Geoästhetische Reflexionen zu Kino und Gegenwart
Das Kino ist eine für die Moderne maßgebliche Raumtechnik, man könnte auch sagen: eine Kulturtechnik des Raumes. Viele seiner (Selbst-) Darstellungs- und Repräsentationsmodi lassen sich über ein Nachdenken seiner Verräumlichungsstrategien im Prozess der Produktion wie der Rezeption ganz gut einsehen. Warum jedoch Raum? Wo doch so viel bereits über das intime Verhältnis des Kinos zur Zeit geschrieben wurde. Das läßt sich am besten beantworten über ein Aufdecken dessen, was unter Raum zum eigentlichen zu verstehen ist.
Meine Raumwahrnehmung ist stets eine zweigesichtige. Mit dem einen nehme ich den Raum als physischen und drei-dimensional-euklidisch geordneten wahr. Mit dem anderen nehme ich Raum als relationalen und viel-dimensional-prozeßhaften wahr. Diesen zwei Wahrnehmungen entsprechen zwei Raumtypen. Auf der einen Seite der ‚absolute Raum‘ Newton's, der Behälterraum, auf der anderen Seite der ‚relationale Raum‘ Leibniz', der Beziehungsraum.
Ich befinde mich zu jedem Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle der materiellen Welt, des natürlichen, physischen Erdraumes. Dieser Punkt ist lokalisierbar. Er hat eine Adresse, es ist ein Ort, vielleicht eine Wohnung. Ich befinde mich in einem Zimmer. Dieser Punkt bedarf zum Zwecke meiner Lebensroutine, meiner Sicherheit einer Qualifizierung als Punkt eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. D.h. auch wenn ich zu verschiedenen Zeiten das Zimmer aufsuche, muss ich davon ausgehen können, dass es das gleiche geblieben ist, dass das Zimmer Teil eines objektiven Raumes ist, der sich nicht verändert und wenn, dann nur durch mein Zutun oder mit meinem Wissen. Der Raum bleibt der gleiche für Ereignisse, die zeitverschoben ‚in‘ oder mit ihm stattfinden. Raum hat in dieser Lesart immer den Charakter eines von aussen kommenden, objektiven Behälters oder Containers, der sich stets gleich bleibt und von seinem ‚Inhalt‘ unbeeinflusst ist. Und diese ‚Eigenschaft‘ liegt auch allem technischen Raum-Gebrauch zugrunde. Ein Kinoraum, der eine genaue Adresse in der Stadt hat, folgt bestimmten – den Standort und seine Funktionen betreffenden – physischen und technischen Standardisierungen.
Das gleiche gilt für die Zeit. Wenn ich mich in meinem Zimmer befinde, muss ich davon ausgehen können, dass das Zimmer neben mir, der Einkaufsmarkt in meiner Strasse, das Haus meiner Mutter, die Schule meines Sohnes zum gleichen Zeitpunkt die selben sind und bleiben, dass also die Orte veränderungsresistent sind und ich sie wiedererkenne. Auch die Zeit wird von aussen, objektiviert an unser Leben angelegt, auch sie ist absolut, d.h. den einzelnen Ereignissen und Orten übergeordnet.
Vor diesem Hintergrund, mit diesen Voraussetzungen der absoluten Zeit und des absoluten Raumes, passiert meine ‚euklidische‘ Raumwahrnehmung. Die selben Voraussetzungen gelten für die Konstitution dessen, was ‚logischer Raum‘ oder ‚sozialer Raum‘ heißen mag. Vielleicht kann man das Kant´sche A-Priori des Raumes und der Zeit in der "Transzendentalen Ästhetik" dieserart lesen, als formale Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung eines gänzlich anders motivierten, nicht-euklidischen, eines sozialen Raumes.
Das erste, was den sozialen Raum auszeichnet, ist, dass er nicht objektiv gegeben ist, sondern eine Subjektivierung durchläuft. ‚Subjektivierung des Raumes‘ bedeutet, dass sich der Raum kontinuierlich verändert, dass sich seine Elemente verändern, die Lage-Beziehungen stets neue Konfigurationen eingehen, das Gespräch schlicht ein anderes wird. Anders gesagt, sozialer Raum ist zu jedem Zeitpunkt ein besonderer und wird auch als ein solcher wahrgenommen. Die nähere Bestimmung dieses Raumes führt weg von der Newton'schen Physik zu G.W. Leibniz' Beziehungsraum.
„Place, trace, espace ne consistent que dans la vérité des rapports“1, nur in tatsächlichen Lage-Beziehungen existieren Raum, Spur und Stelle. Erst das Nebeneinander und Beisammensein der Körper und Dinge evoziert ihr relationales Verhalten und Handeln. Der Raum ist also die dynamische Beziehungsstruktur zwischen Körpern, die ständig in Bewegung sind. Oder, mit der Soziologin Martina Löw: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.“ (Löw 2001: 152ff) Den Raum als fließend-bewegtes Kontinuum von Beziehungen zu denken, heißt aber auch, dass es klüger wäre, von einem Raumwerden, einem Einräumen oder einer Verräumlichung zu sprechen, denn von einem substantivierten oder substantialisierten Raum-an-sich. Diese Verfahrensweise entspricht der im Englischen geläufigen Unterscheidung zwischen ‚space‘ und ‚spacialisation‘, oder der zwischen ‚order‘ und ‚ordering‘.
