für Karola Gramann
1Eine Kinowissenschaft scheint auszustehen. Zwar wurden in den letzten Jahren eine Menge lokaler Studien zur Kinogeschichte publiziert. Die Rückwendung auf die historischen Fakten zum Kino bleibt jedoch abstrakt, sofern ihr die Wahrnehmung des Kinos als eines geschichtlichen Phänomens mangelt, die die Filmwissenschaft sich unter dem platonischen Bild der Höhle und dem Begriff des Dispositivs verstellte. Die Wissenschaft geht von einer Fiktion aus, nicht von einer Wirklichkeit; daran ändert die positivistische Faktenforschung – wie schätzenswert sie in sich sein mag – wenig. Jene Studien sind erst die Aufforderung, eine vorurteilsfreie, eine ungebildete Wahrnehmung des Kinos innerhalb der Wissenschaft herzustellen. Diese suspendiert Wissenschaftlichkeit als Vorurteilsstruktur selber. Daher äußerte sie sich im Zusammenhang mit der Geschichte des Films immer dort, wo bewußt oder unbewußt gegen den Anspruch der Wissenschaft und der Wissensgesellschaft verstoßen wurde. Gibt es keine Kinowissenschaft, so doch eine dokumentierte Geschichte der reflektierten Kinowahrnehmung und Kinoerfahrung. Die lokalen Kinostudien stellen sich mit Gewinn in deren Tradition.
Man könnte aber auch umgekehrt argumentieren, nämlich, daß alles, was an Wissenschaft vom Kino überhaupt möglich ist, die Filmwissenschaft schon entwickelt hat; geht sie weiter, löst sie sich als Wissenschaft auf. Müssen wir uns dabei bescheiden? Oder nicht eher das Geheimnis lüften und in der Konzentration auf Filmwissenschaft als Kinowissenschaft – verbunden mit der Insistenz auf ihrer Unabhängigkeit gegenüber allzu fortschrittlicher Medienwissenschaft – eine Methode benennen, von innen aus der Wissenschaft herauszutreten? Damit nähme Filmwissenschaft den kritischen Faden der siebziger Jahre wieder auf: das ihre Erkenntnis leitende Interesse – um die damalige Sprache der kritischen Wissenschaftstheorie zu gebrauchen – ist die Emanzipation von der Vormundschaft der Wissenschaft über unsere sinnlichen, intellektuellen Fähigkeiten und die Möglichkeiten unserer leiblichen, leidenschaftlichen Wirklichkeit. Diese konservative Vormundschaft übt Wissenschaft nicht nur über die, die sie betreiben aus, sondern vor allem über das Alltagsleben in der westlichen Welt – mit einer Tendenz zur Globalisierung. Filmwissenschaft als Kinowissenschaft besteht darin, in jedem Augenblick ihrer Praxis diese Emanzipation zu versuchen. Das zeigt sich im Verhalten zum Film als Möglichkeit einer Rückkehr zur Lebensgeschichte, und es zeigt sich im Umgang mit Theorie, mit Philosophie und Wissenschaft. Dieser steht im Zeichen eines Vorrangs des Kinos und der Geschichte.
Aus dem Kino heraus gesehen, sind Wissenschaft und Philosophie in ihrer heutigen methodischen und sprachlichen, systematischen Reinheit und Abgeschlossenheit gegenüber den Unsicherheiten, Abgründen, dem Schmutz des Alltagslebens uninteressant. Doch in ihren geschichtlichen – und Geschichte ist immer auch Gegenwart – Manifestationen sind sie nicht identisch mit dem Ziel der Aufklärung und des Wissens, auf das hin sie in die Abstraktion getrieben wurden. Als geschichtliche Phänomene enthalten die Schriften von Wissenschaft und Philosophie ungeheure Möglichkeiten, die Nachtseite, das Off der herrschenden Geschichte zur Sprache zu bringen, dem das Kino entstammt.
Ganz fragmentarisch versuche ich zu skizzieren, wie die Wirklichkeit der ‚Höhle‘ Kino unter Mithilfe von Wissenschaft und Philosophie sichtbar werden könnte – jenseits des Bildes, das so bestimmend im wissenschaftlichen und im herrschenden gesellschaftlichen Umgang mit ihr wirkte. Ich will unterscheiden zwischen der Höhle als Raum und ihrer menschlichen Füllung. Als drittes Element gehört zum Kino der Film, dessen Wirklichkeit eben auch eine andere ist als die der platonischen, bloßen, unwahren, unguten Erscheinungen. In solcher Annäherung ans Kino wird der Film bewußt als sein Moment reflektiert, statt wie üblich umgekehrt, das Kino als Anhängsel des Films. Das verändert grundlegend das Nachdenken über Film.
Zur modernen Wirklichkeit des Kinos gehört allerdings nicht nur seine verborgene Geschichte, sondern auch der manifeste Umgang mit ihm unter dem expliziten oder impliziten Bild der ‚Höhle‘ – der Umgang bürgerlicher Individuen, aber vor allem auch der herrschenden Gesellschaft. Auch in dieser Hinsicht ist das Kino etwas nichtidentisches, in dem Konformität zu ökonomischer Herrschaft und technischem Fortschritt sich mit Oppositionellem, Subversivem, Emanzipatorischem mischen. Aus diesem Nichtidentischen kamen die Impulse zur kritischen Filmwissenschaft, die im übrigen ihren Blick auf die Identifizierung von Herrschaftsstrukturen richtete. Hier aber geht es um die Geste der Subversion.
