Zur Wirkungsgeschichte fiktionaler Tränen
Beim traditionellen ökumenischen Empfang anlässlich der 52. Internationalen Filmfestspiele Berlin, so berichtet eine große deutsche Tageszeitung, erklärte der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg Wolfgang Huber im Februar 2002, dass Kino "selbst harte Männer zu Tränen" rühre (FAZ 16.02.2002). Man darf spekulieren, an welche Filmerlebnisse der Bischof dabei wohl gedacht hat. Und man mag seine Äußerung in der Erinnerung an eigene Kinoerfahrungen und -gefühle überprüfen. Aber selbst wer keine rührseligen Melodramen mag und generell nur ins Kino geht, um harte Männer in action zu erleben, wird die bischöfliche Einsicht kaum bestreiten können. Am Ende von FIRST BLOOD, dem erstem Film der Rambo-Serie, bricht immerhin Sylvester Stallone selbst in Tränen aus und leistet sich und seinen Zuschauern die wohlige Katharsis eines regelrechten Heulkrampfs. 'Boys don't cry' ist zwar eine überkommene Devise just in den Gesellschaften, wo das Kino die größte öffentliche Deutungsmacht ausübt, und wird doch eben dort – auf der Leinwand nicht anders als im Zuschauerraum – vielfach widerlegt. Vielleicht braucht die klar geschlechtskodierte Rollenverteilung unserer Emotionskultur, die jener Devise offenbar vorausliegt, gerade solche Ausnahmeorte wie das Kino: Proberäume für außerordentliche Gefühle und Identitäten, die weder gänzlich unzulässig noch gänzlich probat erscheinen. In dieser Weise wäre wohl das Tränenkino die eigentliche Ökumene.
Denn der Kinotrauerfall trifft nicht nur Männer. Anfang des Jahres veröffentlichte Madelon Sprengnether, Professorin für englische Literatur in Minnesota und Autorin etlicher subtiler Studien zum historischen Prozess weiblicher Subjektkonstitution, eine bewegende Autobiographie mit dem Titel Crying at the Movies (2002), in der sie bekennt, dass sie lange Jahre ihres Lebens nur fiktionales Leiden, wie es das Kino bot, beweinen konnte, während sie für die realen Trauerfälle ihres Lebens, wie den Tod des Vaters durch Ertrinken, keine Träne aufbringen konnte. Der Durchbruch überkam sie, so erzählt Sprengnether, ausgerechnet bei einem indischen Filmklassiker, dessen ebenso artifiziell stilisierte wie kulturell entrückte Darstellung tragischer Verwicklungen ihr zu persönlichem und unvermitteltem Gefühlsausdruck verholfen habe. Seither weint sie offener.
Vielleicht jedoch hat Bischof Huber auch an ganz andere, seiner eigenen Arbeit näherstehende Modellerzählungen gedacht, wenn er Männern die Lizenz zum Weinen ausdrücklich bestätigt. Denn wie die Evangelien berichten, hat nicht nur der felsenharte Jünger Petrus einst geweint, als er in der Karfreitagsnacht seine Schwachheit erkennen musste, sondern selbst Jesus gingen einmal die Augen über. Als er zum Grab des Lazarus gerufen wird, scheint ihn die Trauer der Hinterbliebenen, die er dort vorfindet, so zu ergreifen, dass er sie körperlich erwidert. Diese Bibelstelle (Johannes 11: 35) hat gerade protestantische Theologen viel beschäftigt und schon im 16. Jahrhundert zu intensiver Deutungsarbeit herausgefordert (vgl. Lange 1996). Dass Jesus je gelacht habe, ist nirgends überliefert. Warum also weint der Heiland und warum weint er hier? Was zeigen seine Tränen an, da er sie offenbar nicht für eigenen Schmerz, sondern für andere vergießt?
