sidney Peterson und James Broughton, Marie Menken und Willard Maas, Kenneth Anger und Norman MacLaren, später Stan Brakhage oder Bruce Baillie – mit 16mm-Material, das gerade diesseits und jenseits des Atlantiks im Dienste der Propaganda erprobt worden war: der diabolische Ursprung der Avantgarde. Sie drehten Filme, die immer wieder um das Verhältnis von Körper, Wahrnehmung und Empfindungen auf dem Feld des Sehens handelten, vom Zusammenstoß von menschlichen Körpern und unmenschlichen Techniken. Rabiat experimentierten sie mit Körpergrenzen, die Innen und Außen trennen sollten, und die im Reiz-Reaktions-Verkehr der Nerven durchlässig geworden waren. Dabei ging es auch darum, in diesen Filmen Räume zu eröffnen, in denen andere, menschlichere Verkehrsformen und ein anderes Imaginäres möglich wären als die kriegerischen, die kurz zuvor unter nicht weniger Experimentierfreude und Begeisterung von den Filmern des Signal Corps und des Office of War Information an den Fronten entwickelt worden waren.15 Die Kunst war aber gerade, nicht den eigenen Körper zu zerstören, sondern die notwendige Transformation durch die Wahrnehmung im Kino statthaben zu lassen. Es ging um eine neue Innervation der Apparatur in Benjamins Sinne. Die bewußte Desorganisation des filmischen Raumes macht das deutlich.
Vielleicht am konsequentesten hat sich Maya Deren mit filmisch konstruierbaren Raumformen auseinandergesetzt, und zwar sowohl in ihren Filmen als auch in theoretischen Schriften, in denen sie ihre Arbeit im Kontext medialer Umbrüche reflektiert. Anläßlich des Films beschrieb sie Krisen der Wahrnehmung historisch, betonte dabei deren kulturtechnische Voraussetzungen und verwies auf die sozialen Veränderungen, auf neue Beziehungs- oder Subjektivierungsformen, die sie zur Folge haben.16 Ihre Filme sind Experimentierfelder für solche Prozesse. In allen Filmen Derens, von MESHES OF THE AFTERNOON (R: Maya Deren, USA 1942) bis zu dem Rohmaterial, das sie über Voudou-Rituale in der Karibik gedreht hat, ist die Verschiebung und Verschachtelung von Raum-Verhältnissen nicht nur filmisches Verfahren, sondern bestimmt auch das, was als Handlung oder eher als Geschehen in den Filmen bezeichnet werden könnte. Die Protagonistinnen, zumeist gespielt von Deren selbst, verlieren sich in Labyrinthen und begegnen sich selbst als andere auf ihren Wegen durch fremde Räume wieder. Diese Odysseen sind keine linear fortschreitenden Bildungsfahrten der Heldinnen, sondern zirkuläre Bewegungen in Räumen, die jeden eindeutigen Blick verstellen und die Fragen danach aufwerfen, inwiefern das Ich optisch ins Verhältnis zu Anderen verstrickt ist.