Die Wiederentdeckung des Frühen Kinos hat grundlegend zur Sichtbarmachung des geschichtlichen Phänomens Kino beigetragen. Das Kino begann nicht als Institution der Höhle. Es fand zunächst statt im offenen Raum der – geistigem Anspruch fernen – körperlichen Vergnügungen: auf dem Jahrmarkt, in Varietés. Um die notwendige Dunkelheit herzustellen, reichte ein Zelt, das man an wechselnden Orten aufschlagen konnte. Das Kino tauchte als eine Gestalt der Populärkultur, der Schmuddelkultur des 19. Jahrhunderts auf. Aber zugleich wurde es der Beginn einer neuen, der Massenkultur. Es entwendete den Film seinem hochkulturellen, nämlich wissenschaftlich-technischen Entstehungszusammenhang, es kehrte ihn auch ganz wörtlich um, indem es den Aufnahmeapparat zum Projektor definierte. Mit solcher ‚Subversion‘ eroberte der Film die Massen. Es ist von Romantikern wie Béla Balàzs nicht unbemerkt geblieben, daß in der Gestalt des Kinos etwas wie die verlorene Volkskultur im Zeitalter der Masse wiederkehrt. Die Filmwissenschaft der 1990er Jahre ging diesen Zusammenhängen nach, indem sie neben den Ahnherrn des Films, die Camera Obscura als Repräsentanz der gesellschaftlichen Herrschaft, die Mutter des Kinematographen, die Laterna Magica als Unterhaltungs-, Lehr- und Täuschungsmittel stellte.2 Doch das moderne, massenkulturelle Kino entstammte eben gerade nicht der Geschichte der optischen Instrumente. Um das vor Augen zu führen, muß man nach Quellen in der Geschichtsforschung suchen, die sich dem Off der Geschichte des Bürgertums widmen.
Darf man der Rabelais-Lektüre Michal Bachtins trauen – und sie hat eine Überzeugungskraft, die nicht nur philologischer und historischer Genauigkeit entstammt, sondern einer leibhaften und sich geschichtlich wahrnehmenden Menschlichkeit, die auf eine unmenschliche politische und gesellschaftliche Situation antwortet – dann hat das Kino zutiefst mit einer Kultur neben der herrschenden zu tun.3 Diese Kultur entfaltete sich in Spätmittelalter und Renaissance zu großer Blüte, um dann schon im 17. Jahrhundert gebrochen, diszipliniert zu werden: die Lachkultur. Es ist eine inoffizielle Kultur neben der offiziellen, in ihrem Zentrum steht der Körper und seine Verbindung mit der physischen Welt. Zentrale Formmomente sind Umkehrung, Degradierung, Subversion. Das Hohe wird niedrig, das Geistige körperlich, das Herrschende ohnmächtig. Insgesamt emanzipiert sich in dieser Kultur das unterdrückte sinnliche Leben, der in der gesellschaftlichen Ordnung gefangene Mensch setzt sich wieder in Verbindung zum Kosmos. Insbesondere fällt die Ordnung nach Gegensätzen in sich zusammen: Geburt und Tod, Zerstörung und Erneuerung, Lachen und Weinen sind aufs engste verbunden. Der Tod wird zum Teil des Lebens, das Grab, die dunkle Höhle, die Hölle sind die Orte von Geburt, Erneuerung und Lebenslust. So wie ich einerseits aus der Kindheit die Angst vor dem dunklen Raum, der Präsenz einer diffusen Masse, beim Betreten des Kinos erinnere, so gegenwärtig ist mir andererseits immer noch die spätere unerhörte Erfahrung, verloren, verstört, zutiefst ermattet und verunsichert ins Kino zu gehen, um es ‚neu geboren‘, mit großem Wohlgefühl und wiedergefundener Lust zu verlassen.
Nicht nur Bachtins einzigartiges Buch, auch die Schriften Sigmund Freuds, Henri Bergsons, Helmut Plessners etwa zum Witz, zum Komischen, zum Lachen, lassen mich die Eigenheit des Kinos verstehen. Plessner zum Beispiel spricht von Situationen, in denen die Person zerbrechen würde, wenn nicht der Körper für sie darauf antwortete. Die Anziehungskraft des Kinos entstammt der Erfahrung, daß dort für kurze Zeit der Körper für uns antwortet und so auch uns als Person rettet. Der wieder und wieder bloß empfundene Raum des Kinos, Höhle, Vergnügungshölle, Grab der Kultur, wird allererst vorstellbar und im Rahmen wissenschaftlicher Forschung sichtbar als der einer inoffiziellen und vom physischen Leben nicht abgehobenen Kultur. Solche von Geschichte informierte Wahrnehmung bringt uns den im 19. Jahrhundert noch existenten, verstreuten und nicht völlig integrierten Elementen nichtbürgerlicher Kulturen – solcher vom Leben ihrer Träger nicht zu trennenden – näher, in denen das Kino gründete, und innerhalb deren es selber zur Ausdruckserscheinung wurde. Indem es ein fester, abgeschlossener, dunkler Raum wurde, stellte es Grab und Hölle als Orte der Neugeburt und Lebenslust dar. Weil sie es unbewußt so verstanden, gingen die Menschen massenhaft ins Kino und gingen immer wieder ins Kino. Etwas Unzeitgemäßes – mit Ernst Bloch zu sprechen – wurde wirksam.
