Über das Hören im Kino: ein seltsames Paradox
The most exciting moment isthe moment when I add sound ...
At this moment, I tremble.
(Akira Kurosawa)
Als 493 v. Chr. in Athen "Die Zerstörung Milets" des Tragödiendichters Phrynichos uraufgeführt wurde, kam es zu einem Skandal. Der antike Geschichtsschreiber Herodot (um 485-425) berichtet von einem kollektiven Tränenausbruch des Publikums. Dieses allzu menschliche Ereignis hatte zur Folge, daß die athenischen Behörden das Stück mit einem sofortigen Aufführungsverbot versahen und Phrynichos zu einer Geldstrafe über 1000 Drachmen verdammten. Die Tränen und Emotionen des Publikums hatten zu einer besonderen Irritation im Gesellschaftssystem der Athener geführt. "Die Zerstörung Milets" durfte nie wieder gezeigt werden (Herodot 6, 21).
Wie aber lassen sich die Tränen erklären? Der Althistoriker Veit Rosenberger schlägt in seinem Aufsatz Virtuelle Welten der Alten Geschichte (2000, 161) folgende Gründe für das Verbot des Stückes vor:
"Erstens mag die Zerstörung Milets an die Gefahr erinnert haben, die Athen durch die Perser drohte; ... Zweitens mag eine propersische Gruppe, die das antipersische Stück absetzen wollte, als Drahtzieher agiert haben. Drittens war es aufgrund der heraufbeschworenen Emotionen bei diesem Stück nicht möglich, jederzeit auszusteigen - das Drama des Phrynichos war nicht virtuell genug."
Auch im Kino ist es denkbar, daß das Auslösen von Erinnerungen, politische Maßnahmen und mangelnde Virtualität eines Films Tränen hervorrufen können. Bevor ich hier jedoch mein zentrales Anliegen zur Wechselwirkung von kinematischem Sound und Zuhöreremotionen vorstelle, möchte ich kurz auf ein Ereignis hinweisen, das der antiken Überlieferung in gewissen Punkten ähnelt. Dabei handelt es sich jedoch gerade nicht um eine virtuelle Inszenierung wie "Die Zerstörung Milets", sondern umgekehrt um ein reales Ereignis.
Der 11. September des vergangenen Jahres korrespondiert mit einem Ort - Ground Zero -, der weltweit eine kollektive Trauer ausgelöst hat. Nur konnte die Regierung in diesem Fall das Ereignis weder bannen noch löschen. Die vielleicht naiv zu nennenden Versuche, Kinopremieren mit Filmstoffen ähnlicher Gewalt oder gar mit Motiven des World Trade Centers zu verbieten und um Wochen zu verschieben, konnten weder die Tränen und die Trauer, noch den Tatverlauf selbst ungeschehen machen.
Der Einsatz von technischen Medien zur Verbreitung der Untat hat vielmehr für ihre unendliche Wiederholung in Bildern und Tönen gesorgt und darüber hinaus auch für ihre Virtualisierung. Während die Griechen beim Theaterbesuch von der Realität eingeholt wurden, kippen für uns am Beginn des 21. Jahrhunderts Realitätseindrücke immer mehr ins Virtuelle. So läßt sich auch erklären, daß das Ereignis vom 11. September ununterbrochen mit den Erzählstoffen und Effekten des Kinos verglichen wurde und sich daher dieses Medium zum idealen Gegenstand des Verbots eignete. Hier liegt schließlich auch der Verdacht nahe, daß sich hinter dieser paradoxen Vermischung von Realität und Virtualität der unerfüllbare Wunsch verbirgt, die längst in unseren Köpfen gespeicherten Kinoszenarien der Gewalt für einen kurzen Zeitraum der Erinnerung zu verschließen.
Im Kino - und besonders auf der akustischen Ebene von Ton und Träne - begegnen wir aber gerade jener Mischung aus Erinnerung, Politik und Virtualität/Realität, die Rosenberger als Auslöser der antiken Emotionen nennt. Zugleich ist aber eine Konfrontation mit Emotionen immer auch eine Konfrontation mit dem Körper, sei es der eigene oder jener der Filmfiguren. Auch hier scheint die Antike ein ideales Paradigma zu liefern, wie die Überlegungen der Altphilologin Froma Zeitlin (1996, 349-350) zum antiken Drama zeigen:
"What interests the audience most in the somatics of the stage is the body in an unnatural state of pathos (suffering), when it falls away furthest from its ideal of strength and integrity. We notice it most when it is reduced to a helpless or passive condition ..., when it is in the grip of madness or disease, undergoing intermittent and spasmodic pain, alternating between spells of dangerous calm and violent storm."
