In Träumen sind Verstorbene wieder da – auch im Traum wissen wir, daß sie eigentlich tot sind und wundern uns. Es kann sogar geschehen, daß man den Freund (oder Geliebten) im Traum lebendig vor sich hat und sich selber gleichzeitig über ihn weinen sieht – du siehst, wie du dich weinend und zärtlich über ihn beugst. Im Erwachen dringt der Film ins Bewußtsein, und die Tränen fließen.
Im Weinen, wie im Lachen, schrieb Helmuth Plessner, gibt der Körper eine Antwort dort, wo der bewußte Mensch versagt, nicht anders als versagen kann. Solche Einsicht rückt das Weinen von der bloßen Sentimentalität ab, dem Romantischen, Rückwärtsgewandten, der empfindsamen Innerlichkeit; sie stellt das Weinen dem so viel realitätstüchtiger, vitaler erscheinenden Lachen an die Seite. Weinen ist unsere körperliche Reaktion darauf, daß uns die Vergänglichkeit und so die Bewegung, die Bewegtheit des Lebens schmerzhaft angeht, auf die das Bewußtsein nur eine starre Antwort hat. Ihm entzieht sich die Realität.
Über dem Schmerz ist Weinen ein Glück: sich in dem Fluß zu finden, in dessen Namen sich Heraklit gegen die Seinsphilosophie wandte, und von dem Henri Bergson sprach, um sein Denken in Distanz zur modernen Wissenschaft zu setzen. Öfter allerdings wurde der tränenlose Schmerz als Probe auf männliche Stärke im Ertragen, auf die menschliche Fähigkeit, sich über leibliches Befinden zu erheben, gefeiert. Aber menschlich ist der Schmerz als Anstoß, sich im Weinen machtlos lebendig zu fühlen.
Hier und jetzt betreibe ich Filmwissenschaft an einer deutschen Universität, die den Anschluß an die Zukunft sucht. Zu Beginn, Anfang der 90er Jahre, bestand ich darauf, es mit einer Fröhlichen Wissenschaft zu tun zu haben, in der der Seminarraum mit dem Kino, das Kino mit dem Seminarraum getauscht wird. Heute fallen mir die einstürzenden Neubauten der Institution auf den Kopf. Insbesondere die Filmwissenschaft gibt allerorten dem Druck des Medienfortschritts nach und bricht als Raum für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Kräfte und Möglichkeiten des Kinos zusammen. Dem Druck standhalten scheint in eine "traurige Wissenschaft" zu führen – der Theodor W. Adorno die Minima Moralia zuschrieb –: nur die eigene Liebe zum Kino trägt noch die Reflexionen einer Praxis des Celluloidfilms. Aus der erhaben-melancholischen Erstarrung löst die Einsicht in das Inadäquate auch eines individuellen theoretischen Standhaltens, wenn es um das praktische Entschwinden eines Phänomens der Massenkultur geht. Eine traurige Wissenschaft, die sich am Ende selbst zurücknimmt, gibt der in ihr verborgenen Antwort der physischen Humanität Raum: dem Weinen. Worin die Theoretiker oder Theoretikerinnen ihre Auflösung, ihr Vergehen und ihre Bewegung erst wahrnehmen können, ihre physische Bewegtheit. Aus ihr kehrt die Möglichkeit eines Lachens jenseits des Zynismus zurück.
Zuallererst wird es ein Lachen über die Gestalt des Theoretikers selber. Alle Bildungsmühen, über die Abstraktion von der Welt zur Wahrheit zu gelangen, waren vergeblich. Am Ende bleibt die Lust, der Genuß des Schauens – den Theorie einmal versprach – aus. Wahrheit wird zur Konstruktion. Doch was alle individuelle Anstrengung nicht erreicht, stellt der Film lächerlich einfach her – die Position eines Schauens, das durch Abstraktion konstituiert wird. Im Kino fällt unserem Sehen die Trennung von der Wirklichkeit zu. Lassen wir uns von diesen Zufällen bewegen, kommt uns die Versteifung unserer Erkenntnisarbeit auf die begriffliche Abstraktion komisch vor. Von der mühevollen Geschichte der Philosophie bleibt jedoch nicht Nichts, sondern die Investition des Lebens in ein menschliches Verhältnis zur Wirklichkeit. Auch an dieses erinnert das Kino. Es entlastet uns von der Abstraktion; gleichzeitig aber scheint uns die Wirklichkeit von der Leinwand entgegen und bittet um Aufnahme.
Im zwanzigsten Jahrhundert machten sich einige wenige Theoretiker zu Fürsprechern der neuen kulturellen Wirklichkeit des Films und baten – wie Béla Balázs – für ihn um Einlaß in das Reich der Ästhetik, der Kunst. Schauen wir die kulturpolitischen Verhältnisse heute an, so sehen wir ihre Bitte unerhört geblieben. Die Förderung von Film- und Kinokultur ist zumal hierzulande fast nicht existent. Das hat auch Folgen für die wissenschaftliche Theoriebildung. Angesichts ihrer Ohnmacht bleibt ihr in der Gegenwart, sich der Vormundschaft zu begeben, sich an das Kino zu verlieren und die entschwindende Wirklichkeit des Films in sich aufzunehmen.