Die ersten ‚ortsfesten‘ Kinos, zumindest wie sie im wilhelminischen Deutschland entstanden, machen aber auch noch einen anderen, zeitgemäßen Eindruck. An ihnen fällt auf, daß es sich nicht um eigens für den Kinematographen erbaute Räume handelt, also nicht um die Stein gewordenen Metaphern von Höhle, Hölle, Grab. Es sind leerstehende Läden, von der bürgerlichen, mittelständischen Nutzung entleerte Räume. Die entleerten Orte zogen von Anfang an Menschen an, die in den Wohnungen, in denen sie lebten, sich nicht zuhause fühlten. Konnten Männer in die Kneipe fliehen, so boten die Ladenkinos erstmals auch Frauen eine Alternative zur eigenen Häuslichkeit. Die von der mittelständischen Gesellschaft verlassenen Orte waren ob der Möglichkeit anziehend, dem eigenen Leben vor der herrschenden Ordnung – die bedrückend bis in die Privat- und Intimsphäre hineinreichte – nachzuhängen. Doch füllten die Kinogänger und Kinogängerinnen nicht nur den leeren Raum, sie machten ihn auch zu einem gesellschaftlichen; einem anders gesellschaftlichen. Davon gewann der Kinogänger, Filmkritiker und Theoretiker Siegfried Kracauer eine Vorstellung.
In den zwanziger Jahren, als es längst eigens für den Film errichtete Gebäude gab, sah Kracauer dennoch in ihnen die Substanzlosigkeit, die Leere wiederkehren: sie sind Orte der Zerstreuung, sie sind Obdach für gesellschaftlich Obdachlose. Vor allem der Mittelstand, der die kleinen Läden und Werkstätten aufgeben mußte, kehrt zurück, um das verlorene, persönliche Leben anders wiederzufinden: jenseits seiner Integration und Desintegration durch das Kapital in der Masse der Menschen. Der Mittelstand wird in seinem Verlust an Persönlichkeit für die Gestalt des Kinos prägend. Kinobauten der 1910er und 1920er Jahre ahmen teils unübersehbar die Höhle nach – so der Titania-Palast in Berlin mit seinen Rundungen, einer verwirrenden Fülle von Raumkurven, den tiefen, herabhängenden Seitenrängen und Wänden, die wie eine heruntergezogene Decke wirken. Aber aller, und gerade der neusachlichen Architektur des Kinos wird die gesellschaftliche Entleerung eingeschrieben: daher zum Beispiel ihr Kult der Fassade oder die Installation der Leinwand mit einer Andeutung von Bühne, wodurch sie zur Manifestation der Abwesenheit, des Abzugs von schauspielenden Menschen wird. Ja, die ‚Lichtspielbühnen‘, die ‚Filmtheater‘ sind viel weniger Konkurrenten zum Theater als Manifestationen, Spiegel der ästhetischen und gesellschaftlichen Entleerung seines Ortes, seines Raumes.
In den gesellschaftlichen Leerräumen entwickelte das Massenpublikum zeitweise eine gesellschaftliche Präsenz neben der herrschenden Gesellschaft. Es ist erschreckend, wie sehr kritische Öffentlichkeitstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg diese Geschichte ignorierte; wie sie im Interesse, die bürgerliche Öffentlichkeit über den Faschismus hinweg zu retten, der Verdrängung des Gesellschaftsbildenden des Kinos gefolgt ist.4 Diese Verdrängung hatte sich ökonomisch in der Abhängigkeit der Kinos von den großen Produktionsgesellschaften und in staatlicher Kontrolle niedergeschlagen, in der Schließung von Kinos, die schon in den fünfziger Jahren mit der Durchsetzung des Fernsehens begann; in der Zerschlagung der großen Kinos in die sogenannten Schuhschachteln während der siebziger Jahre. Die Multiplexe wiederum sind eher an der Architektur von Warenhäusern und Vergnügungsparks orientiert, denn daß sie die architektonische Gestaltung des Leerraums aufnehmen würden. Zum Beispiel fehlt die aufwendige Fassadengestaltung mit Lichtreklamen, Plakaten, Schaukästen ganz.5
Bis heute allerdings geht von leerstehenden Räumen ein Versprechen für die versprengten Subkulturen aus; Initiativen ihrer zeitweisen Besetzung kommen derzeit aus der Popmusik-, der Kneipen-, der intellektuellen, künstlerischen oder studentischen, zuweilen auch aus der Film-Szene.6 Der Leerraum des Kinos jedoch scheint mit dem Übergang des Films zum Fernsehen zerstreut, in viele kleine Kästen, in die man im Hellen schaut. Dem Angstmachenden der Höhle, beziehungsweise der Empfindung der Leere müssen wir uns nicht mehr aussetzen. Damit entzieht sich uns aber auch die Chance, unsere Angst oder öde Langeweile zu verlieren. Wenn das Kino sich in Fernsehen, Computer und digitale Reproduktionen diversifiziert, so löst es sich als Ort auf, an dem sich Menschen verschiedenster Herkunft und unterschiedlicher Stellung zur herrschenden Gesellschaft trafen, und eine andere Gesellschaft begann – wie es Kracauer für die zwanziger Jahre beschrieb. Das ist ein Verlust, den wir seit den sechziger Jahren erleben. Es scheint gleichzeitig, als würde das Kino in der Zerstreuung umgekehrt nun jedweden Ort, an dem wir uns gerade befinden, als einen von der Gesellschaft verlassenen definieren. Damit trägt es zur Angst und zum Horror Vacui bei.
