Die Rede vom Kino vor und nach der Filmsemiologie
Was einem an der Kinematographie als erstes auffällt, das sind die Bilder und die Bewegung. (...) Aber eine genauere Analyse muss sich anderem zuwenden, nämlich dem menschlichen Bereich, auf den diese Instrumente wirken, und den Konsequenzen, die sich aus dieser Einwirkung ergeben müssen. Mit anderen Worten: wir gehen nicht von der Herstellung des Films aus, sondern vom Konsum des Schauspiels. (Cohen-Séat 1946, 34)
Die Semiologie des Films ist ebenso wie die Semiologie irgendeines anderen Gegenstands, eine Untersuchung von Diskursen oder von Texten. (Metz 1971, 13)
In opposite of the notion of film as text, I have found it helpful to conceive of cinema as event. Viewed as a macro-event, cinema is still seen as centered on the individual film, but according to a new type of geometry. Floating in a gravity-free world like doughnut-shaped space ships, cinema events offer no clean-cut or stable separation between inside and outside or top and bottom. (Altman 1992, 2-3)
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als führten die vorangestellten Zitate der Theoretiker Gilbert Cohen-Séat, Christian Metz und Rick Altman auf völlig unterschiedliche Terrains. Eklektisch markieren ihre Namen drei Punkte in einem Territorium heterogener filmtheoretischer Ansätze, die nach 1945 entstanden sind. Auf den zweiten Blick wird aber erkennbar, dass es einige Verbindungen der Ansätze gibt, ja sogar eine Art Netzwerkstruktur, in der diese in verschiedener Hinsicht miteinander kommunizieren. Die Verbindung der Ansätze kommt durch eine Fragestellung zustande. Einfach gesagt ist es die Frage: Was sollen wir in Bezug auf Film und Kino beachten? Welches ist der Gegenstand unseres Forschens?
Eine ausführliche Deskription von Kino als Gesamtkomplex stammt von Gilbert Cohen-Séat. Im Jahr 1946 zunächst unter dem Titel Introduction générale erschienen, wird der Text 1957 in einer zweiten Auflage unter dem Titel Essai sur les Principes d'une Philosophie du Cinéma veröffentlicht. Cohen-Séat beschreibt das Kino als ausgedehnten Komplex von Sachverhalten, organisiert in zwei Gruppen: dem fait filmique und dem fait cinématographique. Aus dieser Perspektive auf das Kino und seine Tatbestände bildet Cohen-Séat eine Serie von Begriffen, welche die Voraussetzung für die systematische Erforschung von Film und Kino bilden sollen. Ein Jahr nach der Erstveröffentlichung des Essays nimmt 1947 die Zeitschrift Revue Internationale de Filmologie ihre Arbeit auf. Neben der Zeitschrift, die Monographien und Einzelstudien zu Film und Kino versammelt, ist die sogenannte Filmologie von 1948-1963 mit einem Institut an der Pariser Universität vertreten, als deren Direktor Cohen-Séat verantwortlich zeichnet, der auch der Redaktion der Zeitschrift vorsteht.1Christian Metz greift 1971 in Langage et Cinéma die Ausführungen Cohen-Séats auf, insbesondere die Unterscheidung zwischen fait filmique und fait cinématographique. Während Cohen-Séat die kinematographischen Tatbestände zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Filmologie erklärt, siedelt Metz die semiologische Filmforschung auf der Seite des fait filmique an. In Rick Altmans Text Cinema as event (1992) findet Cohen-Séats Forderung, das Kino zu berücksichtigen, eine zeitgenössische Entsprechung. Forderte Cohen-Séat vor der Filmsemiologie (und mithin vor Metz) eine Bezugnahme der Filmwissenschaft auf das Kino, tritt Altman nach der Filmsemiologie für ein Verständnis von Kino als Ereignis ein.