Raum, so Leibniz, ist „eine gewisse Ordnung, in der der Geist eine fortgesetzte Anwendung von Beziehungen begreift.“ (Leibniz 1966: 183) Der Raum ist die, von jedem einzelnen beteiligten Körper hergestellte Beziehungsstruktur zwischen den Körpern, welche ständig in Bewegung sind. Der Raum ist nicht das, was gegeben ist. Gegeben ist eine bestimmte Anzahl von Elementen, von bewegten Objekten. Diese stehen miteinander in Verbindung, bzw. werden durch sich selbst oder durch ein technisches System, ein Verwaltungssystem, ein ökonomisches System miteinander in Beziehung gesetzt. In meiner Arbeit wird die film- bzw. medientechnisch implementierte Beziehungsstruktur zwischen Elementen besprochen. Erst wenn sich eine solche Beziehung manifestiert, also die einzelnen Teile miteinander in Kontakt treten oder beginnen, sich zu beeinflussen, kann man von einer Verräumlichung sprechen, von einem Raumwerden, einem Bilden eines Raumes. Diese Raumentfaltung beginnt für alle Elemente Bedeutung anzunehmen, d.h. sich als Raum zu artikulieren, also den einzelnen Elementen oder Körpern die Räumlichkeit als Mehrwert ihrer Interaktionen zu vermitteln. Da sich die Körper der Dinge und Menschen unaufhörlich bewegen, verändert sich auch die Raumordnung, die Anordnung der Dinge und Körper, verändern sich also auch die Bedeutungen, die mit Raum für das Handeln der Subjekte entstehen. Der Raum ist als fließend-bewegtes Kontinuum zu denken, also eigentlich als Verbum: räumen. Wo sich Körper aufeinander beziehen ‚räumen‘, verräumen, räumen sie sich ein, bilden ein Räumliches2.
Ich möchte das bisher Ausgeführte im folgenden an zwei weiteren Begriffen verdeutlichen, die den sozialen, also auch den filmischen Raum, um den es mir hier geht, definieren helfen.
Raum ist stets das Ergebnis, der Effekt einer Juxtaposition, also eines Nebeneinanderstellens, ist ein Aktivum, ein Prozeß, anders formuliert: Raum – als sozialer – ist das Ergebnis einer Koexistenz unterschiedlichster, vielfältigster Elemente, die als Räumlichkeit erster Ordnung wahrgenommen werden. Die vielleicht wichtigste Eigenschaft dieser ersten Ordnung der Koexistenz ist die Einführung der Differenz in die Qualität des Raums. Da Raum zunächst sich als ein Nebeneinander vielheitlicher Elemente definiert, ist es offensichtlich, dass die Differenz zwischen diesen Elementen eine tragende Rolle im Verständnis von Räumlichkeit als Prozeß der Bedeutungsstiftung spielt. Juxtaposition hat als ihren Gegensatz die Komposition, die aus dem Nebeneinander der Elemente bereits ein Einheitliches, Ganzheitliches, ein die Differenzen nivellierendes Gesetz zu machen verspricht. Assemblage wäre vielleicht noch ein der Juxtaposition vergleichbarer Begriff, der ja auch in der Kunst geläufig ist. Aber auch Simultaneität spielt in diese erste Betrachtung hinein.
Simultaneität, oft als Zeitbegriff im Sinne der Gleichzeitigkeit missverstanden, meint eigentlich eine genuin räumliche Operation. An einer Stelle, einem Ort treffen zugleich differente, von fremden Orten kommende Elemente ein und bilden einen eigenen – ortstranszendierenden – sozialen Raum aus. Dieses Verständnis von Simultaneität gelingt mit der Unterscheidung von Ort und Raum. ‚Ort‘ nenne ich hinfort den geographisch adressierbaren und physisch erfahrbaren oder/und gebauten Raum, ‚Raum‘ hingegen jenes relationale Gefüge, durch das sich Austausch und Ereignis motivieren. Wichtig ist, dass mit der Koexistenz heterogener Elemente, der Simultaneität unterschiedlicher Bahnen dieser Elemente, ein Fall gesetzt wird. Es ist der Fall, dass sich an diesem Ort, genannt Kino, eine bestimmte Menge unterschiedlichster Menschen treffen und einem ‚Ereignis‘ beiwohnen. Sie tun dies im Ausbilden eines eigenen, eigentlichen Kinoraumes, der sie als ein bestimmtes Kollektiv sich wechselseitig wahrnehmen lässt. Doch dieser Vorgang ist nur der erste Teil eines Prozesses, der sich erst in der Erzeugung einer Räumlichkeit zweiter Ordnung abschließt.
Die Räumlichkeit zweiter Ordnung läßt sich am besten mit dem Begriff der Koinzidenz begreifen, der das Zusammenfallen, das Zusammentreffen zweier Elemente meint, ihre Wechselbeziehung oder Interaktion. Bevor jedoch etwas koinzidiert muss von einem der räumlich nebeneinander positionierten, koexistierenden Elemente eine Inzidenz ausgehen, ein Ereignis sich manifestieren, das einen Vorfall, einen Zwischenfall, einen Einfall markiert. Zuallererst wäre eine solche Inzidenz die Manifestation eines Subjekts, das Angebot zur Kommunikation bspw. Die Koinzidenz ist dann das Aufeinanderbezugnehmen, reagieren, die Tatsache also, dass eine sozial-räumliche Spannung sich zwischen den Elementen aufbaut.
Man kann also von einem Dreierschritt berichten: Fall – Vorfall – Zusammenfall. Zunächst setzt sich der Raum im Nebeneinander der Elemente als Fall. Dann manifestiert ein Element sich als Ereignis, als Vorfall, auf diesen reagieren dann anderen und es passiert ein Zusammenfall. In beiden Ordnungen entsteht unaufhörlich Raum, besser Räumlichkeit, als Prozeß des Werdens, Räumlichkeit als stets unabgeschlossene. Im Gegensatz zum Newton'schen ‚absoluten Raum‘, der als objektivierter für alle zeitverschobenen Ereignisse der gleiche bleibt.
