Wenn das nur ein Film ist, warum dann weinen? - Indem sie das Problem des Konnexes von Sehen, Erkennen und Affekt aufwerfen, eröffnen Tränen die Frage nach dem Status von kinematographischer Realität und von filmischem Realismus, d.h. sie problematisieren die Einbindung des Publikums. Neben der Frage, inwiefern Tränen mimetische Reaktion auf einen Realitätseffekt sind, die zahlreiche filmtheoretische Diskussionen umtreibt, steht das Rätsel der Realität des Abgebildeten im Raum - echte Tränen, echtes Schauspiel, Leben, Kunst, Zwiebeln, Glyzerin?
In erster Linie scheint das Melodrama Ort wie Ursache von Tränen zu sein. Nicht nur wird angeblich bevorzugt bei diesem Genre geweint, sondern Tränen gibt es mit seinen stets gleichen Konflikten immer wieder aufs Neue, bei wiederholten Gelegenheiten. Diese Neigung zum Repetitiven erlaubt, Genre und Effekt zu verknüpfen. Dazu übernimmt Linda Williams Franko Morettis literaturwissenschaftliche Konzeption einer "Rhetorik des 'zu spät'". Für Williams wiederholt und dramatisiert die Rhetorik des Melodramas als Urphantasie - und wie die Urszene "immer zu früh oder zu spät" (Lacan, 76) - Rätsel des Begehrens, der Geschlechterdifferenz und des Ursprungs des Subjekts. So wiederhole das Melodrama "endlos unseren melancholischen Verlust des Ursprungs - die unerfüllbare Hoffnung, zu einem früheren Zustand zurückzukehren" (Williams, 269f). Verpaßte Rendezvous, die Drohung des Endes, Begegnungen auf dem Friedhof und vergebliche Sehnsüchte lösen, da 'zu spät', "Tränen aus - die eine Art Huldigung an ein Glück sind, dem man den Abschiedskuß gibt. Dieses Pathos bedeutet eine Kapitulation vor der Realität, aber es ist eine Kapitulation, die dem Ideal Tribut zollt, das der Realität den Krieg erklärte" (Williams, 271).
Tränen sind so nicht nur Ergebnis von Nachträglichkeit, sondern auch eine paradoxe Abwehr des Zugs der Erzählung. Indem sie einen "Vorhang" (Moretti, 179) zwischen die dramatische Wiederholung der Subjektbildung und die Augen ziehen, zollen sie dem verlorenen Ideal Tribut und versöhnen zugleich mit den Kosten der Bildung, wenn auch nicht mit der Geschichte. Im selben Zug lösen wie artikulieren sie also den melodramatischen Konflikt. Als eine Art blindes Sehen vereinen Tränen so widersprüchliche Perspektiven (Sehen vs. Blindheit; Bildung vs. Kosten) - Zerfließen, Verflüssigung des Sehens zum emotionalen Schielen, das sich für Moretti aus einem Wissensvorsprung gegenüber den Protagonisten speist. Während sich der Konflikt in der Narration zwangsläufig und oft tödlich wiederholt, wird er für das weinende Publikum bereits aufgehoben sein. Wissen bestätigt sich so über eine spezifische Blindheit, auf der es beruht.
Die Rhetorik des 'zu spät' unterstellt, "eine Explikation der narrativen Struktur ... würde bereits eine Erklärung darüber implizieren, warum der Zuschauer zu Tränen gerührt wird" (Morsch). Doch auch wenn die möglichen Ursachen / Motivationen des Weinens vielfältiger (ebd.) und rätselhafter sind, als diese Texte zum Melodrama als Tränendrücker Nr. 1 ahnen lassen, öffnet die fortlaufende Wiederholung oder Fixierung auf die narrative Struktur als 'zu spät' vielleicht im Gegenzug die Frage nach kinematographischer Selbstdarstellung im Melo. Wie also gibt das Melodrama dem Publikum nicht nur Tränen, sondern auch die Frage nach ihnen? Was sagen Filme selbst über Tränen als kinematographischen Effekt? Wie wäre eine tränenreiche Szene zugleich Szene des Kinos? Als Szene, die sowohl eine These vom Genre als auch vom Apparat / Medium in sich 'einbaute', sie als Urphantasie des Kinos wiederholte, die Geschlechterdifferenz, Ursprung des Subjekts und Begehren als kinematographische 'Verspätung' verhandelte? Wiederholt darin das Kino endlos den Traum, zu einem früheren Zustand zurückzuzukehren; schreibt es so an seiner Theorie, Geschichte und Rezeption mit? Ist auch dies tränenreich?
Eine Szene in MULHOLLAND DRIVE vereint Tränen, Technik und Zusehen. Tränen sind garantiert, denn die Hauptfiguren des Films, Rita und Betty, weinen. Aufgezeichnet sind sie unabwendbarer Teil des Films. Von Aufzeichnung handelt auch die Szene, die im wörtlichen Sinne Schlüsselszene und Wendepunkt des Films ist. Es schauen zu: Rita, Betty, das weitere Publikum des Clubs Silencio, das Filmteam, Cutter, die elektronische und digitale Nachbearbeitung und das Publikum, darunter ich.
"Silencio!" ruft Rita im Schlaf und das Liebespaar Rita und Betty besucht mitten in der Nacht den Club, an den sich Rita, die unter Amnesie leidet, mit diesem Wort erinnert. Die Lösung von Ritas Rätsel - Ausgangspunkt der Handlung - scheint mit dieser Spur nah. Möglich scheint die Klärung ihrer Vergangenheit und Identität, auf die bisher nur eine Tasche voller Geld, ein blauer Schlüssel und eine Leiche hinwiesen. Der Club ist ein Theater und heißt Silencio. Gegeben wird eine Folge unaufschlußreicher Aufführungen. "No hay banda! No hay orquestra"- "There is no band! Il n'y a pas d'Orchestre!" - "This is all a tape recording! And yet - we hear a band." - wiederholt ein Magier, als die beiden eintreten (Worte, die auch Rita murmelte). Polyglott beschwört er eine Aufzeichnung, die er simultan inszeniert. Den illusionären Charakter betonend verrät der Magier den Trick: Aufzeichnung. "It is all recorded. It is an illusion." wiederholt er, während Bühne und Zuschauersaal gleichermaßen die Macht von Aufzeichnung und Illusion als Vergegenwärtigung bzw. als Wiederholung von etwas Vorgängigen, Aufgezeichneten, d.h. als Realitäts- wie Präsenzeffekt vorführen. Zu den Worten erscheinen ein Trompetenspieler und Trompetenspiel. Daß dies eine Illusion sein soll, können sowohl Theater- wie auch Kinopublikum solange weder sehen noch hören, sondern nur glauben, bis der Spieler die Trompete absetzt, ohne daß die Trompete verstummt. Die Aufforderung "LISTEN!" läßt Betty zähneklappernd erzittern. Schließlich evoziert der Magier mit Donner und Blitz ein audiovisuelles Unwetter und verschwindet - wahlweise in einer Rauchwolke oder im aufglimmenden Mikro und dem Summen einer elektrischen Leitung, die in verkehrter Aufgabenverteilung Theater wie Kino-Saal mit Licht und Ton füllen.