Trotz aller Ähnlichkeit in Bezug auf die Forderung, die Filmwissenschaft möge das Kino nicht vergessen,2 liegt die Vermutung nahe, dass nicht alle drei vom gleichen Verständnis des Kinos ausgehen. Welche Konstruktionen des Kinematographischen formulieren die drei Ansätze? Oder anders: Was ist Kino?
In seinem 1946 erschienenen Essai sur les Principes d'une Philosophie du Cinéma plädiert Gilbert Cohen-Séat für eine Beschäftigung mit den „kinematographischen Tatbeständen“ des Films. Was an der Kinematographie als erstes auffalle, seien die Bilder und die Bewegung.
Aber eine genauere Analyse muss sich anderem zuwenden, nämlich dem menschlichen Bereich, auf den diese Elemente wirken und den Konsequenzen, die sich aus dieser Einwirkung ergeben müssen. Mit anderen Worten: wir gehen nicht von der Herstellung der Filme, sondern vom Konsum des Schauspiels aus. (Cohen-Séat 1946, 34)
Was beim ersten Lesen wie ein Plädoyer für die Betrachtung von Filmen aus der Perspektive ihrer Rezeption erscheint, geht weiter, indem es die räumliche Dimension des Kinos (Zuschauerraum, Vorraum) und die kulturelle Dimension des Kinobesuchs (ins Kino gehen, das Verlassen des Kinos nach dem Film, Kleidung der Kinogänger, etc.) mit einbezieht. Kino wird als Phänomen beschrieben, das verschiedene Bereiche der Kultur integriert. Um das Kino in seiner Heterogenität zu erforschen, bedarf es einer Ordnung, in der einzelne Bereiche von anderen unterschieden werden. In gezielten Einzelstudien zum Kino sollen Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie, Linguistik, Geschichte mit einfließen. Diese Spezialisierung reagiert auf die Komplexität der im Kino zusammenkommenden Ausdrucksformen und Phänomene. Erst im Zusammenspiel verschiedener Studien (ausgehend von Eisenstein ließe sich hier der Gedanke der Montage bemühen) ist erforschbar, was Cohen-Séat als essentiell erachtet. In der Beschreibung des Kinos als Gesamtkomplex geht Gilbert Cohen-Séat von einer Einheit von Raum und Zeit aus. Z.B. unterscheidet er Sachverhalte, die vor dem Film, nach dem Film und währenddessen relevant werden, voneinander.
In formaler Hinsicht besteht der filmische Tatbestand darin, das Leben mittels eines determinierten Systems von Bildkombinationen darzustellen: äußeres und inneres Leben, Imagination oder lebende Dinge und Wesen. (...) Das Wesen des kinematographischen Tatbestandes bestünde demgegenüber darin, innerhalb menschlicher Gruppen eine Reihe von Dokumenten, Empfindungen, Ideen und Gefühlen in Umlauf zu bringen, das heißt, Materialien, die dem Leben entnommen sind, werden mit filmischen Mitteln gestaltet. (Cohen-Séat 1946, 35)
Die Untersuchung von Werken der Filmgeschichte analog zu den traditionellen kunstwissenschaftlichen Analysen, wird nicht nur erweitert, sondern im Rahmen bestimmter neuer Voraussetzungen angegangen, die eher kultureller oder massenkommunikativer Art sind, wozu sich Cohen-Séat dann zu Beginn der 60er Jahre auch ausdrücklich bekennen wird. Gelten seine Interessen bereits in dem frühen Essay vornehmlich den kinematographischen Tatbeständen, werden sie sich später immer mehr diesem Aspekt zuwenden.3
Christian Metz greift in Langage et cinéma das Verhältnis von Film und Kino auf, das bis dahin – zumindest seinen damaligen Ausführungen zufolge – keiner trennscharfen Unterscheidung unterliegt. Der Text steht im Dienst der Begründung des Forschungsgegenstands der damals im Aufbau begriffenen Filmsemiologie. Langage et cinéma gilt als Hauptwerk der sogenannten ‚ersten Semiologie‘, in der die zentralen filmsemiologischen Begriffe, welche bis heute zu den Schlüsselbegriffen der Filmwissenschaft zählen, erstmals systematisch erarbeitet und präsentiert werden.4