Wenn wir nun das Ausgeführte auf das Kino beziehen, so ist zunächst festzustellen, daß natürlich der gebaute, adressierte Kinoraum Voraussetzung für das Ereignis des Films als Herausbildung eines sozialen Raumes ist. Jedoch, auch wenn der physische Raum des Kinobaus die Filmprojektion als seine Funktion empfängt, so ist er dieser gegenüber dennoch indifferent. D.h. seine Anordnungen – Leinwand und Projektionskammer etwa – wissen zwar um die potentielle Existenz eines Bildes an jener Stelle, für ihre Verfasstheit als metrische, dimensional-ausgedehnte ist diese Stelle jedoch irrelevant. Sie berücksichtigen die Rezeptionssitutation als perspektivische Ausrichtung der Sitzreihen auf die Leinwand, schließen sich allerdings im Fertigstellen der Konstruktion mit dieser ab. Der geografisch präzise lokalisierbare Kinoraum interessiert sich nicht für das, was zwischen den Menschen in dem abgedunkelten Raum und der leuchtenden Wand, auf die sie gebannt starren, passiert. Er interessiert sich nicht für ihre visuelle Delokalisierung und ihre imaginäre Relokalisierung ‚im‘ Körper des Films. Kein Zuschauer, keine Zuschauerin wird sich während des Films der Adresse, an der sie und er sich befinden, vergegenwärtigen. Der gebaute Raum hat ja gerade die Aufgabe zu entweichen, zu desubstantialisieren im Gefolge der Einrichtung eines sozio-medialen Raumes, einer Geografie als nunmehr ausschließlich ästhetische! Der Beginn der Projektion statuiert zugleich den Aufbau eines leibnizschen Beziehungsraumes. Man könnte auch in einer Deleuze-Guattarischen Lesart sagen, der gebaute, gekerbte Raum ist conditio sine qua non für den glatten Affekt- und Ereignisraum, der sich mit der Zuschauermenge und dem jeweiligen Film etabliert. Jedenfalls ist die Projektion des Films die Inzidenz, das Ereignis, das sich Raum bahnt und den zusammen geführten Zuschauerinnen und Zuschauern anbietet, mit ihm zu koinzidieren, also eine Beziehung, eine Interaktion einzugehen. Mit der Projektion baut sich eine zweite Sichtbarkeit auf, die nunmehr die Aufmerksamkeit dominiert, eine Sichtbarkeit, die man auch als eine ‚geoästhetische Strategie‘ fassen kann, eine Raumoperation, die eine Ästhetisierung der Beziehung von Hier und Dort, dem sitzenden Schauen und dem Geschehen auf der Leinwand, insofern betreibt, als die physische Lokalisierung nun irrelevant wird und der soziale Raum sich ausschließlich als kinematographisch generierter, als ein ‚reiner und vielheitlicher Wahrnehmungsraum‘ präsentiert, ein Wahrnehmungsraum, den ein multiples Beziehungsgeflecht auszeichnet.
An dieser Stelle wird es notwendig, die Seite zu wechseln und zumindest kurz auf den Ursprung des multiplen Beziehungsgeflechtes in der Produktion des einzelnen Films selbst einzugehen. Es ist nicht sonderlich viel geschrieben worden über den ‚Raum des Kinos‘. Selbstverständlich referiert beinahe jedes Bild auf einen konkreten Ort, einen gebauten Raum, ob im Studio oder als Originalschauplatz. Im Einklang mit diesen ‚objektiven Räumen‘, den Orten, entsteht jedoch innerhalb der formal-ästhetischen und der narrativen Arbeit an der Einstellung zugleich ein genuin filmischer Raum, der zunächst von der Kamera, dann vom Schnitt und der Montage und zuletzt von der Menge an Zuschauerinnen und Zuschauern im Kinoraum bestimmt wird.
Die Filmkamera verfügt über die Akteure und den physischen Raum in der Tradition photographischer Aufzeichnung. Mit der Photographie entsteht ein neuer Raum. Aufnahme und Aufzeichnung beschreiben den technischen Vorgang – zum eigentlichen passiert ein Raumwechsel: das Individuum, das Ding vor der Kamera wechselt vom Hierraum in den Darstellungsraum des photographischen Bildes. Die vom Objekt reflektierten Lichtwellen werden übertragen in die optische Konstruktion der Camera Obscura. Diese folgt der im Quattrocento entwickelten zentral-perspektivischen Wiedergabe des Wirklichen. Mit ihr gelingt der präzise Ausdruck eines Bildraumes, damit die ‚vollständige Wiedergewinnung der irdischen Wirklichkeit im Bild‘. Daß wir das Bild wahrnehmen liegt daran, daß der für uns nicht wahrnehmbare Zeitmoment der Aufnahme (1:25 Sek. z.b.) in den zeit-resistenten Bildraum eingeräumt, in ihm also ‚bewahrt‘ wird. Derart vollzieht sich ein Raumwechsel, der auch Ziel des Unternehmens ist, denn im photographischen Bildraum verbleibt das Aufgenommene. Es ist nunmehr an zwei Orten gleichzeitig anwesend, an dem Ort, an welchem es sich gerade real-körperlich befindet und an dem, der vom photographischen Verfahren der Zeit entzogen wurde und der nun auf sein Entrée im Blick des Betrachters wartet. Denn erst im begehrlichen Blick des Betrachters etabliert sich der photographische Raum zur Gänze und der Betrachter wird Teil des Bildes. Der Bildraum sucht mich mit seinem Ereignis auf, will sich mit mir – als Ereignis eines Subjekts – in Beziehung setzen und mir ein Wohnen in ihm selbst anbieten.