Das Kino, um 1900 noch – mit Bachtin zu sprechen – unzeitgemäßer Ort der Lebenslust, wurde – Kracauer zufolge – im 20. Jahrhundert vor allem zu einem zeitgemäßen Leerraum, sinnfälliger Ausdruck der Entleerung traditioneller Orte der Kultur von gesellschaftlichem Leben. Von Außen gesehen, zog das Kino durch sein Ausdrucksmoment diejenigen an, die für ihr Gefühl der Leere keinen Ausdruck hatten. Gingen sie ins Kino, so mochten sie etwas von dem verlorenen gesellschaftlichen Leben wiederfinden. Was wird das Kino im 21. Jahrhundert werden?
Kino war nie der reine Ort des Filmsehens – der ‚Schmutz‘ der unaufgeklärten Massen gehörte zu ihm; zu ihm gehörten Störungen, die inneren oder äußeren Turbulenzen, denen das Sehen ausgesetzt ist, wie auch die Unaufmerksamkeit, der Rückzug in Schlaf, die Ablenkung durch die physische Präsenz des Kinonachbarn oder der Nachbarin, der Begleitung usw. Dieses gemischte Publikum schien einen von der Gesellschaft verlassenen Ort zum gesellschaftlichen machen zu können. Die sonst in ihrer Freizeit getrennte Wege gingen – im Kino kamen sie zusammen. In den zehner und zwanziger Jahren wurde solche Hoffnung bewußt. Vom Versprechen einer neuen, weltweitreichenden Familiarität jenseits der Privatsphären schreibt trotz der Erfahrung einer Transformation von Massenkultur in faschistische Propaganda und Kulturindustrie noch die Theorie des Films.
Für die Gesellschaft des Kinos ist Vielheit und Vielfalt entscheidend. Weder bildet sie sich aus einem einheitlichen Vergnügungsdrang, noch aus der Gemeinsamkeit im Mangel – sei es an Aufklärung, sei es an Lebensmöglichkeit. Aber alle suchen im Kino ihr Leben, das sie im Alltag vergessen müssen; ihre Kindheit zum Beispiel, den Traum und das Märchen – nicht den Mythos. Der Mythos wird nicht gesucht, eher erliegt die Trägheit des Lebens ihm – auch im herrschenden Kino. Das gesuchte Kino kommt der Lebensdynamik entgegen, es kommt denen entgegen, die eine andere Emanzipation vom Mythos praktizieren, als die Aufklärung darstellt, und die sich in dieser Emanzipation auch dem nicht mit dem Mythos Identischen der Aufklärung, der Augenlust, verbinden können. Im Kino findet darüber hinaus das im Fortschritt der Aufklärung verworfene Leben Zuflucht, wie das durch ihn in seiner Eigenheit verdrängte, halbierte, integrierte und kolonisierte Leben – der Frauen, der Arbeiter, der nicht westlichen Gesellschaften. Als sein bürgerliches Leben im Zuge der Modernisierung von der Gesellschaft verlassen wird, entdeckt der Mittelstand für sich das Kino. Er wehrt sich dagegen, daß seine Geschichte, Teil der Geschichte des Bürgertums, zur bloßen Privatgeschichte reduziert wird und bringt daher ein spezifisches Verlangen nach Geschichts- und Geschichtenerzählung mit sich: nach einer Geschichte des Humanismus, in der er sich endlich von dem Fortschritt des Kapitals emanzipiert. Daher die utopische Aufladung des Menschenbilds innerhalb einer Geschichte des narrativen Films, in der sich andererseits und zugleich die ökonomische Ordnung repräsentiert.7
Die subversive Fülle des Publikums kam schon im klassischen Hollywoodkino weniger als in den Zeiten des Stummfilms zur Geltung. Die Publikumsmassen wurden auf die mittelständische Hoffnung einer Befreiung des Menschlichen ohne Preisgabe ihres Menschenbilds hin orientiert. Die kommerzielle Filmproduktion heute wirkt ähnlich auf Vereinheitlichung hin – in der Reproduktion von Hoffnungsklischees wie auch in deren Desillusionierung und in den Bildern der Entmenschlichung. Doch entgleitet ihr die Masse, die sie führen soll, trotz des erheblichen Werbeaufwands für einzelne Filme. Nur die Anerkennung der Vielfalt und Vielheit, sollte man meinen, würde letztlich auch kommerziell sich auszahlen. Zur Zeit widmet sich ihr die schwache Bewegung der kleinen, unabhängigen Kinos, der ‚microcinemas‘.8 Die Anerkennung der Vielheit und Vielfalt des Publikums impliziert die der Kinos. Die technologische Entwicklung läuft dem entgegen: die digitale Emission von Filmen bedeutet eine Zentralisierung und globale Nivellierung der Unterschiede.