Dass auch gewöhnlich Sterbliche das distanzierte, vorgestellte, ja sogar das fiktional vermittelte Leiden gleichwohl am mächtigsten zum Weinen nötigt, gehört seither zu den grundlegenden und, wie zu zeigen sein wird, ältesten Behauptungen gesellschaftlicher Tränenpflege. Religiöse Praktiken wie kulturelle Inszenierungen bauen oft darauf. Das Kino bietet dafür nur eine der jüngeren und durch seinen Verbreitungsgrad derzeit populäreren Erscheinungsformen. In anderen medialen Praktiken wird solche Gefühlsenergie schon seit langem gern und viel genutzt. Beispielsweise in der Malerei. Wie der Kunsthistoriker James Elkins in seiner Studie Pictures & Tears (2001) anhand von Selbstzeugnissen und Beobachtungen darlegt, werden viele Tränen seit jeher vor der Leinwand von Gemälden vergossen, und zwar selbst dann, wenn diese keine biblischen Schmerzensszenen zeigen; allein Farben und abstrakte Formen scheinen auszureichen, um Betrachterinnen und Betrachter so sehr aufzuwühlen, dass sie körperlich auf das Gesehene reagieren. Das, so Elkins, bezeugen namentlich die Werke von Mark Rothko.
Allerdings gibt es auch andere Zeugen. Im Anhang dokumentiert Elkins einen Brief von E. H. Gombrich, der erklärt, er selbst habe noch nie bei der Betrachtung eines Gemäldes geweint – "though certainly at the movies or reading a book" (ebd., 231). Gombrich zitiert dazu einen Satz aus Leonardos "Paragone", der dem Maler grundsätzlich die Möglichkeit absprechen will, sein Publikum zu Tränen zu bewegen; allenfalls zu Gelächter könne diese Kunst uns reizen, weil das Lachen keiner so gewaltigen Erregung der Gefühle unterliege wie das Weinen. Wie immer man die Einschätzung bewertet, sie zeigt deutlich an, dass Beobachtungen und Erfahrungen von fiktional veranlassten Tränen nicht nur den zuvor genannten gesellschaftlichen Rollenmustern, sondern wohl auch Mutmaßungen über anthropologische Grundgegebenheiten des Körpers entsprechen, die ihrerseits einer sozialpolitischen Programmatik unterliegen mögen. (Wenn es beispielsweise das Programm von Leonardos Streitschrift ist, die Malerei gegenüber der Dichtkunst sozial aufzuwerten, soll sicher auch die Einordnung ihres physischen Erregungspotenzials zu diesem Zweck beitragen.)
Diesem Zusammenhang will ich im weiteren anhand einiger Textbeispiele nachgehen. Sie entstammen vorrangig dem englischen Theater um 1600, weil hier die 'Playhouses' bereits lange vor dem europäischen Aufschwung der bürgerlichen Gefühlskultur im 18. Jahrhundert, so meine generelle These, gesellschaftlichen Tränenspielen eine machtvolle Arena bieten (vgl. Döring 2001). Auf der Shakespeare-Bühne wird nicht nur geweint; hier wird das Weinen eigens thematisiert und ausdrücklich problematisiert. Ihre reflektiven Erkundungen wie performativen Erprobungen rührender Gefühlsdarstellung greifen auf zeitgenössische wie überlieferte Tränen-Theorien zurück und weisen zugleich, wie mir scheint, auf spätere mediale Umsetzungen wie im Film voraus.
Tränen stehen weithin in dem Ruf, Ausdruck besonderer Wahrhaftigkeit zu sein: Wer weint, der kann wirklich nicht anders und meint es daher ehrlich. Dies gilt vor allem für diejenigen Mitglieder einer Gesellschaft, denen ansonsten zum Bekennen ihrer Rührung und emotionalen Überwältigung enge Grenzen vorgegeben sind, also beispielsweise harten Männern. Gerade weil ihnen jede öffentliche Gefühlsdarstellung als Entblößung, ja Verletzung gilt, kann sie im akuten Fall umso wirksamer Authentizität bezeugen oder produzieren.