Ab der Mitte des 19. Jhs. sieht der bürgerliche ‚Durchschnittsmensch‘ seine Existenz in zwei Bildräume hinein erweitert: In den auf die bürgerliche Identität in ‚Bildausweisen‘ aufbauenden Machtanspruch des Staates im Sinne der Kontrolle und der Disziplinierung und in den auf das zu bewahrende Selbstbild aufbauenden photographischen Familienalben, in denen der Einzelne die Intimität, das Bewußtsein seines Soseins rettet und bewahrt. Erstmals verräumlicht sich die Zeitlichkeit der eigenen Biographie in einer endlosen Kette photographischer Bilder.
Zurück zum Film. Auch den filmischen Raum kann man als ‚sozio-medialen Raum‘ bezeichnen, da er gleichfalls darauf angelegt ist, sich erst in der Lektüre des Zuschauers, der Zuschauerin als bedeutungsvoller abzuschliessen. Wie wir aus zahllosen Texten wissen, entscheidet die formal-ästhetische Gestaltung oft darüber, ob der Raum für die Zuschauer beispielsweise ein Raum der Kontrolle (des männlichen Blicks etwa) oder ein Raum der Liebe sein wird. Jedenfalls stellen das Zusammenführen, die geregelte Juxtaposition der Akteure, ihre Koexistenz in der Einstellung und der Sequenz und die Herbeiführung einer Koinzidenz, also das Initiieren eines das Kontinuum der Erzählung teils unterstützenden, teils durchbrechenden sich aufeinander Beziehens, die Grundanliegen jeder narrationslogischen Tradition in der Kinogeschichte dar. Der hierbei ausgebildete Beziehungsraum sucht in der Folge den Zuschauer, die Zuschauerin um sich seines Gelingens zu vergewissern oder sein Scheitern einzusehen. Gleichwohl muss immer wieder auf die ‚Subjektivierung‘ dieses filmischen Raumes verwiesen werden: ‚Subjektivierung des Raumes‘ bedeutet, dass sich der Raum kontinuierlich verändert, das sich seine Elemente verändern, die Lage-Beziehungen stets neue Konfigurationen eingehen. Anders gesagt, filmischer Raum ist zu jedem Zeitpunkt und für jeden einzelnen Zuschauer und Zuschauerin ein besonderer, besser ein singulärer und wird auch als ein solcher wahrgenommen, bzw. verstanden und je verschieden interpretiert. Die sich in jedem Kino ausbildende Öffentlichkeit ist denn auch keine determinierte, die regelhaft bestimmten ideologischen Implikationen des Films Folge leistet – sie ist gänzlich anders, nämlich irregulär motiviert, ist eine vitale Öffentlichkeit als „offene Ganzheit“ (Deleuze), die in sich widersprüchliche Ausdrucksformen anzunehmen in der Lage ist.
Mit der Projektion des Films richtet sich ein ‚glatter Raum‘ ein, der vom Ereignis oder auch Affekt des singulären Filmkörpers lebt und sich als Koinzidenz mit den Zuschauern sukzessive entfaltet. Innerhalb dieser großen Bewegung wird aber der Film formal und inhaltlich kleine Koinzidenzen erzeugen, die alle Beteiligten nun auch narrativ und ästhetisch binden.
Noch mal in der Zusammenfassung: Wichtig erscheint mir, dass der gebaute wie der soziale Raum des Kinos, der objektive, physische wie der subjektive, filmische Raum in einer kongenialen Wechselbeziehung zueinander dergestalt stehen, dass der eine, der umbaute Raum sich dem filmischen Raum gegenüber quasi hingebungsvoll verhält. Er nimmt sich gemäß seiner Funktion radikal zurück, verdunkelt und versucht, während der Projektion, so wenig wie möglich von sich kund zu tun. Der filmische Raum kann sich ungestört entwickeln, sein Werden ausspielen und an dem einen Ort des Kinos unendlich viele Raumidentitäten annehmen, also Beziehungsgeflechte auslegen.
„Le corps n'est pas dans l'espace, il habite l'espace.“ (Merleau-Ponty 1945/1992: 289) Der Körper ist nicht im Raum, er bewohnt den Raum, sagt Merleau-Ponty und erlaubt mit dieser Feststellung eine besondere Qualifizierung des sozialen Raumes. Diesen sozialen Raum gibt es nur, weil es den Körper, in der phänomenologischen Lesart, den ‚Leib‘, gibt, die Körper der Menschen, die sich nebeneinander befinden und ereignishaft in Beziehung treten können. Der Leib, so Merleau-Ponty, ist Subjekt des Raumes. (Merleau-Ponty 1945/1992: 290) Dieser wird nicht als ‚der‘ Raum wahrgenommen, sondern als je singuläres Raumniveau. Wir befinden uns stets auf einer bestimmten Raumebene, die wir wechseln können. Wir orientieren uns auf dieser Ebene. Merleau-Ponty exemplifiziert seine Überlegungen mit Beispielen aus psychologischen Wahrnehmungstests. Er geht quasi von Abweichungen aus, um die ‚normale‘ Raumwahrnehmung beschreiben zu können. Hier ein Beispiel aus Wertheimers Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung (Merleau-Ponty 1945/1992: 287): Ein Spiegel reflektiert ein Zimmer, so dass es um 45% geneigt erscheint und also für den Blick des Betrachters schief wirkt, die Dinge in ihm, ebenso wie eine Person, die das Zimmer durchquert. Nach einigen Minuten kippt das Wahrnehmungsbild, versetzen sich die Elemente wieder in die Vertikale und der Betrachter sieht das Zimmer im Spiegel ‚normal‘, nun mehr auf einem anderen Raumniveau. Jedoch gelingt die Orientierung in dem Spiegel-Schauspiel nicht mit meinem Körper als solchem, als Ding im objektiven Raum, sondern mit meinem Körper als einem „System möglicher Aktionen“, einem „virtuellen Leib, dessen phänomenaler Ort bestimmt ist durch seine Aufgabe und seine Situation.“ „Nach einiger Zeit“, so Merleau-Ponty,
geschieht dieses Wunder, dass das reflektierte Zimmer ein Subjekt evoziert, das befähigt ist, dort zu wohnen. Der virtuelle Leib umarrangiert, verschiebt den realen Körper dergestalt, dass das Subjekt sich nicht mehr in der Welt empfindet, wo es tatsächlich ist – und statt seiner wirklichen Arme und Beine spürt es jene Arme und Beine, die notwendig wären, um in dem reflektierten Zimmer zu handeln – er bewohnt das Schauspiel. (Merleau-Ponty 1945/1992: 289. Übersetzung: M. R.)