Der liminale Zustand des Körpers, sein Befinden jenseits der Grenzen des Normalen, löst beim antiken Betrachter größte Faszination aus. Nichts anderes passiert im Kino, wo 'entstellte' Körper auf der Leinwand beim Publikum Emotionen hervorrufen, die sich in Tränen entladen können. Allerdings fügt das Medium zwischen Körper und Träne noch ein wichtiges Versatzstück ein, das auch in der Antike nicht fehlte: die Musik. So läßt sich auch die Äußerung der amerikanischen Filmwissenschaftlerin Claudia Gorbman (1987, 7) verstehen, die unter dem klassischen Hollywoodfilm ein Drama mit Musik versteht. Neben ihrer vielseitigen Verwendung, so Gorbman, bestehe die wichtigste Aufgabe von Musik darin, für ein "untroublesome viewing subject: less critical, less awake" (ebd., 5) zu sorgen. Erneut treffen wir hier auf bestimmte Zustände des Körpers, die von Musik hervorgerufen werden können. Das Subjekt des Sehens verdankt seine ungestörte Kinoerfahrung den Klängen, die es seiner Kritikfähigkeit entheben sollen, und es zugleich in eine Art Dämmerzustand versetzen. Gorbmans Behauptung verweist zudem auf einen bedeutenden Topos der Musik, in dem ihre hypnotische Kraft den Betrachter in ihren Bann zu ziehen vermag. Auf den folgenden Seiten werde ich den Versuch unternehmen, sowohl Gorbmans Thesen zum vernebelten Kinogänger als auch den orphischen Topos aus verschiedenen Perspektiven kritisch zu hinterfragen. Dabei werden besonders auch die Konsequenzen dieser Zuschreibungen für unsere Ohren oder das Hören im Kino diskutiert.
Es scheint, als müsse eine Analyse zu Ton und Träne dem Zauber der Musik entwischen, um das hypnotische Moment als ein manipulatives zu enttarnen. Ein Blick in die Arbeit von Theodor W. Adorno und Hanns Eisler zur Komposition für den Film (1976, 31), gibt darüber näher Auskunft. Die beiden Autoren verweisen im folgenden Zitat auf jene Seite der Musik, die der Vernebelung von Zuhörern nachhilft:
"Gerade die Rationalität und technische Beherrschbarkeit der Musik erlaubt es, sie <psychotechnisch> in den Dunst eben der Regression zu stellen, die um so lieber gesehen wird, je gründlicher sie über den realen Alltag betrügt."
Adorno und Eisler sprechen hier einen der Hauptaspekte des Hollywoodkinos an. Der Umgang mit Musik zeugt in erster Linie von "technischer Beherrschbarkeit", die sich zunächst an den Möglichkeiten der Aufnahme-, Wiedergabe- und Samplergeräte offenbart. Wie man die akustischen Daten dann abmischt, folgt einem ebenso 'beherrschten' Konstruktionsprinzip, das der Musik ihre entsprechende Funktion verleiht. Ob sie hingegen allein dem "Dunst der Regression" dient, wie Adorno und Eisler behaupten, wird in meiner Analyse noch genauer befragt. Um aber überhaupt eine "psychotechnische" Wirkung beim Publikum zu erzeugen, muß Musik die Ohren von Zuhörern entweder direkt oder indirekt adressieren. Ihre Eigenarten, die der Technik immer stärker implantiert werden (vgl. Pierce 1999, 117ff), sollen im Folgenden untersucht werden, um Tränen und 'tauben Ohren' auf die Spur zu kommen.