Den Film MESHES OF THE AFTERNOON drehte und montierte Maya Deren zusammen mit dem tschechischen Experimentalfilmer Alexander Hammid 1942 als ‚Home-Movie‘ in der Kings Road in Los Angeles, ein paar Blocks nördlich vom Sunset Boulevard. Alle Raummanipulationen und alle Modifikationen des Körpers im Raum sind Effekte, die mit einer 16mm-Bolex, einer präzisen Schweizer Laborkamera, hergestellt werden konnten: Geschwindigkeiten, Blenden und Brennweiten können an der Bolex haargenau eingestellt und verändert werden, ein Zählwerk gestattet bildgenau berechnete Vielfachbelichtungen. Die Mittel von MESHES OF THE AFTERNOON sind filmisch trivial und doch so grundlegend, wie Panofsky es für das Kino auf den Punkt gebracht hat: „Die spezifischen Möglichkeiten des Films lassen sich definieren als Dynamisierung des Raumes und entsprechend als Verräumlichung der Zeit.“17 Mit einfachen Tricks wird das kleine Haus, das Deren und Hammid bewohnten, zu einer Villa mit endlosen Treppen und verschachtelten Räumen. Als die Protagonistin, gespielt von Deren, in einer weitwinkligen Einstellung ein paar Stufen zur Haustür hochgestiegen ist, verändern sich dieselben Stufen durch aneinandergeschnittene Nahaufnahmen ihres Hausschlüssels, der in Zeitlupe viele Stufen hinunterfällt, gleich darauf in eine endlos lang erscheinende Treppe. Die Treppen im Inneren des Hauses werden mit demselben Trick verlängert. Auf diese Weise werden die Zustände der jungen Frau, die nach Hause kommt und ihren Geliebten vergeblich zu finden hofft, visuell umgesetzt, im strengen Sinne filmisch. Das Gefühl der Frustration wird, im Wortsinne als Täuschung, dem Zuschauer als unberechenbarer und also unbeherrschbarer Raum übertragen. Deren gibt die Produktionsanleitungen an Filmamateure weiter:
... to achieve on film the sense of an endless frustrating flight of stairs, the great Hollywood studios would probably spend hundreds on the building of a set. You, however, can do it for just the price of the film required to photograph any ordinary stairway three times – the first angle shows all but the top landing, the second angle shows the flight without any landings included, and the third angle shows the flight with the top landing. If the actor climbs the visible portion of the stairs three times at a consistent rhythm, you will succeed in having created a stairway three times as long as the real one.18
Filmische Wirklichkeit wird nicht aus vorhandenen Relationen, sondern aus optisch konstruierten Relationen hergestellt. Anstrengung, Angst und das Gefühl der Vergeblichkeit, das die Protagonistin befällt, werden nicht mimisch inszeniert, sondern in der Filmwahrnehmung simuliert.
Eine andere Art, den Raum zum unheimlichen und fremden werden zu lassen, ist das Auftauchen von Doppelgängern. Filmisch lassen sich Doppelgänger leicht herstellen durch Masken, die jeweils einen Teil des Objektives abdecken, während ein Streifen des Films immer wieder bildgenau zurückgespult und mehrfach belichtet wird: seit Méliès eine der anarchischsten, surrealistischsten, avantgardistischsten Raumillusionierungen. In MESHES OF THE AFTERNOON können sich auf diese Weise drei gleiche Mädchen zum Round-Table-Gespräch versammeln, sitzen drei Mayas gleichzeitig über sich zu Gericht, ähnlich wie auf einem Photo von 1917 fünf Marcel Duchamps über sich grübeln. Doppelgänger sind nicht einfach psychischen oder psychologischen Ursprungs, sondern kommen aus der Kinogeschichte selbst und bemächtigen sich der realen Körper, die im Imaginären nicht einfach Spiegelbilder, sondern ein Arsenal von Doppelgängerprozeduren vorfinden. Seitdem Identität durch Bertillonagen als Information technischer Medien angegeben und sogar telegrafisch weitergegeben werden konnte, war das Problem des Identitätsverlustes gleichermaßen ein mediales.
Das entsprechende filmhistorische Ur-Dispositiv aller späteren filmischen Doppel- und Dreifachbelichtungen, das lange vor den Tricks des Kameramannes Guido Seeber im Studenten von Prag eingerichtet wurde, war ja Étienne-Jules Mareys Vielfachbelichtung einer einzigen Photoplatte, auf der er Bewegungsabläufe graphierte. Ein und derselbe Soldat sprang, kämpfte und lief in der Abbildung vergeblich mit sich selbst um die Wette. Allerdings konnte er auch in einem übermenschlichen Sprung, als ein aus seinen eigenen Sprungphasenbildern synthetisiertes Wesen, über aller Wirklichkeit schweben. Duchamp, der ja ebenfalls Autoporträts als Selbstvervielfältigungen herstellte, hatte übrigens Mareys Buch Le Mouvement als einer der ersten studiert, denn sein Bruder Raymond arbeitete zusammen mit Mareys Photographen Albert Londe an der Salpêtrière und brachte es Marcel druckfrisch ins Atelier.