Unscheinbar tritt dann Rebekah del Rio, "Weinerin von Los Angeles", auf die Bühne, die der Magier eben noch mühelos füllte. Sie singt mit raumgreifender Stimme a capella. Rita und Betty schauen gebannt und del Rio wird zum Close-up, das die Augen schließt. Mit dieser Inszenierung von Präsenz als Annäherung an den Blick und Eintauchen in den Sound fällt die auf ihrer Wange aufgezeichnete Träne ins Auge der Rezipierenden. Der nächste Frame rückt auch nah an das Paar. Sich an den Händen fassend und bar jeder klar auf das Bühnengeschehen beziehbaren Ursache steigert es seinen Tränenfluß, dem schwer eine Emotion zuzuordnen ist. Grundlos, unmotiviert, aber zwingend potenzieren sich im Shot-Reverse-Shot Annäherung, Weinen und Gesang. Bis zur wieder distanzierten Einstellung, in der del Rio aus dem Playback gerät und umfällt, während das Band dieMusik so ungerührt weiter spielt, wie del Rio durch Rita und Bettys Weinen sang.
Nur Schnitte verbinden Zuschauerraum und Theaterbühne, mehr schon Inszenierung des raumbildenden Effekts von Schuß-Gegenschuß als unsichtbare Montage. In dieser Parallelisierung von Bühne und Rita/Betty fallen die beiden Orte als Räume mehr und auseinander, so daß die gemalte Träne auf del Rios Wange sich denen des Publikums annähert und Rebekah, Rita und Betty sich zunehmend als gleichermaßen präsentierende wie opake kinematographische Bilder aufdrängen. Das kinematographische Dispositiv re-artikuliert sich hier als Vernähung von Zuschauerraum und filmischem Raum, von Publikum und FilmTheater, als Suturierung von bereits im profilmischen Material heterogenen Zeiten und Räumen mit Zeit und Raum des Publikums, die nur mittels Schnitt und Projektion im doppelten Wortsinn zueinanderfinden. Tränen sind inszenatorisch hergerufener Effekt wie opakes Rätsel, das mit dem Vorgehen auf Bühne und Leinwand (als Angelegenheit von Leben und Tod, Simulation und Authentizität) in ungleichzeitiger und ungeklärter, jedoch für Theater- wie Kinopublikum zwingenden Verbindung steht.
Auch Del Rios Gesang ist aufgezeichnet. Ihr Auftritt setzt die Inszenierung der Aufzeichnung fort. Nur scheinbar entauthentifiziert also der Hinweis "It is all recorded!" das Bühnengeschehen. Die Wiederholung macht den Satz zur magischen Formel, die - stetig die Aufzeichnungsqualität und den ungeheuerlich präsenten Ton als Effekte betonend - Szene wie Affekte als Effekte in Szene setzt, d.h. dramatisiert. Die aufklärerische Geste verzaubert das Medium; die Entscheidung darüber, was echt oder aufgezeichnet ist, gerät in eine Krise, die sich nicht nur als quasi-epistemologisches Problem äußert, sondern als rätselhafte Affektion des Publikums und als Frage von Leben oder Tod. Aufgezeichnet sind jedoch nicht nur die Toneffekte, die der Magier beschwört und die del Rio präsentiert, aufgezeichnet ist das Theater selbst. Das Theater ist ein FilmTheater, da es im Kinosaal, in dem wir sitzen, wiederholt bzw. projiziert wird, während sich im Publikum möglicherweise das Aufgezeichnete, Szene wie Affekt, wiederholt.
In Silencio, in lautstarker Stille, wird Aufzeichnung beschworen, verraten und wieder vergessen. Sie wird präsentiert, um das Publikum in den Bann zu schlagen. Kino / Aufzeichnung ist sensationell, illusionär, unsichtbar, spektakulär, dramatisch, löst Zähneklappern aus, ist tragisch, zum Heulen und: billiger Trick, Realitätseffekt und Wunder gleichermaßen, denn es funktioniert, auch bei mir.
Auch die Handlung verspricht ein Wunder. Wie aus dem Nichts taucht in Bettys Tasche eine Spur zu Ritas Identität auf: eine Blaue Box, die zu Ritas blauem Schlüssel paßt und deren Öffnen möglicherweise die Ursache der folgenden radikalen Kehre des Films ist. Der Film erfährt einen Einschnitt, der nicht etwa die offenen Fragen löst, sondern die Positionen im Film vertauscht, z.B. Tote zum Leben erweckt. Doch die Tränen sind ein Rätsel noch vor der Frage nach Erscheinen und narrativer Funktion der blauen Box, die ich aufschiebe. Welche Nachträglichkeit zum Mehrwissen des Publikums wird in ihnen dramatisiert? Wird geweint, weil del Rio sterben wird? Wird ihr Tod herbei geweint? Wird geweint, weil der Song, Roy Orbisons Crying auf spanisch, mit Trauer um den Verlust einer Liebe konfrontiert, und damit das Paar mit seiner möglichen Zukunft? Weint es also, weil ihnen Schreckliches - doch was? - passieren wird? Sind die Tränen und der Tod del Rios wirklich tragisch oder derartig 'zu viel' und unerklärt, daß sie ebenso absurd unheimlich wie komisch werden? Erfordern Tränen hellseherische Fähigkeiten? Wie geht MULHOLLAND DRIVE weiter?