Ohren sind im Vergleich zu Augen immer offen und aufnahmebereit, auch dann, wenn der Mensch träumt, schläft oder bewußtlos ist. Dieses Phänomen ist für erstaunliche kulturhistorische Zuschreibungen an den Gehörsinn verantwortlich. Das auffälligste und zugleich beharrlichste Muster, das den Ohren in der abendländischen Theorie aufgezwungen wird, ist das der Passivität. Zur Erläuterung dieses Phänomens werde ich nochmals Adorno und Eisler zitieren (1976, 31), deren Überlegungen immer wieder in Texten zur Musik erscheinen. Sie stellen in ihrer Bewertung der Sinnesqualitäten von Augen und Ohren folgenden bemerkenswerten Vergleich auf:
"Das Auge ist immer ein Organ von Anstrengung, Arbeit, Konzentration, es faßt ein Bestimmtes eindeutig auf. Demgegenüber ist das Ohr eher dekonzentriert, passiv. Man muß es nicht wie die Augen erst aufsperren. Mit ihnen verglichen hat es etwas Dösendes, Dumpfes. Auf diesem Dösen aber liegt das Tabu, das die Gesellschaft über Faulheit überhaupt verhängt hat. Musik ist immer schon ein Versuch gewesen, dieses Tabu zu überlisten. Sie hat Dösen, Träumen, Dumpfsein selber zu einer Sache von Kunst, Anstrengung, von ernster Arbeit gemacht. Jene rational eingesetzte Irrationalität ist das Schema der Vergnügungsindustrie."
Zurück bei den Tränen im Kino, müßte man sich nach diesen Behauptungen fragen, wie es dazu kommt, daß über ein so träges Organ wie Ohren überhaupt Emotionen ausgelöst werden können. Wie läßt sich die Passivität des Gehörs mit der aktiven Ausschüttung von Tränen vereinen? Zunächst ist aber die von den Autoren vorgenommene Betonung des gesellschaftlichen Tabus auf der "dösenden, dumpfen" Eigenheit des Gehörs interessant. Während Sehen grundsätzlich als ein aktiver Vorgang verstanden wird, übernimmt Hören ebenso grundsätzlich die Kehrseite dieser Sinnesdynamik. Gleichzeitig wird aber mit der Hinzufügung des Tabus der Gehörsinn noch stärker auf die Seite der Passivität verbannt, weil er durch die geschickte Gesellschaftskritik doppelt auf sie festgelegt wird. Daß die Kritik Adornos dem 'bourgeoisen' Verhältnis einer gehobenen Gesellschaftsschicht zur klassischen westlichen Musik gilt, ändert nichts an dieser Setzung und eindimensionalen Zuordnung. Hören ist damit, trotz aller geschickten Versuche, es über anspruchsvolle Musik zu aktivieren, einer 'dumpfen Irrationalität' verhaftet. So scheinen Ohren, mit Blick auf das vorherige Zitat von Adorno/Eisler, das willkommene Organ für die auf Regression abzielende Strategie filmmusikalischer Codes zu sein. Eine genaue Analyse zur Verwendung von Musik im Hollywoodkino zeigt jedoch eher ihre Vielseitigkeit. Es ließen sich ebensoviele Funktionen nennen, die einem Verhältnis von Regression entgegengesetzt sind.1 Umgekehrt lassen sich Ohren dank Soundstrategie und -technologie vom Zustand des Dösens gezielt in Alarmbereitschaft versetzen.
Welche musikalische Strategie und Technik aber bringt Zuhörer und Zuhörerinnen zum Weinen? Bedürfen Tränen dösender oder alarmierter Ohren? Die Aussagen von Fachleuten aus der Filmsoundindustrie offenbaren ein seltsames Paradox, das sich auf theoretischer Ebene wiederfinden läßt. So äußert zum Beispiel Cecelia Hall - supervising sound editor vieler großer 'soundgewaltiger' Hollywoodproduktionen wie STAR TREK I,II,III (1979,1982,1984), TOP GUN (1986) oder THE HUNT FOR RED OCTOBER (1990) - über den Sound herausragender Filme:
"If it’s good, you shouldn’t notice the sound - it should draw you into the movie without drawing attention to itself. It’s the movie you should remember." (LoBrutto 1994, 91)
Ähnliches vertritt der bekannte Sounddesigner Randy Thom (z.B. WHAT LIES BENEATH 2000), der kürzlich folgendes zur Filmscore schrieb:
"My hunch is that even the musical score (at least when it’s done well) in the film tends to be interpreted subconsciously by the audience as emanating FROM the characters, as opposed to having been APPLIED-TO the characters." (2002)2
Die Qualität von Filmsound und seine 'gelungene' musikalische Koppelung an das Filmbild zeichnet sich, glaubt man den Aussagen, durch seine Unhörbarkeit aus. Höchstens unbewußt soll er wahrgenommen werden und keinesfalls als zusätzliche Dimension zum Filmbild. Vielmehr ist die 'musical score', laut Thom, derart mit den Filmfiguren verbunden, daß sie aus ihnen herausströmt. Koppelt man jetzt noch die Ansichten dieser SoundtechnikerIn mit Soundtheoretikern wie Adorno und Eisler, dann stossen die am Ohr vorbei komponierten Klänge auf immer schon 'faule, dösende' Hörer und Hörerinnen. Die Regression scheint perfekt: im Kino sind wir taub, aber erinnern, nach Hall, im Idealfall immerhin den Film.