Maya Deren inszeniert, anders als ihre Vorgänger, die Doppelgängerinnen explizit immer wieder in der Konstellation, in der die Figuren im Bildraum oder per Gegenschußlogik der Blicke ‚sich sich sehen sehen‘. In MESHES OF THE AFTERNOON werden auf diese Weise immer weitere Varianten einer Figur in einem Raum generiert oder ausdifferenziert, die sich durch Kleiderformen, Bewegungsarten, durch Reaktionslogiken unterscheiden. Depersonalisationen und Re-Identifikationen der Protagonistin werden dabei stets als Effekte, Begegnungen, Zusammenstöße mit filmisch konstruierter Wirklichkeit vorgeführt und mitten im Star-Fieber Hollywoods erscheint Weiblichkeit als mediale Inszenierung. Andersherum wird der im klassischen Sinne realistische Filmraum erkennbar als gleichermaßen künstlicher, als einer, der die Möglichkeit heterogener Blicke in einem Raum untersagt.
Anläßlich von MESHES OF THE AFTERNOON habe sie zweierlei verstanden, schrieb Deren an die Jury für ein Guggenheim-Stipendium:
First, that a creative work of art implied the creation of an imaginative experience or reality rather than a reproduction of one already existent; and second, that that experience would be created out of the nature of the art instrument by which it was, in fact, realized.19
Im Film geht es nicht um Repräsentation, sondern um Konstruktion von Erfahrungen. In ihrem zweiten Film AT LAND (R: Maya Deren, USA 1944), der 1944 in New York und auf Long Island gedreht wurde, werden illusionäre Raum- und Zeitverdichtungen so sehr zum Gegenstand des Films, daß Deren ihr langes literarisches Szenario in einem Satz zusammenfassen kann: „AT LAND is concerned with 20th century-minded time and space.“20 Deren ging es, wie zwanzig Jahre später den französischen Regisseuren der Nouvelle Vague, darum, Räume gegen Konventionen, Genres und Topoi in — im Sinne der etablierten Regeln — falschen Anschlüssen zu konstruieren und zu mischen. Dadurch wird deutlich, daß diese scheinbar künstlicheren Räume keinen anderen Realitätsgrad haben als die durch Konventionen normalisierten: es sind filmische. In At Land beispielsweise zieht sich die Protagonistin am Strand an einem Baumstumpf hoch. Diese Bewegung ist, ähnlich wie die Treppenszene in MESHES OF THE AFTERNOON, aus drei verschiedenen Kamerawinkeln – von oben gegen den Sand, horizontal, und von unten gegen den Himmel – so aufgenommen, daß der Weg unüberwindlich lang erscheint. Zusätzlich wird dieses Klettern verschränkt mit einer parallel montierten Szene, in der die Protagonistin den Tisch einer Abendgesellschaft erklimmt. Deren hatte gehofft und behauptet, daß die identifizierende Wirkung der Photographie, – ‚the compulsive reality of photography‘ – , also die Identifikation der Frau am Strand mit der Frau auf dem Tisch der Abendgesellschaft die Szenen zu einer Kontinuität verbinden würde. Tatsächlich aber wird die wahrgenommene Kontinuität, welche die augenfällige Differenz der Orte verbindet, umso stärker, je mehr die Bewegungen der Protagonistin über den Schnitt hinweg verlängert, und je intensiver sie in ihrem Tasten ausgeführt sind. Derens Schauspiel paßt sich dabei den künstlichen Räumen der Kamera an. Wie eine Katze tastet sie sich durch die Film-Räume, in federnden, tanzenden Bewegungen, die ja vor der Kamera zum Teil äußerst künstlich, verlangsamt, beschleunigt oder zerstückelt gewesen sein müssen. Komplementär dazu soll sich auch die Frau an der Kamera der Apparatur anverwandeln:
(...) the body with its complex combinations of joints, swivels, etc., mounted on very adequate legs, can put, at the service of the camera, a variety and combination of movements which even the most elaborate tripod could not begin to offer.21
Der Film AT LAND wurde als Prozess des Erwachsen-Werdens und auch des Künstlerin-Werdens einer Frau beschrieben,22 dieser Übergang ist aber noch mehr als, im doppelten Sinne, Kamerafrau-Werden zu sehen. Es entsteht eine Verbindung zwischen Körper und einem Raum, der sich nur der Kamera- und Montagearbeit verdankt.