"Look when I vow, I weep; and vows so born,/ In their nativity all truth appears." (A Midsummer Night's Dream, 3.2.124-5).1 Mit diesem Hinweis will Lysander, einer der beiden jungen Männer in Shakespeares großem Emotionsexperiment "Ein Sommernachtstraum", seine Angebetete verzweifelt überzeugen, dass seine heißen Liebesschwüre ernst und aufrichtig sind. Helena hat guten Grund, dem stürmischen Liebhaber, der eben noch für eine andere schwärmte, zu misstrauen. Lysanders Tränen sollen daher alle Zweifel stillen, da sie, wie er beteuert, prinzipiell die Wahrheit künden. Dem Weinen kommt hier Argumentcharakter zu. Es dient zur Begründung der Wahrhaftigkeit einer Aussageintention. In den Termini von John Searles Sprechakt-Theorie lässt sich dies als Kennzeichnung einer sog. "sincerity condition" auffassen, d.h. als eine der Bedingungen, von denen die Geglücktheit von Verständigung u.a. abhängt (vgl. Levinson 1983, 236 - 40). Wir müssen, was wir sagen, schon tatsächlich meinen, damit unsere Sprechakte nicht fehlgehen.
Dass dafür regelmäßig Tränen einstehen können, lässt sich auf der Shakespeare-Bühne ebenso beobachten wie beispielsweise im amerikanischen Gerichtsdrama unserer Tage, wo ja ebenfalls das ostentative Weinen gern genutzt wird. Dass diese Überzeugungsfunktion allerdings eine Zurschaustellung von Tränen verlangt, die durchaus Fragen nach deren Wahrhaftigkeit aufwirft, ist oft bemerkt worden. Immerhin sind auf der Bühne Schauspieler am Werk, und deren Darbietung, auch wenn sie noch so glaubhaft scheint, ist nicht ohne weiteres zu trauen.
Is it not monstrous that this player here,
But in a fiction, in a dream of passion,
Could force his soul so to his whole conceit
That from her working all his visage wanned,
Tears in his eyes, distraction in 's aspect,
A broken voice, and his whole function suiting
With forms to his conceit? And all for nothing.
For Hecuba!
What's Hecuba to him, or he to Hecuba,
That he should weep for her? (Hamlet, 2.2.527-39)
Hier rezensiert Prinz Hamlet, der als Kenner der Theaterkünste gelten muss, eine einschlägige darstellerische Leistung. Am Hof von Elsinore ist eine Theatergruppe eingetroffen, und zum Einstand hat ihr Erster Schauspieler einen bekannten Monolog zum Besten gegeben. Doch mit seiner Erzählung vom Tod des Priamus hat er nicht nur das Publikum nachhaltig beeindruckt, sondern auch sich selbst so aufgewühlt, dass sogar die weniger kunstsinnigen Zuschauer wie Lord Polonius erstaunt bemerken, wie ihm die Augen dabei übergehen (vgl. Hamlet, 2.2.499). Das gibt in der Tat zu denken.
Die Tränen eines Schauspielers verstören, weil sie die Grenze zwischen Bühnenwelt und Wirklichkeit zu überschreiten scheinen und damit jede Grundunterscheidung zwischen Täuschung und Wahrhaftigkeit in Zweifel ziehen. Wie Hamlet sagt, reicht diesem Darsteller allein die Vorstellung eines gänzlich abgelegenen, antiken und nur literarisch übermittelten Trauerfalls aus, um seine eigenen Körperfunktionen ganz so zu mobilisieren, als träfe ihn reale Trauer hier und jetzt. Während Hamlet, wie er an anderer Stelle erklärt (3.2.34-40), das Lachen auf der Bühne ablehnt, weil es nicht nur die fiktionale Figur, sondern den Schauspieler (und erst recht das Publikum) wirklich zu ergreifen droht, lobt er die theatralische Träne offenbar deshalb, weil sie den Fiktionscharakter ihres nichtigen Grundes übersteigt. Wie aber ist das möglich? Auf welche Weise kann ein Mensch nicht nur verbal von Schmerzen oder Mitleid künden, sondern diese Gefühle durch physische Entäußerung – Blässe, Tränen, gebrochene Stimme – beglaubigen? Und darf man solchen körperlichen Zeichen überhaupt noch Glauben schenken, wenn sie so willkürlich hevorgerufen und planmäßig zur Schau gestellt werden?