Schreckliches trifft ein, doch können dies Rita, Betty oder das Publikum wissen? Nach dem Öffnen der Box, leer oder unbekannten Inhalts, weckt der Cowboy - Vertreter des absurd vernünftigen Zurechtrückens der Handlung - ein Mädchen, das im Bett liegt, in dem Rita und Betty eine Tote fanden. Das Mädchen heißt Diane und wird wie Betty von Naomi Watts gespielt. Parallelen Dianes zu Betty legen nahe, daß sie eine Person sein könnten. Auch Diane kam nach Hollywood, um Schauspielkarriere zu machen. Im Gegensatz zu Betty ist sie allerdings nicht in einem 50er/60er Jahre Setting vom Glück verfolgt. Dianes Affäre mit der gefeierten Schauspielerin Camilla Rhodes, die aussieht wie Rita (beide Male Laura Elena Harding), beendet Camilla, wegen des Regisseurs, mit dem Betty zuvor noch "viel versprechende Blicke" (Worthmann) tauscht, bevor er - gezwungen von der Mafia - eine gefärbte Blondine namens Camilla Rhodes (hier nicht Laura Elena Harding) für die Hauptrolle castet. Gedemütigt bezahlt Diane einen Mordanschlag auf Camilla (hier wieder Harding), möglicherweise derjenige, der im ersten Teil als Autounfall scheitert und mit Ritas Amnesie den ersten Teil verursacht. - Möglicherweise? Tränen erscheinen in Silencio an bzw. vor einem Punkt des Nicht-Wissen-Könnens bzw. -Wollens des diegetischen Publikums wie auch gerade des Publikums im Kinosaal. Und weder wird in der Folge Ritas Identität geklärt, noch wird der Zusammenhang der beiden Teile eindeutig geworden sein. Aus einer kohärenten Geschichte werden zwei, die sich ähneln so wie sich ihre Figuren ähneln, verklammert von ihrer Folge in einem Film.
Erklärungsnot. So bemüht sich z.B. Graham Fuller, Sinn in die Abfolge zu bringen. Während der erste Teil Dianes Traum zeige, "wish-fulfillment" und angstgetriebene Artikulation ihres ödipalen Dramas, liefert der zweite Teil den "amateur analysts in the audience" die harte Realität Dianes als Code zur Dechiffrierung (Fuller, 17). Im Silencio des ersten Teils erahnt Betty (d.h. Dianes idealisierte Version ihrer selbst) für sich und für die als Rita geträumte Camilla das 'wahre' bittere Ende, das nach dem Aufwachen Rita/Camilla dem Mordanschlag nicht entgehen läßt und in Dianes Selbstmord mündet. Mir scheint das zu einfach. Fullers Schlüssel zur Kohärenz des Films und der Identität der Figuren Betty/ Diane und Rita/Camilla etc. ist die Identität der DarstellerInnen, letztendlich ein Starsyndrom. Zudem läßt sich gegen eine Psychoanalyse, die einen Film gegen seine Widerstände zum kohärenten Psychogramm einer Figur reduziert, einwenden, "daß sich ein Film nicht auf die Couch legen kann." (Lynch, zit. n. Nicodemus). Anders herum jedoch läßt sich fragen, was vorzufinden wäre, läge ein Film auf der Couch? Fände man hier wirklich nur das allzu leicht nachzuerzählende ödipale Drama einer filmischen Person zwischen Traum und Erinnerung oder eher das Drama von BetrachterIn und Medium? Das wäre dann Fullers Kohärenzbedürfnis. Fände man dazu noch eine Spule bzw. ein Knäuel von Filmmaterial, technisches Gerät wie Kamera, Schneidetisch, Projektor, eine Industrie?
Läßt man die offenen Fragen vorerst im Dunklen des Kinosaals, ist die Szene, die den Positionstausch der Figuren bzw. DarstellerInnen einleitet, rhetorisch gesehen kondensiertes Melodram: Eine Frau (del Rio) bzw. auch Frauen (Rebekah, Rita und Betty) präsentieren Trauer um den Verlust einer Liebe, indem sie Tränen produzieren (gesungene, gemalte, geweinte). In Silencio, dem Ort der Metaphorisierung eines theatralen, kinematographischen Effekts, sind Tränen eine Sache unter todgeweihten Frauen, von Männern dirigiert, welche sich in der Technik verstecken: der Magier 'verschwindet' ins Mikro, der Ansager hinter den Vorhang. Männer nutzen souverän die Technik und weinen nicht. Frauen - Publikum und Darstellerin - verkörpern keine Herrschaft über die Technik, eher sind sie Medien. Unaufgeklärt über ihre eigene Funktion, wissen sie nicht, wie es weitergeht, und ihr Sterben ist Gegenstand des Films. Die Frauen weinen folgerichtig, jedoch unwissend, warum und worüber. Sie trauern gemeinsam, doch nicht um dasselbe; del Rio besingt eine Liebe, die Rita und Betty nicht verlieren werden. Betrauern Rita und Betty ihre eigene mögliche Zukunft, so weiß im Gegenzug del Rio davon nichts. Unwissenheit strukturiert die diegetische Beziehung von Bühnen- und Publikumsraum ebenso wie das Verhältnis von Kinopublikum und Film. Grundlos und zwingend aufeinander bezogen, unverrückbar, weil aufgezeichnet.
Ein Verhältnis des Nicht-Wissens besingt übrigens auch del Rios Llorando (= Orbisons Crying): "I was all right for a while, I could smile for awhile. But I saw you last night, you held my hand so tight" hebt Roy Orbison und nach ihm del Rio an.1 Die Begegnung wird von der diskrepanten Bedeutung der Begegnung für die Beteiligten, Adressat und Adressant des Songs, unterbrochen: "as you stopped to say 'Hello'". Während das besungene Du einen beiläufigen Gruß ausspricht, hält es unwissend und uninteressiert für einen Moment Händchen mit einem Ich, dem dies, da Liebesgabe, sehr wichtig ist. So begegnet die Metapher einer Beziehung des Nicht-Wissens bzw. Nicht-Sagens: "Although you wished me well, you couldn't tell / That I've been crying over you." Begegnet das singende Ich hier einer bereits verlorenen Liebe - oder beruht Verlust genau auf dem Ungleichgewicht der Begegnung und des Wissens, die Crying nachträglich, zu spät, zum Gegenstand des Wissens macht? Ebenso persistiert das Unwissen des hörenden Ichs - als beweintes "you" adressiert - darüber, wann geweint wurde: vor oder nach der Begegnung? Doppelt unwissend wird das Publikum so an die Stelle des Adressaten versetzt worden sein. Analog zur Adresse des Songs positioniert uns die Blickkonstruktion des Shot-Reverses-Shots an die Stelle von Rita und Bettys undurchsichtigen wie blinden Blick auf del Rio. Das Publikum ist also weiblich, da unwissend.