Was kann Wissenschaft mit ihrem theoretischen Hintergrund dazu beitragen, die Fülle des Publikums sichtbar zu machen? Sie vermag eine Wendung des Bewußtseins aus dem allgemein üblichen Verständnis von Film als Gegenstand heraus zu vollziehen und es so zu öffnen auf die Filmwahrnehmung und -erfahrung des Kinos als leibhafter Erinnerung hin. Die phänomenologische Abwendung vom wissenschaftlichen Objektivismus, von der Verdinglichung, zeigt immer noch und immer wieder einen Weg, das bewußte Sprechen für die Wahrnehmung aufzuschließen. Erinnerung selber ist jedoch etwas Unwillkürliches. Dem Unwillkürlichen Sprach-Raum geben – für dieses Projekt kennen wir im Umkreis der Wissenschaft nur die Psychoanalyse. Phänomenologie und Psychoanalyse enthalten ein Skandalon, das sie oberflächlich verbergen: sie schauen und hören auf das, was sich der verwissenschaftlichten Welt entzieht, was ihr widerspricht und daher beziehen sie ihre Weisheit. Ist es möglich, Wissenschaft als psychoanalytische Sitzung zu betreiben, in der wir sowohl der Analysierende als auch der Analysierte sind? Wenn nicht ihr bestes Teil, die Übertragungsliebe fehlen soll, so setzt die Übernahme dieses Modells voraus, daß wir unsere Forschung nicht alleine betreiben, sondern in einer Gemeinsamkeit, die es uns erlaubt, immer beide Rollen zu spielen. Wir können vielleicht die institutionell verordnete scientific community ebenso wie das verordnete Ausbildungsverhältnis durch eine Art Übertragungsliebe subvertieren. Nicht identisch mit ihm, würde sie an die Stelle des pädagogischen Eros treten. Die herrschende Form wird zum Spiel. Die gewollt analytische Haltung verliert in solchem Spiel ihre Dominanz gegenüber dem unwillkürlichen sprachlichen Ausdruck. Wir betreiben nicht Filmanalyse, sondern eine Art Übersetzung unwillkürlicher Erinnerungen in gewollte Beschreibungen der Wahrnehmungen eines Films. Das heißt, wir versuchen den einen Film in die Sprache einer Vielheit von Kinogängern zu übersetzen.
Damit öffnen wir den Raum der Wissenschaft, wir verstehen uns, die wir darin versammelt sind, selber nur als einen kleinen Ausschnitt aus der gesamten Vielheit des Kinopublikums. Wir verstehen uns aber damit auch allererst und grundlegend als ein spezifisches Publikum. Diese theoretische Entwicklung findet ihren Ausdruck darin, daß Filmwissenschaft sich praktisch in der Bewegung der ‚microcinemas‘ einfindet und so auch im Namen der Vielheit für die vom technischen Fortschritt überholten Formate des super 8-, des 16 mm-, des 35 mm-Celluloidfilms Partei ergreift. Solches Selbstverständnis ist der Beginn, die Beschränktheit ‚unserer Filme‘, unserer Filmwahrnehmung und Erfahrung zu reflektieren. Filmwissenschaft muß selbstverständlich auch gegen den Kanon und die Kanonisierung arbeiten, den die Bildungspolitik inzwischen wieder vorsieht.
Die Fülle der Filme in Geschichte und Gegenwart läßt sich nur sichtbar machen, indem wir sie als Moment des Kinos betrachten: und das auch ganz buchstäblich, indem wir sie im Kino sehen. Filmwissenschaft muß entschieden ins Kino gehen. Fülle gewinnt dann mehrfache Bedeutung: Zum einen sind Filme das Füllsel, die Füllmasse des Kinos, zum anderen entstanden und entstehen sie in großer Vielfalt und Fülle, und schließlich ist die Fülle der Filme ihr Inhalt, das, was sie als eine technische (Aufzeichungs-)Form füllt.
In den Anfangsjahren wurden die Filme von Kinogängern und Kinogängerinnen oft als nebensächlich wahrgenommen, es kam ihnen auf das Kino an. Sie suchten den Aufenthaltsraum als Wärmestube, als Ort des Ausruhens, des Träumens, einer sexuell empfundenen Körpernähe. Noch Altenloh schrieb 1913, daß viele Hausfrauen das Kino zunächst ohne Interesse an bestimmten Filmen aufsuchen, einfach, um einmal dem häuslichen Alltag zu entfliehen, und daß sie erst nach und nach auf ihren Filmgeschmack kommen.9 Als Füllstoff des Kinos stellten sich Filme auch unübersichtlich dadurch dar, daß sie als Menge kurzer Filme einen Kinoabend bildeten. Später erst wird die Präsentation eines bestimmten Films vom Kinobetreiber kultiviert. Die Entwicklung hat selbstverständlich auch ihre ökonomische Seite. Anfangs sind die Kinos die ökonomisch stärksten im Filmgeschäft, später werden es Verleiher und vor allem Produzenten.
Füllten kurze Filme das Kino der Anfangsjahrzehnte, so gewann die Fülle dort auch schon die Gestalt eines Programms. Dies orientierte sich an den unterschiedlichen Publika, die an einem Abend zusammenkamen und – wie ebenfalls Emilie Altenloh durch Umfragen feststellte – unterschiedlichen ‚Geschmack‘ hatten. Offenbar bot jedoch ein Kinoprogramm nicht nur für jeden etwas, sondern im Programmzusammenhang zeigte jeder einzelne Film das Potential, alle bei Laune zu halten. Das Kino bildete in der Fülle der Filme, die für es gedreht wurden, die Fülle des einzelnen Films aus, seinen Überschuß über das, was er seiner jeweiligen Form nach ist. Daher läßt sich gerade an frühen Kurzfilmprogrammen schon entdecken, daß der Fülle der Filme – in jeder Bedeutung – eine Qualität des Überschießens, Überschäumens, Überfließens in jedem einzelnen Film zugehört.