Diese Fragen betreffen die Produktionsbedingungen von fiktionalen Tränen, die im Theater nicht anders als im Kino zur Debatte stehen. Häufig kommen sie zum Einsatz, um ganz am Ende der Geschichte ein unerwartetes und wirkungsvolles Zeichen zu setzen. Wenn wir zum Beispiel am Schluss der Filmversion von DANGEROUS LIAISONS (1989) in Großaufnahme sehen, dass dem sterbenden Marquis de Valmont genau eine Träne über jede Wange rollt, oder wenn die scheinbar endlos lange Schlusseinstellung von MERCI POUR LE CHOCOLAT (2000) uns vorführt, wie die durchschaute Giftmischerin tonlos in Weinen ausbricht, dann können wir beruhigt lernen, dass selbst die raffiniertesten Intriganten und Verstellungskünstler endlich doch einmal auf Menschenmaß zurückfallen und damit wieder in die Ökumene eingehen. Ihre Tränen demaskieren solche Charaktere, denn sie zeigen, dass jetzt ihr hinterhältiges Verstellungsspiel zu Ende ist: Die Träne quillt, die Ehrlichkeit hat sie nun wieder.
Sollte man meinen. Andererseits nämlich führen eben diese Tränen, wenn man ihre eigentliche Veranlassung bedenkt, doch zugleich den Nachweis vollendeter Verstellungskunst, denn sie zeigen, dass großen Darstellern selbst physische Entäußerungen zur perfekten Maske werden können. Wie immer es John Malkovich und Isabelle Huppert tatsächlich schaffen, unter den Produktionsbedingungen eines Films auf Stichwort und Klappe die erforderlichen Tränen abzusondern, sie liefern damit lediglich neueren Beleg für die Fähigkeit, die Hamlet schon beim Ersten Schauspieler so wundert: den eigenen Körper so unter eine leidvolle Vorstellung zu zwingen, dass er im Urteil von Augenzeugen absolut glaubwürdig agiert und alle Betrachter in die Gefühlsdarstellung einholt.
Darüber ist viel gerätselt worden. In seiner Diskussion von fiktionalen Tränen zitiert Tom Lutz hierzu den Hinweis eines amerikanischen Schauspielers, der sich für solche Anlässe stets einbildet, ein Opfer des Titanic-Untergangs zu sein (und zwar schon vor der überschwellenden Cameron-Version dieser Katastrophe) (Lutz 1999, 264).2 Das ist klassisches Method Acting und mag bei Anhängern dieser Methode wohl Erfolg haben. Im englischen Theater der Frühen Neuzeit aber, wo der Illusionscharakter der gesamten Darbietung dem Publikum durch zeichenhafte Mittel stets präsent blieb, nutzte man wohl andere Methoden, um echte Bühnen-Tränen zu erzeugen.
Bid him shed tears [...]
And if the boy have not woman's gift
To rain a shower of commanded tears,
An onion will do well for such a shift,
Which, in a napkin being close conveyed,
Shall in despite enforce a watery eye.
(The Taming of the Shrew, Induction 1, 116-24)
Hier wird, im Theatervorspiel zu Shakespeares früher Geschlechter-Komödie "Der Widerspenstigen Zähmung", eine klare Anweisung gegeben, wie ein Knabenschauspieler, der in den Bühnenkünsten wohl noch nicht so firm ist, zum Weinen bewegt werden kann: ganz einfach mit einer Zwiebel, die im Taschentuch versteckt ist. Wer nicht aufs Stichwort losheult, braucht physische Stimulation.
Beiläufig erhellt dieser Bühnentrick, wenn hier von "woman's gift" die Rede ist, eine zentrale Erkenntnis der zeitgenössischen Anthropologie: dass nämlich Frauen generell und grundsätzlich in der Lage sind, sich bei Bedarf in Tränenschauern zu ergießen: "to rain a shower of commanded tears". Weibliche Tränen sind daher, wie viele der großen medizinischen Autoritäten erklären, meistenteils unbedeutend, weil sie – im Wortsinn – überflüssig sind. Denn dass Frauen nah am Wasser gebaut haben, zeige ihr gesamter ungezügelter Flüssigkeitshaushalt: Ihr Körper verströmt sich ohnehin schon regelmäßig, wie beispielsweise an der Menstruation ersichtlich. In einer aufschlussreichen Studie zum Weiblichkeitsdiskurs der Zeit hat Gail Kern Paster diesen Zusammenhang zwischen "feminity" und "fluidity" konzise rekonstruiert (1993). Daraus folgt, dass die Aussagekraft von Männerntränen gerade darauf gründet, dass Männer ihre Körpersäfte ansonsten streng unter Kontrolle halten und ihren Körper zügeln können (woraus, im Übrigen, sich auch ihr Anspruch auf Sozialkontrolle ableitet). Umso stärker wiegt es demnach, wenn sich bei ihnen dennoch der Drang der Natur im Weinen eine Bahn bricht, und umso erstaunlicher ist es, wenn Schauspieler (Frauen spielen auf der Shakespeare-Bühne bekanntlich keine Rolle) dies für fiktionale Zwecke kontrolliert mobilisieren können.