Als sowohl diegetischer Ton wie Untermalung aus dem Off stellt Crying eine paradoxe Gleichzeitigkeit her, die nachträglich, aufgezeichnet und zugleich all-präsent ist. Song wie Weinen wie Szene sind erzähl- wie medientechnisch bedingte Effekte der Präsentierung von Nachträglichkeit in Klang und Bild. Indem der Song eine/n als Quelle seiner unglücklichen Liebe und Tränen anspricht, versetzt die Szene des Kinos quasi in eine unglückliche Liebesbeziehung zum Film als unglückliche und einzige Begegnung. Parallel zum erzählten Liebesverlust läuft so ein mediales Liebesdrama der Hermetik und der Nachträglichkeit ab. Projiziert, d.h. wiederholt, ist so auch Kino als Licht-Ton-Schrift:
"Als Verbindung von Vergangenheit und Realität ist der Referent der Photographie [und Phonographie, M.F.] immer ein 'solcher', ein Subjekt, das nur in seiner Prädikation erscheint - ein Effekt... Prädikation, die an Wunder grenzt, diejenige der identischen Wiederholung von dem, was nur einmal stattgefunden hat. Photo-graphie, das Einzigartige, der Augenblick, das Einmalige, auf immer Verschwundene, ist zugleich dasjenige, was immer bleiben wird und ohne Unterlaß wiederkehren wird ...: Als Wiederholung des Einmaligen und des Kontigenten, das eher paradox ist: ebenso unwahrscheinlich und a priori unmöglich wie die Wiederkehr eines Toten." (Stiegler, 195).
Kinosehn ist Liebe zu einem und Wiedersehn eines 'solchen', einzigen Referenten, der reproduziert, immer wiederkehren kann, und zu einer Leinwand, die ihn gibt, indem sie ihn entzieht – KinoWiederSehn(sucht). Wiedersehen ist Abschied. Ganz unglücklich ist dies nicht: Zwar ist möglicherweise technisch jeder Kinobesuch zu spät und damit melodramatisch, doch geht man immer wieder gern ins Kino - auch Crying kennt ein kurzes Glück, "allright for a while, ... smile for a while", vorm WiederSehenHören. Welcher Referent?
Das WiederSehen einer Toten als Abschied zu schildern, trat 1949 der Film PORTRAIT OF JENNIE (deutscher Titel: JENNY) an. Die Liebe des Malers Eben Adams (Joseph Cotton) und des Geistes Jennie Appleton (Jennifer Jones), die im Verlauf der Handlung zum Gemälde, d.h. portraitiert wird, allegorisiert die Beziehung von Zuschauer und KinoBild als Bildungsgeschichte eines Künstlers, der Pygmalion und Orpheus zugleich ist. Wie das?
Der erfolglose und uninspirierte Maler Eben Adams trifft ein kleines, rätselhaftes Mädchen, Jennie Appleton, das ihn zu einer Portraitzeichnung anregt, die Spuren der bis dahin mangelnden Inspirition oder Liebe zu seiner Arbeit aufweist. Unerwartet kommend und gehend sitzt Jennie, die innerhalb kürzester Zeit erwachsen wird, für das Portrait, das parallel zur Liebesgeschichte der beiden Gestalt annimmt. Nachdem sie erwachsen, das Paar eine Nacht auf New Yorks Straßen verbringen konnte und das Portrait in Öl vollendet ist, verschwindet Jennie wieder und Eben spürt ihr nach. Er erfährt auf seiner detektivischen Suche nach seiner Liebe, daß Jennie Appleton schon seit Jahren tot sein soll, sie entpuppt sich als Geist oder Halluzination des Malers. Ihr Todestag wird sich in wenigen Tagen jähren. Eben versucht Jennie aus der Flutwelle zu retten, die sie einst während eines Orkan ins Meer riß und nun wieder zu reißen droht und scheitert. Eben überlebt den Sturm, die Begegnung mit Jennie und ihr Portrait sind der Auftakt seines genialen Schaffens, dessen Resultate im Metropolitan Museum bewundert werden.
Diese Geschichte der ästhetischen Bildung des Künstlers übt in das Verhältnis von Modell, Bild und Abbild als kinematographisches RENDEVOUS MIT EINER TOTEN (Untertitel im deutschen Videoverleih) ein. Statt eines Horrorfilms begegnet das PORTRAIT EINER LIEBE (Untertitel im deutschen Kinoverleih) als eine nur in ihrer Unmöglichkeit überhaupt mögliche Begegnung, Portrait Jennies wie des Kinos. Kinematographisches Präsent: Glücken eines verpaßten Rendezvous, paradoxe Rechtzeitigkeit. So beweint Adams im Film den Verlust des Geistes Jennie Appleton nicht.
Eben Adams fehlt bei allem technischen Können die Inspiration, wie ihm seine spätere Galeristin Spinney (Ethel Barrymore) erklärt. Dennoch nimmt sie ihm ein Bild ab, denn er sei es wert, und er macht ihren Augen Komplimente. Darauf trifft Adams im Park das kleine Mädchen Jennie Appleton, das sich für seine Kunst interessiert und Geschichten aus der Vergangenheit erzählt, die ihre Gegenwart zu sein scheinen. Sie rät ihm Portraits zu malen und zeigt ihm das "Wishing Game": Sich um sich selbst drehend wünscht sie, daß Eben auf sie warte, bis sie groß ist, so daß sie immer zusammen sein können. Ein unmöglicher Antrag, denn so Eben: "People can't wait for others to grow up." Doch Jennie besitzt, nachdem Eben eine erste inspirierte Portraitskizze von ihr anfertigte, die Macht dazu. Kurz darauf erscheint sie Jahre älter und wie zuvor verschwindet sie einfach. Indem sie disproportional zur diegetischen Zeit altert und nach Belieben kommt und geht, mutiert sie vom Kind zum Backfisch, zur Waise, zur Klosterschülerin, zur begehrenswerten jungen Frau und Braut, kaum daß im Film ein Jahr und im Kino eine Stunde vergeht. Ihre Konstante machen ihr Wunsch, portraitiert zu werden und die Inspiration aus, die sie dem Maler verleiht - sowie die Identität der Schauspielerin Jennifer Jones (alias Phylis Lee Isley), die Jennie Appleton durchgehend verkörpert.