Filme bringen immer einen Überfluß gegenüber unserer Wahrnehmung von ihnen mit sich, der damit zusammenhängt, daß ich nicht allein mit ihnen bin, selbst wenn sonst kein Mensch sie mit mir sieht. Ich bin dann immer noch mit ihm im Raum des Kinos zusammen und die Menschen, für die dieser Raum da ist, sind in der Atmosphäre durch ihre Abwesenheit noch präsent. Dieser Überfluß jedes einzelnen Films eröffnet uns die Möglichkeit, unsere eigene Wahrnehmung und Erfahrung in ein Verhältnis zu der anderer zu setzen, die den Film vor mir oder mit mir gesehen haben, oder die ihn sehen werden. Das Kino bot sich also von Anfang an nicht nur als Raum der Selbstvergewisserung der eigenen leibhaft erfahrenen Lebensgeschichte an, sondern mit seinen Filmen auch als Befreiung von dem ständigen Zwang zur Selbstbehauptung. Es ermöglicht uns die Öffnung des eigenen Lebens in seiner Haltung auf die Haltungen anderer hin. Darin gründet letztlich auch die Bedeutung der Geste im Film.10
Deutlich öffnete das frühe Filmprogramm die Wahrnehmung der – nach Alter, Geschlecht, Klasse, Stand, (Alltags-)Kultur usw. – unterschiedlichen Publika für einander. Das geschah nicht über das Bewußtsein und seine Ausbildung zu einem demokratischen, multikulturell aufgeschlossenen und sich des Sexismus enthaltenden Repräsentanten der Person. Woher aber kam die überschießende Fülle der einzelnen Filme? Der Film-Gebildete ist geneigt, sie als ein Mehr des Films zu sehen, das seiner technisch-ästhetischen Form eigen ist. Der Inhalt einer Liebesgeschichte mag den Kinogänger langweilen, aber es ist die Form – Umgang mit der Kamera, die Lichtsetzung, die Montage und ähnliches –, die ihn fesselt. Das ist die Sichtweise derer, die den Film vom Kino isolieren. Der Überfluß entstammte jedoch nicht dem Medium an sich, er gelangte vielmehr über die Publika, die mit und aus ihren gewohnten Vergnügungsweisen ins Kino drängten, in die Filme: durch die Frauen, die in ihrer Freizeit Liebesromane lasen, die Knaben und Männer, die begierig nach den Kriminalheftchen griffen, die Arbeiter, die sich in ihrer Freizeit naturkundlich bildeten, die Bürger, die dem Naturgenuß sich hingaben oder zur Erholung ins Varieté oder ins Bordell gingen, Familien, die den Zirkus besuchten und so weiter.
Walter Serner bemerkte 1913, daß die Vergnügungsangebote seiner Zeit für die Masse der Menschen unbefriedigend blieben, einer ‚tiefen Schaulust‘, genügen sie nicht.11 Dieser jedoch kommt das Kino entgegen – so versteht er die einzigartige Attraktion, die von der neuen Einrichtung ausgeht. Es ist ein Überschuß an Sehnsucht, an Begehren, Lebensdrang über die Freizeiteinrichtungen der beginnenden Massengesellschaft, den das Kinopublikum mit sich bringt. Und es ist dann die Dynamik des Films, die den Resonanzboden für diesen jeweils ganz unterschiedlich bebilderten Drang bietet und – in Schwingungen versetzt – den Film über seine technischen und materialen Grenzen hinausschwingen läßt.
Es gehört zu der mit und nach dem Ersten Weltkrieg beginnenden Einflußnahme der herrschenden Gesellschaft auf das Kinopublikum – die wiederum über die Filmproduktion geschah –, daß mit ihr der Überschwang der Filme gebannt, stillgestellt wurde. Das geschah durch die Isolierung des narrativen Films aus dem Programm und von anderen Formen des dokumentierenden, des experimentellen, des wissenschaftlichen, des pornografischen Films etwa, es geschah durch die Standardisierung von Genres innerhalb des narrativen Films. Am Ende blieb nur noch das Genrekino übrig, während alle anderen Formen keinen Ort mehr haben sollten. Die Grenzziehungen stellten zwar das Überfließende der Filme still, aber sie repräsentierten zugleich noch den verdrängten Überfluß. In den Genreformen ist immer noch die Spur der unterschiedlichen Publika gegenwärtig, und sie können erneut in Schwingungen versetzt werden. Hollywood hat statt auf die Mischung der Filme im Raumerlebnis des Kinopublikums auf eine Mischung in seiner Zeit gesetzt. Heute schaut die Kinogängerin ein Melodrama an, aber morgen einen Kriminalfilm. Dazu muß sich in diesem jedoch auch ein Überschuß über die Repräsentation männlicher Wahrnehmung verbergen. Die Kritik an der Konstruktion der Hollywoodfilme auf einen männlichen Blick hin maß der anderen Seite dieser Konstruktion zu wenig Bedeutung zu: solche Filme ermöglichten auch, die weibliche Selbstbehauptung fallen zu lassen und sich der Erfahrung des Männlichen in seinem Überfluß zu öffnen – ohne sich ihm zu unterwerfen.