Diese Sequenz in Derens AT LAND entfaltet ihre Bezüge erst im Kontext des ganzen Films, der von einem symbolischen Spiel von und mit Schachfiguren durchkreuzt ist. Am Anfang bewegen sich animierte Schachfiguren vor einem einsamen Schachspieler am Ende der Tischgesellschaft. Im Verlauf dieser Partie schlägt die schwarze Dame einen weißen Bauern, der sich vom Feld schleppt, umkippt, vom Brett stürzt und – in einem Bewegungsanschluß über den Schnitt hinweg – irgendwo draußen durch Felsen ins Meer stürzt, um seinerseits eine Odyssee durch Naturlandschaften zu beginnen. Das Schachspiel relativiert alle anderen Räume und Handlungen im Film, allerdings nicht durch die strategischen Züge auf dem Brett, sondern durch das Verhältnis der Figuren zur Spielregel. Animiert durch die Tricks des Films verlassen die Schachfiguren den Raum und die Bewegungsmuster, durch die sie in ihren möglichen gegenseitigen Machtverhältnissen definiert sind: Außerhalb des Brettes können sie nicht mehr nach den alten Regeln der Kunst aufeinander treffen, sondern sind neuen Bewegungsgesetzen strudelnder Bäche, brechender Wellen oder wehender Winde ausgesetzt. Im Raum des Schachbrettes oder der geometralen Optik, heißt es bei Lacan in einem Sprachspiel, sind wir „im Raum partes extra partes, der sich immer gegen das Erfassen eines Objektes sperrt“23, weil die Relationen vorgeschrieben sind. Außerhalb dieses Raumes, das zeigt die Parabel von Meer zu Meer in AT LAND, wird es in einer Logik der Blicke und Bewegungen immer Störungen geben, die die Bewegungsmöglichkeiten, anders als beim Schach, nicht nur in ihrer Kombinatorik ändern, sondern in ihrer Regelstruktur selbst, oder, menschlich, in ihrer Identität. Eine Dame bleibt nur auf dem Brett eine Dame, heißt das. Und eine Dame kann nur auf dem Brett eine Dame bleiben.
Mit Bewegungen, die die Figuren in Wasser, Wellen und Wind ergreifen, ist der Registerwechsel angegeben, der sich für das Individuum mit dem Eintritt in den kinematographischen Raum vollzieht. Im Kino sind es ‚moti inter motos‘, die sich transformierend erkennen und verkennen. Aber was als große Freiheit der weißen Dame erscheint, ist gleichzeitig auch der Eintritt in neue Dispositive, neue Regeln, neue Fallen. Die Fixierung der Identität, wie sie in der Filmgeschichte immer wieder in das Raster symbolischer Ordnungen oder kultureller Symbolisierungen gestellt und auf speicherbare und reproduzierbare Körperbewegungen übertragen wurde, ist abhängig von den Parametern, unter denen diese bemessen werden. Von Medium zu Medium sind es andere. Im Film sind es Parameter von Bewegungen, und nur durch Manipulationen von Zeiten und Räumen können sie wiederum kinematographisch freigesetzt werden.