Ein anderer Weg, dieses Paradox zu konfrontieren, ist eine Auseinandersetzung mit dem Vokabular zur Beschreibung der akustischen Dimension des Kinos. Ein Blick auf die Versuche, die musikalische Praxis Hollywoods, ihre Codes, begrifflich zu fassen, offenbart die Schwierigkeiten, Musik oder Sounds aller Art in ein schlüssiges Konzept zu übertragen. In anglo-amerikanischen Theorien werden akustische Daten in diejenigen unterteilt, die sich innerhalb der Diegese, also der fiktionalen Welt des Films befinden und umkehrt in jene, die außerhalb von ihr stehen. So durchziehen Begriffe wie 'diegetic' versus 'nondiegetic sound'3 die Literatur zur Einführung in die Filmwissenschaft. [4] Der französische Filmsoundwissenschaftler Michel Chion strebt noch eine stärkere Differenzierung an, indem er drei verschiedene akustische Verhältnisse unterscheidet. Auf der einen Seite spricht er von 'onscreen sound' als demjenigen, der durch eine sichtbare Tonquelle im Filmbild gekennzeichnet ist; auf der anderen Seite von 'offscreen sound' oder 'acousmatic sound', [5] der entweder vorübergehend oder vollständig ohne Bildbezug auskommt, aber eben dennoch der Diegese des Films angehört. Als Beispiel nennt Chion die mütterliche Stimme aus Hitchcocks PSYCHO. Und schließlich benutzt auch er den Begriff 'nondiegetic sound', um diejenigen Töne zu benennen, die eben nicht nur außerhalb der Leinwand, sondern zudem noch außerhalb der fiktionalen Welt erklingen (Chion 1994, 73). Zu dem letztgenannten Begriff zählen Chion und die anderen Autoren das 'musical underscoring', also gerade jene Musik, der keine Quelle im Bild zuzuordnen ist. Sie, die nicht nur das klassische Kino, sondern auch jeden zeitgenössischen Hollywoodfilm dominiert - Filme wie STAR WARS, EPISODE II (2002), SPY GAME (2002) oder SPIDER-MAN (2002) sind aktuelle Beispiele mit ausgeprägtem Soundtrack - soll als nächstes im Hinblick auf die oben genannten Begriffe und Einteilungen untersucht werden.
Die eindimensionale Ausrichtung der Begriffe auf die Leinwand und das Filmbild lassen sich als auffälligste Kritikpunkte nennen. Akustische Daten sind entweder deutlich im Bild zu verorten oder fallen aus dem Bilderrahmen und der Filmgeschichte heraus. Bleibt zu fragen, wie es dazu kommt, daß kinematische Daten wie Filmmusik nicht der fiktionalen Welt des Films angehören, sie aber dennoch vermitteln und miterzählen? Wie taub sind eigentlich unsere theoretischen Ohren? Aus der Perspektive von Bild- und Tontechnik einerseits und aus der Perspektive von Zuhörern und Zuhörerinnen andererseits erscheint die Einteilung der akustischen Daten in 'diegetic', 'nondiegetic' und 'offscreen sound' absurd. So läßt sich Bild- und Tontechnik, die, ohne Rücksicht auf irgendeine Diegese, immer schon ihre Daten und Prozesse voneinander isoliert hat, nicht mit diesen Begriffen fassen. Und auch Wahrnehmung ist nicht in dieses Raster eingefroren. Sie zieht vielmehr zusammen, was Filmtechnik zuvor isoliert. Dazu gehört auch jene Musik, die 'einfach' da ist, ohne eine Bildquelle zu benötigen. Es scheint demnach sinnvoll, nach neuen Konzepten zur Beschreibung dieser Phänomene zu suchen. Sie sollten stärker auf die Komplexität der akustischen Dimension des Kinos eingehen. Rick Altman, amerikanischer Filmtheoretiker und Spezialist für den Bereich Sound im Kino, äußert folgendes zu diesem Dilemma (1992, 16):
"In order to respect the discursive complexity that is characteristic of all sound events, we can no longer continue to depend on a fundamentally conceptual terminology that remains insensitive to sound’s phenomenality. Instead we must have a terminology capable both of respecting sound’s heterogeneous nature and of figuring the narrative component built into the very process of recording and reproducing sound."