Auch innerhalb des Genrekinos gab es mindestens zwei Weisen, den Überfluß, den Überschwang des Films zur Geltung zu bringen. Zum einen war es möglich, mit der oberflächlich verdrängten filmischen Dynamik die bewußte Konstruktion zu unterlaufen, zum anderen aber, diese Dynamik in das Hervortreiben von Bildern an der Konstruktion und deren Übersteigerung ins Imaginäre zu investieren. In jedem formalen Exzess – der Starbildung wie der Genrekonstruktionen – kehrt ein Überschwang des Gehalts wieder. Schließlich aber begann mit der Austreibung von Dokumentarischem, Experimentellem, Pornografischem und so weiter aus den kommerziellen Kinos schon in den zwanziger Jahren die Entstehung anderer, kleiner Kinos, die sich den Ausgeschlossenen widmeten und eigene Kulturen des Dokumentarischen, Experimentellen, des pornografischen Films etwa hervorbrachten; es begann auch eine Kultur der Filmgeschichte mit Kinos, die sich den in der Vergangenheit produzierten Filmen widmeten.12 Es entstanden Kinos im Überfluß. Ihre Existenz machte die Fülle des Films, die zuvor bloß im Innern des Kinos als bunte Programmfülle erfahrbar war, nach Außen hin sichtbar. Nicht nur aber kehren die Kinoräume etwas von ihrem filmischen und menschlichen Inneren nach Außen, Kino selber wird aus dem bloßen Raum zu einer Zeit. Es präsentiert sich nicht mehr allein als verheißungsvoller Leerraum, sondern auch in seinem Programm und seiner Klientel. In der Gestalt von Programmkinos richtet es sich auf die Wiederkehr – des Publikums und der der Filme – ein. Auf diese Weise begannen Filme uns in ihrem filmgeschichtlichen Überfluß die Möglichkeit zu bieten, uns der Kinowahrnehmung und Erfahrung der Vergangenheit – oder der Zukunft? – zu öffnen. Diese Möglichkeit in der Kinoerfahrung zu realisieren ist umso wichtiger und Aufgabe der Filmwissenschaft in Forschung und Lehre, als zugleich die Filmgeschichte dazu beigetragen hat, unsere heutige Wahrnehmung zu standardisieren und damit unseren Blick zu verengen.
Filme zum Beispiel, die nicht für uns heute gemacht wurden, sondern für ein Publikum der zehner Jahre, finden nicht so leicht Eingang in das gegenwärtige Leben eines Kinopublikums. Sie haben einen gewaltigen Überschuß gegenüber dem, was wir auf den ersten Blick von ihnen wahrnehmen. Deswegen neigte man auch dazu, sie zu unterschätzen. Reflektieren wir aber die Grenzen unserer Filmwahrnehmung, entwickeln diese Filme beim Wiedersehen Einblicke in ein vergangenes Leben. Es vermittelt sich uns in unser augenblickliches Verhältnis dem Film gegenüber etwas von den vielfältigen Lebenshaltungen um 1900. Dasselbe, was man in dem geschichtlich Entfernten entdecken kann, geschieht aber auch in dem lebensgeschichtlich Nahen. Das Melodrama wird für ein männliches Publikum interessant, sobald es in ihm die Spuren weiblicher Träume und Empfindungen wahrnimmt, die sich Zuschauerinnen im Kino wieder holen. Ähnliches gilt für den Experimentalfilm beispielsweise, den meisten entzieht er sich, und er teilt mit den frühen Filmen das Schicksal der Unterschätzung. In ihrem verwirrenden Überfluß über die ‚normale‘, durch das narrative Kino standardisierten Filmwahrnehmung können sie uns jedoch die moderne ästhetische Haltung zur Wirklichkeit vermitteln, die wir nicht mehr oder auch – in ihrem utopischen Moment – noch nicht – haben.
Heute scheint der Zenit des Genrekinos überschritten. Nicht nur der Autorenfilm hat dazu beigetragen, auch Hollywood selber setzt auf Genremischungen, Spiel mit den Genregrenzen und deren Auflösung. Der hybride Film ist angesagt. Ausschließlich konfrontiert mit der Fülle der Filme, sei es in ihrer geschichtlichen Vielheit oder in der Vielfalt der Genres, verdrängt der hybride Film jene Fülle des Films, die wir als den Inhalt des Films verstehen können – als das, womit das Aufzeichnungssystem sich füllt. Auf ihn hat die Filmtheorie Siegfried Kracauers, die schon während des Niedergangs des klassischen Hollywoodkinos geschrieben wurde, seine ästhetischen und theoretischen Überlegungen gegründet. Mit dem Einzug von vorkinematographischen Unterhaltungsformen, mit dem Einzug der gesellschaftlichen Lebenserwartungen von Kinogängern und Kinogängerinnen in die Filme zugleich zog immer eine überflüssigerweise aufgenommene Wirklichkeit ein und bildete den eigentlich filmischen Inhalt. Die frühen Filmmacher widmeten sich den Attraktionen, die sie aus den Naturaufnahmen, den Liebesgeschichten, den Kriminalstorys und ähnlichem hervortreiben konnten. Im Zentrum des Hollywoodkinos wiederum standen die Schauspieler und Schauspielerinnen, mit denen das dem Einzelnen verlorene gesellschaftliche Leben ihm wiederkehrte. Immer jedoch enthielten die Aufnahmen mehr als das, worauf die Filmhersteller ihr Augenmerk richteten oder offiziell richten sollten.