Von Anfang an symbolisiert der Film den Mangel des Malers durch eine gewebte Gitterstruktur, die das Kinobild zur (Bild- wie Kino-)Leinwand macht, welche den Realitätseindruck im Kino heftig störty; so auch stets wenn SIE zu lange ausbleibt und ER der Melancholie verfällt. Nachdem Jennies Portrait in Öl vollendet ist, verschwindet sie scheinbar endgültig. Eben erfährt auf seiner detektivischen Suche, daß Jennie seit Jahren tot sei. Ihr Todestag wird sich bald jähren, d.h. wie Adams glaubt, wiederholen. Er versucht, Jennie aus der Flutwelle zu retten, die sie einst ins Meer riß und nun wieder zu reißen droht. Mit Jennies Einverständnis, die gerne stirbt, da sie fand, wonach sie sich sehnte, scheitert er. Nach ihrem stürmischen Abschied am Leuchturm "Lands End" steht Spinney an Ebens Krankenbett. Spinney, die am Geisteszustand des Malers bzw. der Realität der ihr unsichtbaren Jennies zweifelte, ist erleichtert, weil Eben Jennie wiedergesehen habe. Auch Eben ist merkwürdig gleichgültig, bedenkt man, daß gerade die Liebe seines Lebens zum zweiten Mal ertrank. Mühelos tauscht er nun das Mädchen gegen sein Portrait, die Liebe zu ihm gegen die zur Kunst und wird zum großen Maler.
Die Produktion von Kunst bzw. Symbolbildung nur über ihre Leiche mag ein tradierter Topos sein, in dem Symbolbildung die Frau als Natur/Leben gegen Sprache/Kunst tauscht (Bronfen). Doch wird das Modell hier immer schon ein Phantom gewesen sein, ein Geist, der aus Liebe sein Leben fast identisch wiederholt. Jennie, Modell/Natur des malerischen Portraits, ist faktisch selbst ein kinematografisches Bild der Schauspielerin Jennifer Jones, wie sie Jennie Appleton darstellt, und weiter das Portrait Phylis Lee Isleys,3 die den Star Jennifer Jones verkörpert. Objekt des Malers ist eine in Zeitraffer wiedergegebene Abwesenheit, ein Licht/Schattenspiel oder eine Projektion, aufgezeichnet, nichtidentische Wiedergängerin einer Schauspielerin und ihres Spiels. Jennie Appleton ist demnach nicht nur Metapher einer Natur, die der Maler nachbilden und überwinden will, sondern Metapher des Kinos, das ihn - Metapher des Künstlers wie des Publikums - inspiriert und das er begehrt und einfangen möchte. Der Maler ist ein/e KinozuschauerIn und das Kinopublikum fertigt ein Bild, wird also zum Autor. Geliebt werden das Kino und sein Phantom. Der Kinobesuch – eine Seance.
Weniger die Metapher der Symbolbildung durch Tilgung des weiblich konnotierten Objekts (z.B. einer Spule, die die Mutter ist) ist Jennie Metapher eines weiblich konnotierten Kinos als idealem Modell; und Metapher des 1948 zentralen kinematographischen Instruments: des weiblichen Stars. Es ist also bereits ein Zeichen aus Rollenfigur/Bild, Image des Stars und Arbeit/Lebenszeit der Schauspielerin, das projiziert, portraitiert, gerahmt und begehrt wird. An die Stelle der Frau tritt der kinematographische Apparat als weiblicher Star. Wohin ist das Mädchen/die Schauspielerin verschwunden?
Folgen wir der Figuration des Kinos als Geschichte ästhetischer BIldung. Eben Adams, einer von Adam, findet im winterlichen Park das Kino als Jennie Appleton, eher Apfel denn Eva. Er sucht nichts, eher fällt es/sie ihm zu und indem es/sie sich dreht, produziert und erfüllt es/sie den Liebeswunsch, dem er mit ihrem Portraits nachkommt. Trotz der Überwindung von Zeit und Raum bleibt das Problem von Jennies Realitätsstatus, das die Exposition als Frage von Glauben und Wahrheit setzt und das später zur Frage des Geisteszustands des Malers wird - wie sein Drama. Jennie kann nicht ganz in seine Zeit und Raum überführt werden. Ebens ästhetische Bildung beinhaltet, zu verstehen, daß sie nur als Geist das höchst kinematographische Wunder ihres Rendezvous vollbringt. Somit muß ein Teil des Wunsches unerfüllt bleiben. Als Maler wie als Kinozuschauer lernt Adams eine traurige Distanz von Kino und Realität, von Repräsentation und Objekt kennen, die er verzweifelt zu überwinden sucht, indem er Jennie zum Leuchtturm "Lands End" folgt, wo sie - mise-en-abîme des Melos - im Sturm Abschied nehmen.
Störend, wenn nicht unheimlich, unterbricht der Orkan Liebesgeschichte und Erzählung. Dank einer Vorform von Stereo tost das Kino hier realistischer denn je und doch gleicht die Szene eher einem verzerrten Alp. Grün getöntes Filmmaterial und Diskontinuität von Bild und Ton unterbrechen die bis dahin kontinuierliche Montage/Narration. Als riesige Lichtquelle gleicht der Leuchtturm einem Projektor, der den Film vergegenwärtigt, indem er den durchlaufenden Streifen - sozusagen räumliches und zeitliches Maß des Films – 'belichtet'. Von Anfang an auf den Bildern Adams präsent, rückt der Leuchtturm (und damit der Projektor) im Fortgang der Geschichte auf Ebens Skizzen von Cape Cod als Zeichen der Endlichkeit näher.4 Wenn Jennie Appleton das Kino ebenso wie der Star ist, ist es kein Wunder, wenn ihr Leben am Projektor enden muß, wo die Projektion technisch ausgeht und endet. Spätestens wenn der Film ein Ende nimmt, sind Kino, Bild und Liebesgeschichte verloren. Erst beim Verlassen des Kinos (oder einem technischen Defekt) wendet man sich zum Projektor, der einem/r bis dahin Zeit gebend, im Nacken sitzt. In der Bewegung schnöden Filmmaterials erzeugt der Projektor eine Illusion von Leben/Bewegung im Frame. Nach dem Sturm fällt Eben Filmmaterial zu, das ihm Spinney bringt: Sie fand am Leuchtturm Jennies Schal, der beiden Existenzbeweis Jennies ist. Den durchbrochenen Schal vergißt Jennie als Päckchen bei der ersten Begegnung mit Eben, später soll er ihn aufbewahren; kurz vor ihrem Tod nimmt sie ihn wieder. Im Gegensatz zum projizierten Bild bleibt also das Filmmaterial bestehen, Zeuge und Grund der Realität des Aufgezeichneten und seiner Wiederholbarkeit. Logische Ruhe nach dem Sturm. Der Schal zeigt: Eben hat nicht halluziniert und nichts verloren: weder den Verstand noch Jennie ("Then I haven't lost it"). Indem Jennie immer verloren gewesen sein wird, ist sie technisch reproduzierbar, Mädchen wie Kino.