Die vielseitige Bedeutung und Verwendung von Musik, ihre narrative Funktion und soundtechnische Organisation im Kino, gibt Anlaß, die Hauptmotivation dieses Textes wieder in den Blick oder in die Ohren zu nehmen. Tränen oder Emotionen sind ein wichtiger Bestandteil der Kinoerfahrung. Der Versuch, ihre Gründe zu beschreiben, trägt hoffentlich dazu bei, die Heterogenität von Sounds ans Licht zu bringen.
Überlegungen aus der Hirnforschung und gängige Emotionstheorien sollen im folgenden die Suche nach Gründen für Tränen vereinfachen. So ist zunächst die Beziehung zwischen Hören und Tasten auffällig. Die Enden des Hörsinns, auch Cortisches Organ genannt, und die Nervenbahnen des Tastsinns befinden sich im Großhirn dicht nebeneinander. Das erklärt auch die urprüngliche Einheit von Ohren und Haut, ihre entwicklungsgeschichtliche Verbundenheit (Schneider 1997, 40). Gerüche und Höreindrücke werden außerdem vom limbischen System im Zwischenhirn verrechnet. Dieser Vorgang führt dazu, daß die gesammelten Daten einer bestimmten Situation derart encodiert werden, daß sie bei Wiederauftauchen in späteren Situationen eine Erinnerung an das vorherige Geschehen befördern. Auf diese Weise ist es Filmmusik möglich, so Claudia Bullerjahn (2001, 221), "als emotionaler Hinweis- bzw. Abrufreiz den Zugang zu gespeicherten Informationen (zu) verbessern." [6]
Das Ende der Kette dieses neuronalen Schaltkreises bilden die Emotionen, die aufgerufen werden, sobald der mentale Musterabgleich (pattern matching) stattgefunden hat und Erinnerungen in Gang gesetzt werden. So läßt sich unter dem Begriff 'Gefühl' nicht nur die Bandbreite von positiven bis negativen Affekten fassen, sondern auch präzisere Qualitäten wie Freude, Angst, Schmerz oder Ekel. Diese können wiederum im Weinen, Lachen und anderen Verhaltensweisen des Körpers als "offene Reaktionen" beim Menschen zutage treten. Bullerjahn nennt zudem noch drei "allgemeine Merkmale von Emotionen", die sie durch die Begriffe "Subjektivität", "Universalität" und "Aktualität" kennzeichnet. Im ersten Merkmal sind alle Erlebnisse angesprochen, die als Zustände des Ichs empfunden werden, im zweiten geht es um die unbegrenzte Ausdehnung von Emotionen auf alle Körperregionen und im dritten schließlich um die Tatsache, daß abstrakt erinnerte Gefühle immer nur in Form einer erneut auftauchenden Emotion nachempfunden werden können (ebd., 188).
Ein Sprung zurück ins Kino versucht jetzt im folgenden Schritt einige der oben beschriebenen Relationen an dem Film BRIDGES OF MADISON COUNTY (1995, dt. Brücke am Fluß) von und mit Clint Eastwood zu erhellen. Sein melancholisches Klavier- und zuweilen auch Streicherthema spielt gezielt an den Stellen, die die Liebe zwischen Robert und Francesca aus der Erinnerung verschiedener Figuren kennzeichnen. Gleichzeitig steht dieses Thema aber auch für den gesamten Film, in dem es um nichts anderes geht als diese Liebe, die in der Kürze von vier Tagen das Leben der Protagonistin und später auch das ihrer Kinder verändert.