Letztlich schwingt in Hamlets bewundernden Worten über die perfekte Körperinszenierung des weinenden Trauerspielers daher auch Befremden, ja Erschrecken mit. Seine einleitende rhetorische Frage "is it not monstrous" zeigt ebenso klar wie die Wortwahl "force his soul", dass solcher Körperkunst etwas Gewaltsames und Monströses eignet. Denn der Tränendarsteller nutzt, wenn man es recht bedenkt, den eigenen Körper dazu, um über andere Körper Gewalt durch Rührung auszuüben. Das weindende Publikum ist nämlich potenziell weitreichender Verführungsmacht ausgesetzt, wie oftmals gezeigt worden ist. Geht doch die Einsicht in die aufrührerische Kraft von inszenierten Tränen schon auf die Empfehlungen und Lehren der klassischen Rhetoriker zurück. Davon soll im folgenden und abschließend die Rede sein.
Ein guter Redner muss nicht nur passende Argumente zur Verfügung haben, er muss vor allem wissen, wie er sie seinem Publikum so wirksam präsentiert, dass es sich der gewünschten Einsicht länger nicht verschließen kann. Deshalb widmet beispielsweise Quintilian das elfte Buch seines großen Lehrwerks den Fragen solcher performativen Darbietung und hebt insbesondere die Wirksamkeit des sichtbaren Gefühlsausdrucks für eine erfolgreiche Gerichtsrede hervor (vgl. 1953, 284f). Gerade das Organ des Auges ist hier hilfreich, denn es ist mit Tränen ausgestattet, natürlichen Sendboten des Gefühls, wie es heißt, die Freude sowohl wie Trauer künden können. Der Verweis auf eine Verteidigungsrede des großen Cicero belegt zudem, wie wirkungsvoll es ist, wenn der Redner gar der Überwältigung durch seinen Schmerz erliegt und am Schluss behauptet, dass er vor Rührung schier nicht weitersprechen kann (auch dies, zumal in amerikanischen Gerichtsverhandlungen, eine bis heute viel geübte Strategie). Bei tränenerstickter Stimme erübrigen sich alle weiteren Worte, weil Körperzeichen ungleich stärker sprechen.
Das lehrt bereits Aristoteles, wenn er dem Redner empfiehlt, jenen Zustand des Mitleidens oder Jammers ("eleos") bei seinen Zuhörern zu erregen, den wir aus der Tragödie kennen, und dazu alles Leidvolle durch Gesten, Stimme und dramatische Aktion so lebhaft und so körperlich wie möglich zu vergegenwärtigen (1947, 228f). Hier steht das Theater Pate. Denn wann immer die Ausdruckskunst des Redners diskutiert wird, führen die Rhetoriker ausdrücklich den geübten Schauspieler als Beleg und Vorbild dafür an, wie die gekonnte öffentliche Vorführung der Affekte am eigenen Leib eine emotionssteuernde Wirkung aufs Publikum nicht verfehlen wird. Wer selber weint, steckt andere an, auch wenn sie derzeit eigentlich keinen echten Grund zum Weinen haben; die fiktionale Vergegenwärtigung des Leidens reicht hin, um in die beobachteten Tränen einzustimmen und sich damit emotional umstimmen zu lassen.