Mit dieser wichtigen Einsicht, zum einen in die Existenz unterschiedlicher Raumniveaus, zum zweiten in die Existenz eines ‚virtuellen Leibes‘, der stets schon unsere Alltagswahrnehmung begleitet und, als drittes, in das von den Bildern formulierte Angebot, in ihnen zu ‚wohnen‘, gelingt eine vollkommen neue Perspektive auf das Verhältnis real/virtuell. Wenn der ‚reale‘ Körper stets auch schon ‚virtueller Leib‘ ist, dann lässt sich ein neues Verständnis medialer bzw. ‚virtueller‘ Räume, bzw. der ‚Wohnbarmachung‘ dieser Räume erarbeiten. Denn mit der Eigenschaft ‚wohnen‘ lässt sich der vorhin besprochene relationale Charakter des sozialen Raumes gut verbinden. Wohnen heißt Beziehungen zwischen Elementen an einem Ort aufbauen. Und jedes mediale Raumniveau entwirft eine besondere Beziehungsstruktur von Bild und Betrachter. Der photographische und filmische Bildraum (und ebenso das Fernsehen und das Internet) evoziert in dieser Lesart ein Subjekt, das befähigt ist, dort, im Bildraum, zu ‚wohnen‘, also Kontakt aufzunehmen mit den Referenten des Bildes.
Der soziale Raum generiert Beziehungen, die innerhalb der Grenzen der Sichtbarkeit, der Wahrnehmbarkeit alle Anwesenden einbeziehen. Insofern ist auch der soziale Raum dem physischen Raum anhaltend als einer Ordnung der Sichtbarkeit verpflichtet. Kulturhistorisch entwickeln sich allerdings mit Beginn der Neuzeit und technisch realisiert ab dem 19. Jh. sozio-mediale Räume, deren wichtigstes Kriterium darin besteht, Sichtbarkeitsgrenzen zu sprengen und Beziehungen mit ‚Abwesenden‘ oder ‚Weit-Entfernten‘ einzugehen. Die Wahrnehmung sozio-medialer Räume passiert entlang ‚geoästhetischer‘ Strategien. D.h. entlang von Raumoperationen, die eine Ästhetisierung der Beziehungen – der Koexistenz und der Koinzidenz – insofern betreiben, als die physische Lokalisierung nun irrelevant wird und der soziale Raum ausschließlich als medien-technisch generierter Raum, also, wenn man so will, sich als ‚reiner Wahrnehmungsraum‘ in Benutzung befindet. Alle technischen Bilder entwerfen ein Raumniveau, auf welches mein virtueller Leib mit Aktionen reagiert, die ein zukünftiges Mitwohnen ermöglichen sollen. Das Raumniveau eines Photos, eines Films, einer Fernsehserie, des Internet, sie alle unterscheiden sich nicht wesentlich von einem Raumniveau des ‚konkreten‘ sozialen Raumes. Stets ist der virtuelle Leib aufgerufen, mögliche Verschiebungen in den Relationen aufzugreifen, evoziert das neue Raumniveau eine Inbesitznahme der Welt durch meinen virtuellen Leib. Es ist von einer strukturellen Gleichwertigkeit von sozialem und sozio-medialem Raum auszugehen.
Für die mit Medientheorie Vertrauten wird sich spätestens hier eine Irritation breitmachen. Nehmen wir ein Beispiel von vielen:
Das Echtzeit-Bild (des Fernsehens) simuliert räumliche Nähe bei realer Ferne – simuliert Intimität bei realer Öffentlichkeit der Fernseh-Institution – simuliert Öffentlichkeit bei realer Privatheit der Betrachter-Situation (...) Wenn jedem dieser Räume ein spezifisches soziales Verhalten, eine spezifische soziale Wahrnehmung und Kommunikationsform kollektiv zugeschrieben war, so sprengt die Simulation des Fernsehens diese bürgerlichen Codes und setzt an ihre Stelle das simulatorische Als-Ob. (Großklaus 1995: 130)
Tatsächlich rede ich nicht von einer „Simulation von Nähe bei realer Ferne“, von einem „simulatorischen Als-Ob“ (Großklaus 1995: 130), sondern von einer Verschiebung der Raumniveaus, nehme also, wenn man so will, eine ontologische Gleichwertigkeit an zwischen dem, was z.B. im ‚Fenster‘ des Fernsehens zu sehen ist und dem, was sich meiner Primärwahrnehmung als sinnliche Gewissheit darbietet. Das scheint auch ganz gut zu funktionieren, denn alle Manipulationen und Täuschungen, die offensichtlich mit dem Fernsehbild tagtäglich einhergehen, werden ob der für die meisten einsehbaren Qualität des Raumanschlusses – also der Teilnahme an der Welt als Fall – als ‚notwendiges Übel‘ in Kauf genommen, korrigiert oder einfach ignoriert. Raumwahrnehmung, verstanden als Konstruktion und Teilhabe an einer sozio-medialen Beziehung weltweiter ‚Partner‘, ist elementarer als Bildfälschung.