Eben Adams, der die widersprüchliche Position von Schöpfer und Rezipient auf sich vereint und auf das Kinopublikum überträgt, und der Geist Jennie Appleton, die sowohl Wiedergängerin ihrer diegetischen Vergangenheit wie der des Stars ist, treffen sich in PORTRAIT OF JENNIE, d.h. im Kino.5 So tritt New York in der ersten Einstellung als bewegtes Gemälde auf grober Leinwand auf und das Portrait wird in der letzten Einstellung des Films ins Filmbild überführt, so daß dieses letzte Bild (das erste in Technicolor) wie der Titel den gesamten Film in sich summiert. Das Kino als größte Kunst /Malerei aller Zeiten, weil durch Raum und Zeit bewegte und bewegende, reproduktive Verewigung des Aufgezeichneten. Als große Kunst erhält Jennies Portrait einen goldenen Rahmen, der zum Frame wird. Mit diesem Ende befindet sich der Film in seiner Rahmenhandlung, die die Geschichte von Jennie und Eben umgibt.
Vom Trailer der Produktionsfirma, den Selznick Studios in Hollywood, führt der Rahmen, geleitet von einem männlichen Voice-Over, zu einer Wolkenformation, die sich um sich selbst dreht und deren Bilder sich nebelartig überlagern. Begleitet von Zitaten von der Antike bis zur Gegenwart als Schriftzüge zum Mitlesen beschwört die Stimme Zeit und Raum, Leben und Tod als existentielle Probleme der Unendlichkeit, an die sich bruchlos die Legende von Jennies Portrait "tender and haunting" anschließt. Statt des Portraits erscheinen die Vogelperspektive New Yorks, das Metropolitan Museum und ein Katalog Eben Adams, der Titel, Datum (1934) und Maße des Portraits verzeichnet. Die unscheinbare Titelangabe im Katalog ersetzt den zu erwartenden, extradiegetischen Schriftzug des Filmtitels. So 'unsichtbar' wie der Titel bleibt auch das Gemälde. Mit dem Sprung in den Plot verabschiedet sich der Erzähler, seine Stimme kündigt noch "now: Portrait of Jennie" an und auf die philosophisch-göttlichen Perspektiven folgt jene des Malers, in der dann das Portrait entsteht. Nach dem Orkan, der Jennie verschlingt und den Wolkennebel aus exakt umgekehrter Perspektive zeigt, handelt der Rahmen wieder im Museum; eher zur Gegenwart des Kinopublikums, denn zur Zeit der Binnenhandlung, die Anfang der 30er spielt. Der Maler Eben Adams ist hier ebenso Legende wie Jennie Appleton. Das Portrait ist große Kunst und das Voice-Over Zitat von Jennies Lob des Portraits aus der Binnenhandlung bestätigt mit Jennies Stimme beider Nachruhm, den drei Backfische im Museum, vor dem Portrait bewundern. Auch in deren Rezeption des Portraits stellt sich die Frage nach Jennies Realität. Bevor die Kamerafahrt das goldgerahmte Portrait rahmen- bzw. bruchlos ins Kinobild überführt, tritt Spinney zu den Mädchen und versichert sie der Weisheit ihrer Rezeption.
Widerspruchlos hebt das Portrait die Handlung des Films und die Realität Jennies in sich auf. Es ist und gibt 'alles': Leben und Kunst, Überleben und Tod, Zeit und Raum, Rechtzeitigkeit in der Verspätung. Aufgezeichnet, abgespult scheint die Unheimlichkeit der Aufzeichnung, die Bilder von Totem gibt, getilgt zu einem Bild / Portrait, das, weil es ein statisches Bild wiedergibt, Bewegung und Endlichkeit des Filmstreifens, nicht einmal mehr verschoben in die Bewegung, im Rahmen zeigt.
Wenn Objekte und Figuren des Films Apparat und Dispositiv vertreten, wer/was ist dann Miss Spinney, die dritte zentrale Figur im Film? Strukturelle Ähnlichkeiten in einem Film, der als Portrait vielleicht sowieso alle Figuren zu einer summiert, machen sie, erste Frau im Film und die, welche die Frage der Liebe anstößt, vielleicht zum geheimen Grund, zum Geflecht, Gespinst oder Dickicht (spinney) Jennies. Da haben wir vielleicht Mädchen wie Schauspielerin: eine alte Jungfer (spinster). Indem sie selbst sowohl neben das Bild tritt als auch längst sein Teil ist, etabliert sich eine Differenz von Bild und Realität, und zwar auf Kosten der Einebnung der Differenz von Kinobild, Starimage und Schaupielerin während Aufzeichnung und Projektion, d.h. in den Augen von Regisseur und Publikum. Aufzeichnung und ihr Träger, das Filmmaterial, dienen als Beweise und materieller = realer Grund eines 'perfekten Portraits', das - wenn auch verspätet - selbst das Leben der Schauspielerin als Augenblick trifft und verewigt. Indem Filmstreifen das "Es-ist-so-gewesen oder auch: das UNVERÄNDERLICHE" (Barthes, 87) der Schauspielerin ist, die der künstlerische Blick durch Kamera und auf Leinwand erst verewigt und perfektioniert, wird in der Schlußeinstellung an der Imago der Frau "paradigmatisch das scheinbar Unmögliche exerziert und vorgezeigt: Die Kongruenz des 'Natürlichen' wie des Artifiziellen." (Sykora, 141). Der Apparat, der Natur und Kunst lebensnah, bewegt wie bewegend,6 vereint, ist gottähnlich, himmlische Wolkenformation, Stimme aus dem Off und Orkan, das Gesetz, das Jennie gibt und nimmt.
Etabliert ist auch eine Differenz der 'ewigen' Zeit des Portraits und der endlichen der Schauspielerin, die sich einmal kurz - im Moment der Aufnahme - trafen. Visualisiert in der vielleicht heimlich gemeinen Metapher, ist die Schauspielerin neben ihrem Bild eine alte Jungfer, im Gegensatz zum Portrait, Hommage wie Grabstein, altert sie. Aus Spinney und Jennie, d.h. aus der Schauspielerin und ihrem Bild, wird so vielleicht - in einer Metapher eines ungeheuerlichen Medientechnikkitsches - eine Spinning-Jenny Metapher des kinematographischen Apparats.7 Diese Spinnmaschine wurde ca. 1764 in der frühesten Phase der industriellen Revolution von James Hargreaves erfunden, um die Garnproduktion dem Bedarf der Weberei anzupassen. Eine einzelne Person konnte mit der Jenny-Machine mit der Bewegung eines Rads erst acht, dann dank Wasserantrieb über hundert Spindeln gleichzeitig bespinnen. Mittels der (allerdings eher ruckartigen) Bewegung eines Rads bzw. einer Rolle multipliziert das Kino höchst ökonomisch Bilder, Garn für Regisseur wie Publikum, die angeschlossen an die Drehung des Rads parallel zur Bewegung und Zeit des Films bzw. der Rolle bewegt werden.