Die Odyssee durch filmisch produzierte Räume erprobt nicht nur an der Protagonistin, sondern auch an den Zuschauern im Kino die Relativierung des eigenen Körpers im Raum durch sinnliche Affizierung. Die Schwierigkeit, ein stabiles Verhältnis zu den fragmentierten und widersprüchlichen Elementen neuer Zeit-Räume aufzubauen, ist nicht nur das Thema des Films, es wird gleichzeitig für das Kinosehen bearbeitet und verändert. Die Anpassung des Individuums an kinematographische Verhältnisse findet durch eine Verbindung der Wahrnehmung mit dem Kinoapparat statt. So sprengt Deren den Begriff der Identifikation aus der theoretischen Verkalkung, die spätestens im Laufe der vierziger Jahre sowohl im psychoanalytischen als auch im politischen Sinne daraus einen Akt der Idealisierung und der Unterwerfung unter ein höheres Prinzip hatte werden lassen. Identifikation wie Deren sie für ihr Kino braucht, ist einfach ein Prozess der Verwandlung: „Identification – the idea of becoming something else – is a democratic, not a hierachical concept.“24 Genauso wie sie diese Prozedur filmisch, nämlich über Modifizierungen des Raums und des Räumlichen realisiert, läßt Deren im Film nicht eine Heldin sich verwandeln, sondern zeigt die Interferenz zwischen Umwelt und Wahrnehmung als konstituierend für Subjektivität im Kino „ ... nicht nur auf die Art wie der Mensch sich der Aufnahmeapparatur sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt.“
Der Film RITUAL IN TRANSFIGURED TIME (R: Maya Deren, USA 1946), dessen Erzählstruktur sich als kinematographische Transformation einer Witwe in eine Braut beschreiben ließe, zitiert explizit eine historische Raumrevolution in der Kunst. Inspiration zu diesem Film war Marcel Duchamps Bild Le Passage de la vierge à la mariée. Wie La Mariée mise à nu par les célibataires, Le Roi et la reine entourés de nus vites und schließlich dem berühmten Nu descendant un escalier gehört es in die Serie seiner Phasenbilder, die alle Bearbeitungen der Serien von Étienne-Jules Marey sind.25 Duchamps Passage von der Jungfrau zur Braut sollte nicht mehr marianisches Mysterium, sondern technische Transformation zeigen. Wie alle seine Phasenbilder ist auch diese Passage ein Bild, das die Modifikation der Körper durch die Abbildungstechnik zum Thema macht und reinszeniert: als Irritation des Raumes. Er wiederholt die zeitliche Zerlegung, die die Abgebildeten in der Chronophotographie zu Studienobjekten der Physiologen, aber auch zu Überindividuen machte, die in ihren eigenen Spuren schwebend sich ausbreiten: omnipräsent und von keinem Leib gehalten. Andererseits setzt Duchamp die visuell stotternde Bewegungswahrnehmung aus der Chronophotographie so in Malerei um, daß die Betrachter zu unwillkürlichen Voyeuren einer Hochzeitsnacht werden, weil und während ihnen das ganze Gezitter, Gezappel, Gerutsche und Gedrehe vor Augen gezaubert ist. Duchamps Vergnügen war es auch hier, den fixen Blick der Voyeure selbst in Bewegung zu versetzen, und insofern den Betrachter zum Subjekt und Objekt der transformierenden Abbildung zu machen, ihn in seinem scheinbar gesicherten Betrachtungsraum vor dem Bild zu verrücken.