Film im Fernsehen, das ist eine lang währende Beziehung, deren Eigenheit man vielleicht dann am besten versteht, wenn Fernsehen als eine besondere Raumtechnik verstanden wird, von der selbst die avancierte Fernsehtheorie in der Tradition von Raymond Williams und John Ellis nur selten berichtet. „Die normale Fernseherfahrung ist die des häuslichen Konsums einer Folge von Segmenten, die entsprechend der Serienlogik organisiert sind.“ (Ellis 2001: 58), schreibt John Ellis und trifft damit, in Übereinstimmung mit seinen Überlegungen zum „Effekt der Unmittelbarkeit“ und der Ko-Präsenz, den wohl wichtigsten Charakter der „Sozialtechnik“ Fernsehen. Viele von Ellis Analysen treffen auch auf die ‚Serie‘ Kino im Fernsehen zu, die, auch wenn nicht vergleichbar nach Segmenten organisiert wie bspw. eine Soap, einer ähnlichen Rezeptionssituation begegnet: im privaten Haushalt, auf wenige viewer verteilt, geringe Aufmerksamkeit, kleines Format, wird eher mit einem flüchtigen Blick, dem glance, denn einem konzentrierten, dem gaze, angeschaut. Das alles ist wesentlich, doch es fehlt m.E. die Betonung auf die vollkommen andere Raumlogik des Fernsehens, dem sich auch das Kino zu unterwerfen hat. Fernsehen ist eine Übertragungstechnik. Damit eine Anschlußtechnik. Fernsehen benötigt keinen eigens errichteten ‚Fernsehraum‘, wie das Kino, da es den Viewer dort abholt, wo dieser sich tagtäglich befindet, in seinem privaten, bürgerlichen Lebensraum. Von diesem ausgehend und in diesen zurückwirkend unterstützt das Medium eine Bedürfnislogik, die den einzelnen Konsumenten an für ihn elementare Orte ‚da draussen‘ anschließt. Diese sind zum einen Konfliktorte, zum anderen Zufluchtsorte. Konfliktorte, das meint all jene zahllosen Adressen im Fernsehregime, wo sich die Welt als Menge an Abweichungen, an Problemen, an Unfällen, an Kriegen spiegelt. Zufluchtsorte, oder die ‚gnostische Qualität‘ des Fernsehens, das sind jene unzähligen Orte, an denen sich das Belanglose, das Spielerische, das Interesselose spiegelt. Natürlich gibt es auch Mischformen, sogar sehr viele, in denen kongenial Zuflucht und Konflikt sich ergänzen, ALLY MCBEAL (R: David Kelley, USA 1997-2002) zum Beispiel oder SEX AND THE CITY (R: Darren Star, USA 1998-2004)! All diesen Formen und Formaten ist zu eigen, dass sie die Annexion des Einzelnen an für ihn fremde oder andere Orte betreiben, damit soziale Räume ausbilden, die überlebens- oder kompensationsrelevant sind. Man könnte selbst von einem Nachrichtenstudio behaupten, dass es zwischen dem Segment ‚daheim‘ – das, die Unordnung kompensierende Studio – und den Segmenten fremder, teils bedrohlicher Orte beständig alterniert. Und wo bleibt das Kino?
Das Kino ist im Fernsehen nie allein, es ist stets Teil oder Teilchen einer sowohl synchron – auf anderen Sendern – vorhandenen Menge an ähnlichen oder sehr verschiedenen Formaten, als auch diachron vorhandener Serien, die ihm voraus gehen oder ihm folgen. Und von diesem doppelten ‚flow‘ hat jeder Zuschauer, jede Zuschauerin Kenntnis. D. h. im Fernsehen ist der einzelne Film stets rivalisierenden, divergierenden Räumen ausgesetzt. Allzu oft wird ein Film als bloßer Zufluchtsort gewählt und ‚Konfliktfilme‘ haben wenig Chance. Egal, wichtig ist, dass auch die Rezeption des Films im Fernsehen einer zusätzlichen räumlichen Dimension begegnet. Sei es dass die Zuschauer stets am Sprung in andere Raumangebote sind, sei es, dass der Film stets so angeschaut wird, dass das hinter ihm arbeitende Regime omnipräsenter ist, als der Film selbst. Die Erwartungshaltung ist also weniger im ‚narrativen Bild‘ des Kinos befriedet, denn im Wissen um das Signal, das von einem anderen Ort ‚live‘ ausgestrahlt wird. So wie der Projektionist für das Gelingen der Projektion während der ganzen Vorstellung verantwortlich ist, sind das Fernsehregime und seine Techniker für die Übertragung eines Films verantwortlich, jedoch arbeiten diese nicht bloß für diesen einen Film, sondern 24 Stunden, also end- und zeitlos. Dies bedeutet, dass für das gesamte Fernsehverhalten jeder Zuschauer, jede Zuschauerin sich stets intensiver an das Dispositiv selbst anschließt, denn bloß an seine Inhalte, seine individuierten Produkte. Das merkt man vor allem daran, dass die Zufluchtsorte für viele ihre Entspannungsqualität so stark zeigen, dass sie quasi zum Einschlafen verpflichten. Und für die Konfliktorte, dass, weit über die Diskurse hinaus, mich die Bilder neuerlicher Attentate in Jerusalem ebenso verfolgen, wie die Ahnungen eines zukünftigen Krieges in Irak. Dieser Roh- oder Brutto-Wert des Fernsehens, um eine Formel von Roland Barthes für die Photographie aufzugreifen, ist es, der auch die Filme überlagert und der ihnen kein Freispiel mehr erlaubt. Eigentlich verwendet das Fernsehregime Filme mit der gleichen Indifferenz, wie es all seine anderen Segmente in Verwendung zieht. Hauptsache, der Anschluß ist und bleibt gewahrt.