Daraus ergibt sich ein eigentümlicher Zusammenhang, den man als Paradox des Redners bezeichnen könnte. Seine persuasive Kraft ist umso größer, je mehr er seine Aussagen durch körperliche Emotionszeichen wie Tränen glaubhaft machen kann, deren Darbietung und Wirkung allerdings vom Schauspieler, dem professionellen Gefühlsvortäuscher, übernommen sind. Damit stehen seine Überzeugungsmethoden generell unter Simulationsverdacht und bleiben für eine Rhetorik der Aufrichtigkeit angreifbar. Was folgt aus solcher Affekt-Regie demnach für unseren Glauben an die Wahrhaftigkeit körperlich verbürgter Zeichen? Was bedeutet es insbesondere für Tränen, wenn sie so offensichtlich kalkuliert und adressatenorientiert zum Einsatz kommen können? Enthebt sie dies der beschriebenen Möglichkeit, zum Gelingen von Sprechakten so entscheidend beizutragen?
Mir scheint, das Gegenteil trifft zu. Die potentielle Täuschung bestärkt, ja bedingt im Grunde gar die echte Aussagekraft des Weinens. Nach Umberto Ecos Bestimmung von Semiotik ist alles das ein Zeichen, was zum Lügen taugt (vgl. Culler 1983, 114),3 denn nur unter der Bedingung, auch etwas Unwahres zu sagen, lassen sich Bedeutungsträger dazu einsetzen, überhaupt etwas zu sagen. Die Persuasion der Tränen als Element konventionalisierter Körpersprache setzt somit ihre Simulationsmöglichkeit allererst voraus, und die schauspielerische Imitation schafft damit die Voraussetzung zu wahrer Mitteilung durch Weinen. Bekanntlich wollten Austin und Searle Sprechakte auf der Bühne von ihrer Untersuchung ausnehmen, weil sie imitativ, leer und gegenüber eigentlicher Kommunikation parasitär seien. Doch bekanntlich ist dagegen eingewendet worden, dass erst ein solches Rollenmuster, wie es die Schauspielerei bereitstellt, den ernsthaften Vollzug von Sprechakten ermöglicht.
Das hat Konsequenzen, die schon von den antiken Autoritäten gezogen und daher auch im Gefühlsdiskurs der Renaissance vielfach diskutiert worden sind. Wer beispielsweise in der Rhetorik des Aristoteles an der zitierten Stelle weiterliest, stellt fest, dass die Tränen, zu denen sich ein Publikum vom Redner oder Bühnen-Darsteller in "eleos" rühren lässt, offenbar umso heftiger und stärker fließen, je weniger die Weinenden tatsächlich Grund zum Trauern haben. Denn nicht anders als im Tränenkino Hollywoods werden die eigenen Körpersäfte, wie wir hier lernen, nicht durch Leiden, sondern vornehmlich durch 'Mit'-Leiden, d.h. durch den Anblick eines anderen und distanzierten Schmerzes freigesetzt. Wer dagegen selbst wirklich betroffen ist, bleibt stumm. Darin stimmen alle zitierten und viele weitere der einschlägigen Autoren überein: dass die Klimax größter Trauer Schweigen sein muss, da sie die Ausdrucksmittel unseres Körpers übersteigt.
Dieser anthropologische Grundgedanke, den man vielleicht als Unklagbarkeitstopos bezeichnen könnte, wird bei Aristoteles in Form einer Modellgeschichte übermittelt und begründet, die auf Herodot zurückgeht und seither vielfach nacherzählt worden ist. In der europäischen Renaissance findet sie sich in Montaignes Essai "Über die Traurigkeit" (1998, 11) in folgender Version:
"Als der ägyptische König Psammetich, vom Perserkönig Kambyses geschlagen, in dessen Hände gefallen war und eines Tages seine ebenfalls in Gefangenschaft geratne Tochter auf dem Weg zum Wasserschöpfen als Dienstmagd gekleidet vorübergehen sah, blieb er im Gegensatz zu seinen Freunden, die um ihn herum zu weinen und wehklagen begannen, völlig gefaßt und hielt den Blick, ohne ein Wort zu sagen, starr zu Boden gerichtet. Selbst als man bald darauf vor seinen Augen seinen Sohn zur Hinrichtung führte, bewahrte er die gleiche Haltung. Da aber erblickte er unter den Gefangnen, die gerade weggeführt wurden, einen seiner Vertrauten, und nun erst begann er sich ans Haupt zu schlagen und äußersten Schmerz zu bekunden."