Rolle (reel) klingt im Englischen wie wirklich (real).8 Wenn auch über die Engführung Jennifer zu Jennie / Jenny (von Star, Bild, Ideal und Apparat) ganz eng verbunden, darf reel nicht real genommen werden, auch wenn sich in PORTRAIT OF JENNIE einiges um sich dreht (Jennifer / Jennie, der Orkan, die Wolken). Die Geschichte ästhetischer Bildung industrialisiert ein kinematographisches Begehren nach dieser Realität des Kinos, die als reel verspricht, fast real zu sein. Diszipliniert wird das "fast". Wie wäre es auch, wenn zu Hochzeiten des narrativen Films Heerscharen von KinobesucherInnen zum Projektor gerannt wären wie Adams zum Leuchtturm, um das Objekt des Begehrens mit nach Hause zu nehmen? Es ist Jennie / Jenny, sprich das Kino, das die Distanz von reel und real lehrt und Adams als melodramatische Variante des burlesken UNCLE JOSH AT THE MOVING PICTURE SHOW scheitern läßt. Während das frühe Kinopublikum 1902 vielleicht über ein naives Publikum, das den Film und das Mädchen in ihm für Realität nimmt, souverän lachte, scheint diese naive Haltung 1949 zum melancholischen Verlust des gebildeten Publikums geworden.9
Weniger wie der - Realität und Film erst mühsam scheidende - Eben, der detektivisch Jennie nachspürt, um sich seiner Wahrnehmung zu versichern und so ihr Kommen und Gehen zu einer kohärenten Geschichte zusammensetzt, soll das Publikum die Differenz mühelos einziehen - wie die Backfische. Gelassen verhandeln sie Jennies Realitätsstatus in exakter Folge von Ebens Drama. Ob sie real war, fragt die erste, die zweite glaubt fest daran, die dritte erledigt das Problem als egal; sie war real für ihn. Es liegt nahe, hier die gleichgültige Ersetzung des Objekts durch Repräsentation zu sehen, würde nicht Spinney als Ironikerin des Films allen drei Haltungen die Weisheit versichern. Spinney läßt nicht nur den Zweifel persistieren, ihr Altern kehrt den wohligen Zweifel unheimlich um. Als gealterte Schauspielerin ist Spinney zugleich an der Stelle des Publikums des Portraits. Neben den Backfischen vergeht ihre Lebenszeit wie die des Publikums von PORTRAIT OF JENNIE, ihre Endlichkeit ist die seine. Nicht nur die Begegnung mit dem Bild geschieht zu spät, es wird 'immer später', während es rechtzeitig ist.
So erscheinen die Verhältnisse von Realzeit, Filmzeit und aufgezeichneter Zeit als unabwendbares melodramatisches Moment des Kinos, wo Star und Publikum und Film sich zu spät treffen. Mit Eben, dessen Rettungsversuch durchaus honoriert wird, hat man es zumindest versucht, bevor man seiner vergeblichen Sehnsucht wehmütig den Abschiedskuß geben muß. Genau hier wird die Möglichkeit, Jennie wiederzusehen, ins Kino zu gehen, einen Star oder einen Film wieder zu sehn, die der Abspann im Aufgriff der sich weiter um sich drehenden Wolkenformation nahelegt, nicht zur endlos, gleichgültigen Ersetzung, sondern zur Rhetorik der Cinephilie als Abschied in Liebe: "Jedes-Mal-ein-einziges-Mal" (Derrida zit. n. Strowick). So weine bzw. weinte ich im Gegensatz zu Adams, den dafür eine Sturmflut näßte, regelmäßig bei PORTRAIT OF JENNIE.
Was hat PORTRAIT OF JENNIE mit MULHOLLAND DRIVE zu tun? Es läßt mich auf eine bestimmte Weise den Apparat und filmische Selbstreferentialität lesen. Neben der Rhetorik des ‘zu spät’ verklammert ein Starsyndrom die Rollen einer Schauspielerin. Aber nicht nur das, wenn das Starsyndrom letztendlich eine Frage der Wiederholung in einem Spiel von Identität und Differenz, in der Bewegung von einem Bild zum anderen ist, kann dies letztendlich auf jedes einzelne Filmbild zurückfallen. Was im Rucken des reels für die Wahrnehmung in fließender Bewegung zusammenfällt, ist nichtidentisch. Jedes Bild trennt ein Schnitt, auch wenn es sich im Selben oder in der selben Sequenz befindet. So wird es schwer, in einer Weise, die der detektivischen Suche Adams nach Jennies Identität ähneln würde, die Teile und Figuren MULHOLLAND DRIVEs mittels der Schauspielerinnen bruchlos zu kitten. Statt wie Fuller die Identität der DarstellerInnen als Schlüssel zum Film zu nehmen, benutze ich einen anderen Film, der eine Rhetorik der Schauspielerin/des Stars als kinematographisches ‘zu spät’, d.h. als Melodrama des Kinos, inszeniert wie setzt. Vielleicht artikuliert sich hier ein Geschlechterverhältnis. D.h. nicht, daß Fullers Lektüre falsch ist, sie verpaßt nur Kino als Kino. Auch heißt das nicht, daß nun das Problem der Zusammenstellung der zwei Filme im Film geklärt sei, weil sie einfach nichts miteinander zu tun hätten. Die Abfolge bleibt schließlich zwingend. Vielleicht setzt sich in der radikalen Kehre aber potenziert etwas fort, was schon im ersten Teil auffällt. In einem Ersetzungssystem von Blond, Brünett, Rot werden parallel zur Suche nach einem Mädchen, welches das Mädchen ist, und parallel zur Besetzung der Hauptrolle in einem Film Frauen als filmische Figuren getauscht und verschoben. In einem Setting, das als Pastiche der 50er und 60er Jahre auftritt und aus dem Starfundus der Zeit nicht nur Rita Hayworth als Patin Ritas zitiert, soll "die Richtige" gefunden werden. Die Richtige zu finden oder zu sein, ist auf unterschiedlichen Ebenen Aufgabe der Figuren der Handlung, der das Publikum mit der Frage und verschiedenen Angeboten im Gepäck, wer die Richtige sein könnte, folgt. Die Mafia bestimmt schließlich eine. Nach ihrer Besetzung (richtig ist sie