Es passiert immer häufiger, dass grosse Studioproduktionen bereits vor ihrem offiziellen Kinostart in Europa auf Internetseiten zur Verfügung stehen, inoffiziell versteht sich und eigentlich auf einer Art Subinternet, von wo aus sie dann zur Gänze auf die eigene Festplatte runter geladen und entweder am Monitor oder per Beamer auf einer Wand auch von einer grösseren Zuschauerzahl angeschaut werden. Einfacher geht das ganze natürlich mit DVDs. Wie lässt sich diese Situation für den Film begreifen?
Im Unterschied zum Fernseher ist der Computer zunächst ein Werkzeug, eine Arbeitsmaschine. Der Computer ist befähigt, mathematische Simulationen zu visualisieren. Jegliche Programmiersprache, jegliche Software transformiert ihren Gegenstand – ob dieser nun ein Text, ein Photo, eine Technik, oder sonst ein Artefakt ist – in die vom Rechner ‚berechenbare Form‘. Die Programmiersprachen können also auf alle Dinge und Akte der Welt angewandt werden, vorausgesetzt diese liegen in digitaler Form vor. Ist dies der Fall, wird die Welt – die Welt digitaler Zeichen – beliebig modellierbar. Insofern kann vom Computer auch als ‚Möglichkeitsmaschine‘ gesprochen werden. Die Simulationen skizzieren eine mögliche Welt – ganz banal zum Beispiel ein Text in Arbeit – , die ‚Vorbildcharakter‘ für die vorliegende haben kann, also zukunftsrelevant ist. Graphical User Interfaces, graphische Benutzeroberflächen, konstruieren ein Raumsetting, das den User als aktiven Teilhaber mit einbezieht, bzw. sich allererst über dessen Bewegung und Kommunikation mit den Icons, den Buttons, dem Menu erschließt. Man könnte dieses Setting auch als ‚Diagramm‘ bezeichnen, als ‚diagrammatischen Raum‘, ein Raum, in welchem Bedeutung allererst aus den räumlichen Beziehungen der einzelnen Elemente zueinander entsteht. Der so gebaute ‚logische Raum‘, seine Wahrnehmung, verlangt vom Benutzer, von dessen ‚virtuellem Leib‘ eine aktive Perspektivierung, eine entschlossene Teilnahme – von der Texterstellung über einen Spielverlauf bis zum Erlernen bestimmter Fähigkeiten. Diese Teilnahme, dieses Arbeits- und ab und zu auch das Unterhaltungsverhältnis bestimmen zugleich das Anschauen eines Films auf dem Monitor. Denn dieser, der Monitor ist ja nicht, wie die Fernsehbildröhre oder die Leinwand einfach nur eine Projektionsfläche, sondern das Zentrum aller Tätigkeiten. Er ist jene Stelle, von wo aus die sog. virtuelle Raumwahrnehmung ihren Beginn nimmt, er ist jedoch nicht bloß ein Übergangs- oder Schwellenort ‚hinein‘ in eine andere Welt. Nein, der Monitor selbst ist bereits das Zentrum, die Mitte dieser Welt, ist reiner Tätigkeitsraum. Ein Link führt nicht in die Tiefe eines Datenspeichers, sondern das adressierte Element wird hervorgeholt, nach vorne gerechnet, bewegt sich zentripetal zum Interface. Die Bewegung ist also zum eigentlichen ein Sich-zeigen, ein Aktualisieren, ein am Ort des Monitors Sichtbarwerden eines Datenkörpers, einer Kommunikationseinheit. In diese Mitte des Monitors strömt mit jedem Link, jeder Verzweigung neues Material nach Vorne, verbindet sich das Aktuell-Sichtbare mit beliebig vielen anderen Knoten, ist der User und seine Repräsentanz im virtuellen Raum, der Cursor, gleich der Spinne zentraler Akteur und tatsächlich auch und zugleich zentrales ‚Opfer‘ der Datenströme. Genau diese Verräumlichung, diese Koexistenz von Sichtbarem und Unsichtbarem, das Nebeneinander und nicht Nacheinander von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft charakterisiert den sog. virtuellen Raum. Die gesamte Interfacelogistik, die Navigation ebenso wie die Grafik sind kontinuierliche Versuche, dieses Virtuelle verfügbar zu halten, bzw. die Beziehung von ‚virtuellem Leib‘ und ‚virtuellem Raum‘ aufrecht zu erhalten. Die Erfahrung eines anfang- und endlosen Arbeitens und Lebens im Hypertext stellt sich ein. Es ist
eine andere Art zu reisen und sich zu bewegen, von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, eher gehen und kommen als aufbrechen und ankommen (...) Die Mitte ist eben kein Mittelwert, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden. (Deleuze, Guattari 1992: 41-42)
So auch der Film. Denn prinzipiell kann die full-screen-version jederzeit zurückgesetzt werden auf ein kleines Arbeitsfenster, welches dann, neben anderen aktiven Zonen, einfach nur mit- oder nebenbei läuft. Der Film wird beschleunigt in dem Sinne, dass die Wahrnehmung auf ihn von jener Art ist, die die Maschine für alle ihre Operationen abverlangt: schnell, abtastend, absuchend, stets nur das Wesentliche oder das Ergebnis erblickend, immer in Relation zu vielen anderen Prozessen auf dem Desktop. Doch auch wenn der Film so wie im Fernsehen angeschaut wird, die sehr besondere Beziehung zum Rechner ist damit nicht aufgehoben. So wie das Fernsehdispositiv selbst der Grund jeglichen Fernsehens ist, so ist das Computerdispositiv selbst Grund für jegliche Nutzung des Computers. Computerdispositiv meint die sinnlichen wie kognitiven Beziehungen zum Apparat, die Summer aller Tätigkeiten, aller Akte, die an die Maschine übertragen werden, die Infrastruktur am Arbeitsplatz und die industriellen Herstellungsszenarien. Die ‚Unterhaltung‘, die mit dem Computer möglich ist und gesucht wird, die unzähligen Spiele zum Beispiel, die Sexseiten, die Chatforen und MUDs im Internet, sie sind ebenso die direkten Konkurrenten des Films, wie es jegliche Arbeitsaktivität ist, für die er genutzt wird. Insofern gilt für den Film ‚im‘ Rechner gleichfalls die Diversitäts-Diagnose: er ist eines von vielen Objekten in einem Raumverfahren, das sich in unserer Zeit ubiquitär setzt und vermutlich werden folgende Generationen viele Filme ‚auch‘ am Monitor, unter vielem anderen, sehen.