Die körperliche Schmerzkundgabe durch Tränen findet demnach gerade nicht statt, wenn uns eigenes, sondern erst wenn anderes Leid, das uns vor Augen tritt, begegnet. Kambyses, so wird weiterhin berichtet, wundert denn auch das Verhalten des Psammetich, und er erkundigt sich, warum dieser nur beim Anblick des gefangenen Freundes weint: "Darum," antwortet er, "weil nur dieses letzte Leid sich in Tränen zu offenbaren vermag, während das der ersten beiden Schicksalsschläge jedes Maß des Ausdrückbaren weit überschreitet."
Aus dieser klassischen Geschichte lässt sich eine Einsicht für die Wirkungstheorie fiktionaler Tränen gewinnen, die, wie mir scheint, auch die Erscheinungsformen und Erfahrungen des uns vertrauten Tränenkinos deuten hilft. Dies ist es, was ich als "mimetisches Beweinen" bezeichnen und mit diesen Ausführungen kurz begründen will.
Psammetichs Tränen fließen für den Freund und fließen so anstelle von dessen eigenen Tränen. Denn wenn die Modellgeschichte stimmig ist, kann jener ja den eigenen Jammer ebenso wenig körperlich zum Ausdruck bringen, wie Psammetich zuvor den seinen. Daraus folgt, dass Weinen in einem Dreiecksmodell operiert, weil die körperliche Entäußerung der Träne nicht einem unmittelbaren Anlass gilt, sondern einem vermittelten, der zuschauend mitvollzogen wird. Der weinende Dritte nimmt als Augenzeuge teil und bezeugt durch seine Tränen, dass er, was ihm dargeboten wird, als Darstellung von eigenem Leid erkennt. Wie Aristoteles an der zitierten Stelle schreibt, rührt uns stets das am stärksten, was uns die Vorstellung, die uns am meisten schreckt, vergegenwärtigt.
Wenn Tränen also in dieser Weise mimetisch vermittelt sind, lassen sich die eingangs genannten Beobachtungen – wie Madelon Sprengnethers Bekenntnisse in Crying at the Movies – wohl besser einordnen. Die Wirkungskraft von offenbar gespielten Bühnen-Tränen klärt sich ebenso wie auch die oft bezeugte ansteckende Wirkung des Weinens, die nicht eigentlich zu verstehen wäre, wenn Tränen nur als Ausdruck eigenen Schmerzes gelten sollten. Dagegen ist das Dreiecksmodell des mimetischen Beweinens in dieser Richtung anschlussfähig, da jeder Weinende ja selbst zum Beobachteten werden und somit seinerseits beweint werden kann. Und noch das große Kino der Gefühle zehrt, wie ich abschließend spekulieren möchte, von jener Stellvertreterkraft der Tränen-Mimesis, der sich selbst harte Männer, wie der Bischof weiß, nicht widersetzen können – und sei es für die Dauer eines Films.
Culler, Jonathan (1983) On Deconstruction. London: Routledge.
Döring, Tobias (2001) How to do things with tears: Trauer spielen auf der Shakespeare-Bühne, in: Poetica 33 (2001), Heft 3-4, S. 355-389.
Elkins James (2001) Pictures & Tears. A History of People Who Have Cried in Front of Paintings. London, New York: Routledge.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 40, 16. Februar 2002, S. 50.
The Institutio Oratoria of Quintilian (1953) trans. H.E. Butler. Cambridge/Mass., London, Bd. 4
Lange, Marjorie (1996) Telling Tears in the English Renaissance. Leiden, New York, Köln.
Levinson, Stephen C. (1983) Pragmatics. Cambridge: Cambridge UP.
Lutz, Tom (1999) Crying. The natural and cultural history of tears. New York: Norton.
Montaigne, Michel de (1998) Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M.: Eichborn.
The Norton Shakespeare (1997) ed. Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Jean E. Howard, Katherine Eisaman Maus. New York: Norton.
Paster, Gail Kern (1993) The Body Embarrassed. Drama and the Disciplines of Shame in Early Modern England. Ithaca: Cornell UP.
Sprengnether, Madelon (2002) Crying at the Movies. A Film Memoir. Saint Paul, Minnesota: Graywolf Press.
Aristotle (1947) The Art of Rhetoric, trans. John Henry Freese. Cambridge/Mass., London.