Auffällig ist die zeit-räumliche Bewegung, die der Film vollzieht, der mit dem Tod von Francesca beginnt und ihre beiden erwachsenen Kinder bei der Verkündigung des Testaments im elterlichen Haus zeigt. Der Film verzichtet, entgegen der Konvention, sowohl beim Vorspann als auch in den anschließenden Szenen ganz auf Musik. Es scheint, als kommuniziere er hier zunächst nur den 'stummen' Tod der Mutter und die Ahnungslosigkeit ihrer Kinder in bezug auf einen bestimmten Aspekt ihres Lebens. Die Abwesenheit von Musik macht aus der Perspektive des gesamten Films Sinn. Sie weist in ihrem Fehlen bei dieser langen Eingangsphase gerade auf die Lücke, die der Tod von Francesca aufmacht. Erst als die Tochter einen Brief der Verstorbenen liest, gleitet der Film zeitlich in die Vergangenheit und Musik kommt mit der Hauptfigur (Meryl Streep) ins Spiel. In Form dieser musikalischen Rückblenden wird die Figur der Erinnerung kennzeichnend für den gesamten Film.
Mit der Erinnerungsfigur stoßen wir aber auch wieder an einen Aspekt, der schon am Beginn meines Textes mit dem Beispiel aus der Antike genannt wurde. In BRIDGES OF MADISON COUNTY schickt die Musik als auditive Einprägung die Liebesgeschichte und ihre Erinnerungsspuren musikalisch durch die Ohren des Publikums. Daß den Zuhörern und Zuhörerinnen bei diesem akustischen Verfahren Tränen in die Augen steigen, läßt sich keineswegs ausschließen. Im Gegenteil, mich hat - mit Einsatz der filmischen Erinnerung in Form der musikalischen Rückblende - die eigene Erinnerung an den Film gepackt und wiederholt zu Tränen gerührt, noch bevor er seine Motive und Themen richtig entfalten konnte. Offenbar wurde hier sehr genau an der Aktivierung emotionaler Schichten gearbeitet. Dennoch läßt sich bei diesem Film nur schwer behaupten, daß die Musik allein für taube Ohren spielt. In einigen Szenen rückt sie sehr deutlich ins Zentrum der Geschichte und bestimmt die Wahrnehmung des Gehörs. Meine zuvor gestellte Frage, ob wir zum Weinen im Kino dösende oder alarmierte Ohren benötigen, läßt sich also gerade nicht eindeutig beantworten. BRIDGES OF MADISON COUNTY verführt Hörer und Hörerinnen durch eine musikalische Ebene, die sich weder ganz dem Dösen noch andauernder Alarmierung verschreibt. Vielmehr geht es um ein sich abwechselndes Verhältnis zwischen diesen beiden Zuständen, wobei ein 'Dazwischen' auch noch viele weitere Zustände zuläßt.
Ich hatte am Beginn meines Textes den kollektiven Tränenausbruch der antiken Athener erwähnt, denen möglicherweise aus Gründen von Erinnerung, Politik oder mangelnder Virtualität das Drama "Die Zerstörung Milets" verboten wurde. Ob die Athener dem Stück mehr dösend oder eher alarmiert gelauscht haben, werden wir nie erfahren und ist hier auch nicht so wichtig. Entscheidend ist vielmehr das Ereignis selbst, die Emotion und die fließenden Tränen. An diesem Punkt läßt sich das antike Theater mit dem technischen Medium Kino kurzschließen. Erinnerungen werden dort wie hier produziert und von Zuhörern angeeignet. Dabei spielen Ohren keineswegs eine passive Rolle, wie Adorno und Eisler und viele andere Kulturtheorien [7] vermuten. Ohren nehmen Sounds auch dann wahr, wenn sie vom Gehirn nicht bewußt verarbeitet werden und rufen damit Körperreaktionen hervor. Auf welche Weise allerdings Ohren adressiert werden, ist abhängig von der Politik des Mediums. Das zeitgenössische Hollywoodkino hebt, besonders in den dafür geeigneten Genres, die Grenzen zwischen Musik und Soundeffekten immer stärker auf. So wird Musik Geräusch und Geräusch Musik. Gleichzeitig changieren Zuhörer und Zuhörerinnen aufgrund von aktueller Soundtechnik, die akustische Daten präziser an Ohren trägt, stärker und abrupter zwischen den Zuständen von Dösen und Alarmierung oder auch Verschreckung hin und her. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorstellung, Sound verklinge ungehört, höchst sonderbar.
Bleibt am Ende die Frage nach der Virtualität oder Realität eines Mediums, die schon Athener 2500 Jahre zuvor beschäftigte. Hier, denke ich, liegt die Antwort bei den Tränen. Wenn sie fließen, lassen wir uns von der Realität des Körpers einholen.
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