Der Filmproduktion in ihren im Laufe der herrschenden Geschichte entwickelten Strategien der Unterwerfung des filmischen Überflusses korrespondiert der in der bestimmten Negation solcher Herrschaftsgeschichte gebildete Blick des kritischen Theoretikers auf die überflüssige Füllung, den eigentlich filmischen Inhalt: ein Blick, dem dieser Inhalt sich zum einen in den nicht den Vergnügungsformen zugehörigen Elementen des Films darstellt, als die ungeformte, ungestellte Wirklichkeit, zum anderen in den nicht von schauspielenden Menschen repräsentierten Phänomenen des Films. Auch in ihnen manifestierte sich ein Überschuß, nämlich der im Alltag verdrängten, nicht wahrgenommenen Wirklichkeit, einer von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossenen. Deren überschießende Fülle macht den Inhalt des Films zu mehr als einem bloßen Inhalt. Das Mehr ist jedoch nicht in seiner Form zu greifen – etwa im Licht, das von den Dingen auf den empfindlichen Streifen fällt, oder in der Hingabe der Kamera an das ungestellte Leben, an die Fülle der außermenschlichen Wirklichkeit. Allein wenn wir, das Publikum, uns mit dem Gehalt der Filme nicht begnügen, sondern uns deren Inhalten überlassen, die in uns überfließen, vermittelt sich uns die Wirklichkeit in ihrem umfänglichen, Mensch und Kosmos – hätte Bachtin gesagt – umfangenden Sinne. Das Kino, das sich durch die Hineinnahme von, in der bürgerlichen Gesellschaft versprengten, Formen des Vergnügens verengte, bewegt sich wieder ins Offene einer ‚unteren‘ Welt der menschlichen, leibgebundenen Möglichkeiten. Es folgt seinem eigenen Überschuß, die Kulturen von unten, denen es entstammt, schlossen sich in ihm nie zur Einheit einer neuen ‚Kultur‘ zusammen. Deswegen gehört zum Gang ins Kino der Ausgang aus ihm hinzu: beide bilden das, was Kino ist.
Bewegt sich seit den fünfziger Jahren der Kinofilm aus dem Kino heraus, so ließe sich darin auch eine Emanzipation von erzwungener Vereinheitlichung sehen, wenn denn die neuen Techniken jenem Überschuß ihr Echo, ihre Hingabe nicht versagten. Das heißt, vor allem wenn diese Techniken denen in die Hand gegeben wären, die aus dem Kino kommen. Auch dann ist der Film aber so wenig vom Kino zu abstrahieren wie von den Filminhalten, wie von der Vielfalt der Filme und der Publika, wie von der Wirklichkeit. Im gleichen Augenblick, wo die Verbreitung der Filme sich durch andere Techniken und in andere Räume hinein diversifiziert, muß man die Kinos und die ihnen eigene Vielfalt stärken, ihnen allererst wieder eine Autonomie verleihen. Das zu tun, ist auch eine Aufgabe der Filmwissenschaft, auch sie gehört jener Bewegung aus dem Kino heraus an. In ihrer Negativität präsentiert sich dieser Auszug im Anschluß an die Medienwissenschaft. Der Wissenschaftler verläßt den Ort des Kinos, an dem der Filmkritiker verweilte. Sein Ort kann aber dann, wenn er denn das Emanzipatorische des Kinos in der Bewegung aufnimmt, nicht die Institution der Wissenschaft sein, sondern nur die geschichtliche Lebenswelt. In ihr ist dem Filmwissenschaftler sein Gegenstand, das Kino, gegeben oder nicht – er muß sich dazu verhalten.
Siegfried Kracauer begann nach der Theorie des Films über den Historiker nachzudenken, dessen Gegenstand nicht nur die Lebenswelt ist, sondern dem selber Wissenschaft zu einer Lebenshaltung unter anderen wird. In dieser Haltung ist Wissenschaft aus einem Instrument zum Teil des Leibes geworden, eine Fortsetzung seines Vermögens Wirklichkeit zu erfahren – wie, nach Merleau-Ponty, der Stock dem Blinden.13 Die Haltung wiederum wird zum Übergang in die Geste des Bewegtwerdens von anderem Leben. Heute besteht die Problematik der Wissenschaft nicht mehr nur darin, daß sie sich instrumentell verhält. Zumal mit den Geistes- oder Kulturwissenschaften ist ein gravierendes anderes Problem hinzugetreten, nämlich, daß Wissenschaft als Haltung erstarrt und zur Erhabenheit über die bedrängende Wirklichkeit im Zeitalter ihrer – der Erhabenheit – Reproduktion wird. Weil es fast automatisch geht, tendiert der Filmwissenschaftler dazu, sich über die Zerstörung des Kinos zu erheben und zum Medienwissenschaftler zu werden.
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Gauthier, Christophe: La Passion du Cinéma. Cinéphiles, ciné-clubs et salles spécialisées à Paris de 1920 à 1929.
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, dt. Berlin 1966.
Serner, Walter: Kino und Schaulust (1913), wiederabgedruckt in: Kaes, Anton: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929.