Wenn für Film im Fernsehen und Computer das Prinzip der Diversität unter je besonderen Voraussetzungen gilt, dann sollte man meinen, dass mit der aktuellen Tendenz manche Filmemacher und Filmemacherinnen ihre Filme lieber in Kunsträumen als Teil einer Installation ‚auszustellen‘ bereit wären, wo der Film selbst zu ‚räumlichen Ehren‘ kommt, denn sie in Kinos einfach nur zu zeigen. Wo, wenn nicht in Galerien oder Kunsthallen weltweit, gilt das Prinzip der Einzigartigkeit des exponierten Gegenstandes, genannt Kunstwerk?
Martin Arnold, experimenteller Filmkünstler, zeigte von Herbst 2002 bis Februar 2003 in der Kunsthalle des Museumsquartiers in Wien drei Installationen. Ich beziehe mich auf die Hauptarbeit DEANIMATED (R: Martin Arnold, Ö 2002) und zitiere aus dem Folder:
Martin Arnold unterzieht in seiner neuesten Arbeit DEANIMATED einen legendären amerikanischen Horrorfilm aus dem Jahre 1941 einer radikalen kinematographischen Operation. Die Schauspieler verschwinden mithilfe digitaler Techniken, der filmische Raum wird zum eigentlichen Hauptdarsteller in einer präzisen, absurd-witzigen Neuinterpretation. Aus dem Originalfilm The Invisible Ghost (...) wird bei Arnold eine Studie der fortschreitenden Auflösung des Schauspielerkinos.
Mit dem „filmischen Raum“ ist natürlich nicht der von mir bisher ausgeführte gemeint, sondern die konkreten Requisiten, die, da ja die Schauspieler gelöscht werden, progressiv sichtbarer werden. So lassen sich viele Wände und Tapeten bewundern, Küchengeräte und leere Stühle. Doch hat Arnold noch manches mehr eliminiert. Zum Zwecke seiner ‚Operation‘ musste der gesamte Film natürlich digitalisiert werden und Arnold beläßt den Film denn auch als digitalen – zu sehen ist also eine DVD in der Projektion eines Beamers. Diese passiert in einem extra gebauten Raum, eine Art Kinosimulation, abgedunkelt und mit Sitzreihen und das ist denn auch die ‚Installation‘. Dort erfährt der Film DEANIMATED nicht das vorhin entworfene Zusammenspiel von Ort und Raum, von physischer Konstruktion und filmischer Relationalität. Denn die Besucher, sie streifen bloß die Kabine, kaum jemand, so die Beobachtung, der länger als wenige Minuten verweilt. Dabei hätte der Film tatsächlich das Zeug, eine umfangreiche Reflexion über das Schauspielerkino als solches zu initiieren, vorausgesetzt, man liesse den Film auf sich wirken, nicht nur den Film natürlich, sondern die Extraktionen, die Löschungen, die erzeugten Leerstellen Arnolds, die ja einem Kompositionsprinzip folgen, und dieses beginnt mit dem ersten und hört mit dem letzten Bild auf! Jedoch die Haltung, die Bereitschaft in einer Ausstellung diese Koinzidenz zu suchen, sie mit einer hierfür notwendigen Disposition herbei zu führen, diese Bereitschaft ist im Kunstraum gerade mit DEANIMATED nicht gegeben. Da geht es den beiden kleineren Installationen schon besser, denn diese sind innerhalb kurzer Zeit einsichtig, wirken schnell nach und sind somit kongruent zur ‚ästhetischen Blicklust‘ am zeitgenössischen Kunstort. Nicht nur ist die kurze Rezeption ausschlaggebend, auch die Haltung des Autors ist eine andere, sie transformiert den Film zu einem Material, das, zerstückelt und manipuliert, in einer Neukomposition als Fragment einer vollkommen anderen Produktionslogik folgt, einer Logik, die wir aus der Bildenden Kunst kennen. Hier zeigt sich also, dass der Film in einem für ihn fremdem Milieu genutzt wird, das gleichfalls fremde Rezeptionsbedingungen für ihn zur Geltung bringt. Er reauratisiert vielleicht im Herausstellen seiner Einzigartigkeit, die zumindest dann konkrete Form annimmt, wenn DEANIMATED an anderen Orten, Kinos z.B., gezeigt werden soll: der Preis, zu zahlen an die Kunsthalle, ist um ein vielfaches höher, als im normalen Filmvertrieb. Doch nutzt ihm diese wenig, da alle seine Verräumlichungen nicht gewährleistet sind: die Koexistenz aller Zuschauer gleichzeitig und konsekutiv in einer Vorstellung, die ereignishafte Koinzidenz mit dem Bild, den Bildern als solche. Den Kunstfilm DEANIMATED befällt also eine eigentümliche Deanimation, eine Entwirklichung seiner Vermögen, er wird dem Kunstraum als Ausdrucksraum unterworfen. Sein eigener immanenter, filmischer Ausdruck folgt jedoch einer vollkommen anderen räumlichen Logik.
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