In einem kurzen Film, A STUDY IN CHOREOGRAPHY FOR CAMERA (R: Maya Deren, USA 1945), den Deren 1945 drehte, ist es nicht mehr die Identität eines Tänzers, — Talley Beatty in diesem Film — sondern die Kontinuität eines Tanzes, der die Raumanschlüsse im Film herstellt.26 Der Tanz und der Raum, den die Kamera choreographiert, ist eine symbiotische Funktion von Mensch und Maschine:
Moreover, [the dancer] shares with the camera, a collaborative responsibility for the movements themselves. This is, in other words, a dance which can exist only on film.“27
Aber nicht nur in der Aufzeichnung, auch in der Projektion ist dieser Tanz ein Gespinst, das entsteht, wenn sich der Zuschauer dem technischen Zeitraum im Kino überläßt. Wenn Talley Beatty am Ende zu einem letzten großen filmisch zusammengesetzten Sprung anhebt, so daß auf der Leinwand Kopf, Rumpf, Beine und zuletzt die Ferse nach oben aus dem Bild fliegen, werden die Zuschauer bereits durch diese erste Bewegungsphase getäuscht, denn sein Absprung ist eine rückwärts in den Film geschnittene Landung, ein rückwärts einmontiertes Fallen. Da der Sprung jedoch weitergeht, bleibt vom Anfang nur der Eindruck eines besonders beflügelten Abhebens. Zuletzt sind die verschiedenen Bewegungsphasen eines Sprunges, die als Silhouetten gegen den Himmel gedreht sind, zu einem fast 30 Sekunden langen Schweben im Raum aneinandergeschnitten, bevor der Tänzer endlich landet. Die Kamera konstruiert die Wirklichkeit eines künstlichen kinematographischen Sprunges und zugleich eines Raumes, der durch filmisch realisierte Blickstrukturen entsteht. Beattys Sprung, der eigentlich, wie ein Kritiker anmerkte, Derens Sprung war,28 wirft die Marionetten-Theater-Frage auf, wessen Bewegungen die Bewegungen sind, die wir auf der Leinwand sehen. Und die Frage, wie der Raum beschaffen ist, in dem wir uns im Zeitalter der filmisch reproduzierten Wahrnehmung im Kino aufhalten. Deren reflektiert die Mensch-Maschine-Aggregate ihrer Zeit, der vierziger Jahre, die als Steuerungstechniken ja nicht ästhetische sondern soziale Steuerungs- und Kontrollverfahren werden sollten. Anders als bei Trinitys Sprung in MATRIX werden die Konstruktionsverhältnisse zwischen Raum, Körper und Medium in Derens Filmen ständig reflektiert. In ihren Experimenten macht Deren auch das Ephemere geltend, das Nicht-zu-Verortende, das Fallen, Straucheln, Schweben in einer kybernetisch konstruierten Welt, und damit ihre Möglichkeit, neue Relationen und Körper zu imaginieren. Kybernetik als einfache Regierungs- und Regelungswissenschaft sollte damit gestört und für ein exzentrisches, zielloses, target-loses Verhältnis zwischen Menschen und Umwelt angeeignet werden.29
Seit ein paar Jahren ist die Rede von einer entschiedenen Renaissance des "Raums" in allen Wissenschaften.30 Allerdings muß man die rezente Renaissance wohl mindestens seit 1967 datieren, als Foucault anläßlich eines Vortrages am Cercle d'Etudes Architecturales in Paris am 14. März 1967 sein Konzept der Heterotopien vorstellte und in einer Metaphorik, die alle Kulturhistoriker sofort an die elektronischen Rechner verweist, erklärte,
die aktuelle Epoche (ist) eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtapositionen, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickeltes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. Vielleicht könnte man sagen, daß manche ideologischen Konflikte in den heutigen Polemiken sich zwischen den anhänglichen Nachfahren der Zeit und den hartnäckigen Bewohnern des Raumes abspielen.31
Historisch wirkt Foucaults Text schon, weil er Epoche, Welt, Netz und Leben im Singular formuliert.
Gut dreißig Jahre später konstatiert die Kunsthistorikerin Elisabeth von Samsonow, daß die Raumwahrnehmungen inzwischen asymmetrisch, oder, um eine temporale Metapher zu benutzen, asynchron, unpassend oder wenigstens hybrid geworden sind.