vielleicht, weil sie eine gefärbte Blondine zu sein scheint, d. beides: brünett und blond), geht der erste Teil mit Silencio zu Ende, wo die blaue Box gefunden wird. Auf dem Höhepunkt der Inszenierung des Kinos als Aufzeichnung oder Photo/Phonographie erscheint im FilmTheater eine Blue Box, d.h. eine Metapher für ein allgemein bekanntes Verfahren der Bildmanipulation aus der Videotechnik. Mittels des Ausstanzens und Einsetzens von Bildelementen ermöglicht das auch Chroma Key genannte Verfahren die Kombination zweier Bilder in einem. Indem so verschiedene Aufnahmen (Zeiten und Räume) in eine gebracht werden, löscht diese die Differenz zwischen den Aufzeichnungen und setzt sie zugleich - allerdings nur so heimlich wie möglich - ins Bild, z.B. als blaue Ränder. Die Filmgeschichte kennt dafür ältere Verfahren, interessant ist deshalb nicht die Manipulation als solche, sondern ihre Konnotationen von Fernsehen, Video und Bildüberlagerung sowie ihr Auftauchen vor dem zweiten Teil, dem der altmodische Hollywoodglanz ebenso abgeht, wie er 'nicht ins Bild' paßt. Video und Fernsehen liegen historisch nach dem Starsystem, die Blaue Box kündet so vielleicht vom Ende Hollywoods, wie es einmal war. Welche Bilder überlagern sich hier? Was macht die Box? Eigentlich nichts. Nach ihrem Öffnen verschwinden die beiden ProtagonistInnen nacheinander und eine dritte taucht auf: Bettys Tante. Wieder eine Ersetzung: Aus blond und brünett mach rot. Es legen sich also Frauenfiguren übereinander und aus dem strahlenden Paar wird erst eine alte Tante und dann das ehemalige Paar Diane und Rita. Zudem legen sich übereinander: die Figuren der Teile des Films, die beiden Hollywoods usw.
Video killed the movie-/star-system? Vielleicht. Dabei wird der erste Teil mit seinen Figuren zur Referenz - und zwar zur immer schon verlorenen - des zweiten Teils, er ist in ihm aufgezeichnet. Doch die Figuren scheinen nun aus einer kleinen blauen Box zu kommen, wie die beiden Alten, im ersten Teil allzu unheimlich grinsendes, freundliches Paar. Im zweiten Teil krabbeln sie blau umrandet aus der Box, als sie der/die StreunerIn Bum dreht, dessen/deren Anblick im ersten Teil den Tod auslöste. Als Zwerge krabbeln sie kichernd unter der Tür von Dianes Appartement durch, bevor sie sie - auf Kinomenschengröße angewachsen - überfallen und sie sich erschießt. Nach der Doppelbelichtung von Hollywood und Todesbote Bum schneidet Lynch auf die Loge Silencios, wo die "Frau mit blauen Haaren" "Silencio" als letzte Worte vor den Abspann setzt. Das Kino würde in Silencio über sich selbst weinen. Doch hatte Rita den blauen Schlüssel von Anfang an und auch Bettys Blue Box ist am Anfang dabei. Eine Folge von Einstellungen gibt hier die Keys des Films. Erst tanzen im Stil der 50er zur passenden Musik Silhouetten und Figuren auf einem blauen, tiefenlosen Hintergrund. Teils mehrfach auf der Leinwand gleiten sie in der nach Blue Box aussehenden Darstellung eines Jitterbug Wettbewerbs aneinander vorbei und ineinander. Durchsichtig leuchten Betty und die Alten im Vordergrund. Nach dem suchenden Kamerablick auf ein zerwühltes Bett, in dem später die Tote aus dem ersten Teil und dann Diane ruhen, folgen Autofahrten. Parallelgeschnitten zur Limo mit Rita, die - warum auch immer - zum Aussteigen aufgefordert wird, rast ein Jeep mit Feiernden den MULHOLLAND DRIVE hinunter und in die stehende Limousine. Allein Rita überlebt die Kollision der zwei Fahrzeuge (bzw. Fahrten, Einstellungen), gedächtnislos nach Hollywood und in die Handlung taumelnd.
Diese drei Stränge des Anfangs (die natürlich auch den Übergang Dianes in den Traum markieren, dem das Publikum folgen wird) werden in den beiden Handlungen MULHOLLAND DRIVEs gewendet. Das alte wie das neue Hollywood und seine Figuren, der Film und das Kino sind so Resultate eines technischen Tanzes von Bildern, einer Suche mit der Kamera, eines Unfalles und von Gedächtnisverlust. Machen Sie bitte selbst einen Apparat daraus. Es dürfte keine kohärente Geschichte werden, das letzte Wort ist Stille.
Während PORTRAIT OF JENNIE noch behauptet, im Entzug alles - Jennie / Jenny wie Jennifer - zu geben,10 wird mit dem Starsyndrom dieser Glaube entzogen. MULHOLLAND DRIVEs Schweigen markiert Absenzen von Unrealisiertem, nicht Aufgezeichetem, in einem Film, der an einer Stelle behauptet bzw. die Behauptung inszeniert, es sei alles aufgezeichnet: keine ganze Erzählung; keine Einheit des Augenblicks; weder klassisches Hollywoodkino noch Starsystem; keine Fernsehserie Lynchs, deren unproduzierter Pilot den Großteil des zum Kinofilm geschnittenen Materials lieferte. Zudem fehlen im Spiel der Ersetzungen der Frauenfiguren, die alle irgendwann einmal Schauspielerinnen gewesen sein werden, Bild und Stimme einer Frau. Der Film ist einer toten Schauspielerin gewidmet. Nahe dem MULHOLLAND DRIVE raste 2001 Jennifer Symes Wagen auf dem Cahuenga Boulevard in drei parkende Autos. Schlüssel oder Box?
WiederSehn des Kinos ist längst WiederSehn des Fernsehns im Computer. PORTRAIT OF JENNIE fand ich als Jenny im TV, zu der Zeit, als mir Paulchen Panther wöchentlich im Öffentlich-Rechtlichen vor den Nachrichten auf die Frage, ob es "wirklich schon so spät" ist, das ultimative Versprechen gab: "Heute ist nicht alle Tage. Ich komm' wieder, keine Frage".
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