Es gibt eine Raumkrise. Es scheint ganz so zu sein, daß die zur Verfügung stehenden Bilder und Konzepte des Raumes mit der aktuellen Raumerfahrung nicht mehr übereinstimmen, daß die jeweilige allgemeine, individuelle oder auch in bestimmten Gruppen organisierte Performance mit der Vorstellung dessen, was ein Raum sein soll, erheblich zu divergieren oder auseinanderzuklaffen angefangen hat. Deshalb muß es einen neuen 'Angriff' auf den Raum geben, und zwar natürlich ‚von unten‘, von einer ‚Basis‘ aus, von seiner Werk- und Produktionsstätte her, also von dort her, wo er immer schon ursprünglich gemacht worden war. (...) Die Raumgeschichte muß als Werkzeuggeschichte, als Instrumentengeschichte, als Maschinengeschichte, als wirkliche Produktions- und Erfindungsgeschichte, als „Universalgeschichte der Kontingenz“ (Deleuze/Guattari) geschrieben werden.32
Für die Filmwissenschaft hieße das, historisch die Momente zu beschreiben, an denen chronofotografische oder filmische Verfahren die Wahrnehmung und die Erfahrung vom Raum einschneidend verändert haben — und damit das Verhältnis von Körperraum und Bildraum, die Möglichkeit der Relationen innerhalb des Bildes genauso wie zwischen Bild und Blick. Das Beispiel der filmisch abgebildeten Sprünge — der soldatische Sprung bei Marey, der analytische Sprung Vertovs, der schwerelose Sprung Talley Beattys bei Maya Deren und der Sprung Trinitys in der MATRIX, der den Raum im Sinne einer vollständigen Kontrolle zurechtbiegt, zeigt, daß immer alle angesprochenen Aspekte zugleich in einer neuen Qualität auf einander bezogen werden.
Inzwischen aber wäre den Überlegungen von Elisabeth von Samsonow noch hinzuzufügen, daß die Krise des Raumes einfache Distinktionen zwischen oben und unten, rechts und links, nah und fern nicht mehr zuläßt. Inzwischen wäre vielleicht zuzugeben, daß sich im Zeitalter des Computers nicht mehr, wie noch zu Zeiten Panofskys und Arnheims, in sorgfältiger Analyse bestimmen läßt, welche Kulturtechniken welche spezifischen Räume hervorbringen und welche Subjektivitäten und sozialen Systeme damit formiert würden. Die digital berechneten Konstruktionen des Raumes, in denen Übergänge gänzlich unbemerkt in kleinstteiliger Bildbearbeitung unsichtbar gemacht werden, nehmen ältere Medien und ihre spezifischen Räumlichkeiten in den Dienst, bilden hybride Räume. Ein guter Teil von MATRIX verdankt sich noch einstudierten Sprungtechniken aus der Akrobatik und Kampfkunst, die zuerst an einfachen Gummiseilen exerziert werden, dann in der alten Blueboxtechnik vor importierte Hintergründe gesetzt und schließlich mit den ineinandergerechneten Räumen der langen Kameraketten noch einmal gemischt werden. Eine Raumanalyse dieses Films müßte in einer Art Evidenz-Analyse die historischen Formen der Sichtbarmachung auseinandernehmen, um die historischen Schichten von Raumerfahrungen den narrativen Geschichten zwischen Menschen und Artifizieller Intelligenz zuzuordnen. Die digitale Gleichschaltung des Räumlichen auch im Kino öffnet die Augen für die historische Struktur, die dem luftigen Begriff des Raumes inhärent ist, für seine Verabschiedung als transzendentale Kategorie des Denkens, und für die sozialen und politischen Effekte, die seine Struktur zeitigt. Filmgeschichte zeigt auch, daß das, was als Raum zu untersuchen ist, immer schon die Interferenz von Körper und Blick impliziert. Die Frage, die aufzuwerfen bleibt, ist jeweils, ob die Konstruktion von Räumen auf die Vervielfältigung von Relationsmöglichkeiten zielt oder eine Unterwerfung unter angeblich unumstößliches Gesetz inszeniert.
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