Das Begriffspaar film/cinéma wird zunächst anhand seiner umgangssprachlichen Verwendung als „weites und differenziertes sozio-kulturelles Phänomen“ skizziert, als
eine Art totales fait social im Sinne Marcel Mauss`, das bekanntlich wichtige ökonomische und finanzielle Aspekte einschließt [...] als Komplex, der, wenn man ihn auf einmal zu fassen versucht, keine genaue und einheitliche Untersuchung, sondern nur eine ungeordnete Anhäufung von Bemerkungen von vielfältigen und unterschiedlichen Standpunkten her zulässt. (Metz 1971, 9)
Im ersten Schritt der Argumentation erfolgt die Teilung des als heterogen ausgewiesenen Feldes Film/Kino unter Bezugnahme auf Gilbert Cohen-Séats Unterscheidung zwischen dem fait filmique und dem fait cinématographique. Während Cohen-Séat eine phänomenologische Perspektive einnimmt und das fait cinématographique als maßgeblichen Forschungsgegenstand herausstellt, bezieht sich Metz in seinen Ausführungen explizit auf das fait filmique. Die Zurückweisung des Kinos als möglichem Forschungsgegenstand der Filmsemiologie positioniert sich jenseits von ontologischen Ansätzen zu Film und Kino und trägt stattdessen pragmatische Züge. Die ontologische Frage nach dem Spezifikum von Film und Kino, welche die klassische Filmtheorie über weite Strecken auszeichnet, wird auf ein Terrain verschoben, auf dem das forschende Subjekt sowie die Reichweite der Methode eine zentrale Rolle spielen.5 Plastisch in diesem Zusammenhang ist der Verweis auf die Position des „Filmtheoretiker(s)“, der jenseits der Teilung von Film und Kino über enzyklopädisches Wissen und eine nahezu universelle methodologische Ausbildung verfügen müsste:
Er (der (sic!) ‚Filmtheoretiker‘, S.N.) soll die wichtigsten, in der ganzen Welt seit 1895 gezeigten Filme und die hauptsächlichen Filmströmungen kennen (er ist also Historiker); selbstverständlich bemüht er sich auch, ein Minimum an Kenntnissen über die ökonomischen Bedingungen ihrer Produkution einzusammeln (jetzt zeigt er sich als Ökonom); zudem versucht er zu erläutern, worin und auf welche Weise ein Film ein Kunstwerk ist (inzwischen ist er also Ästhetiker geworden), ohne dabei vergessen zu dürfen, ihn als eine Art Diskurs zu betrachten (diesmal ist er Semiologe); häufig genug glaubt er sich zu reichhaltigen Bemerkungen über die psychologischen, psychoanalytischen, sozialen, politischen und ideologischen Sachverhalte, auf die die einzelnen Filme anspielen und aus denen sich ihr eigentlicher Inhalt herausschält, verpflichtet: diesmal ist es nicht weniger als ein umfassendes anthropologisches Wissen, das potentiell gefordert wird. (Metz 1971, 10)
Die Teilung von Film und Kino bildet den ersten Schritt in der Argumentation von Metz. Dabei stehen zwei mögliche Perspektiven auf Film/Kino, beide konzipiert im Hinblick auf die Konstituierung eines Forschungsgegenstands, einander gegenüber. Während Cohen-Séat die kinematographischen Tatbestände als Untersuchungsgegenstand der Filmologie denkt, etabliert Metz die Betrachtung von Film als Textualität, wenn er schreibt, „die Semiologie des Films ist ebenso wie die Semiologie irgendeines anderen Gegenstands, eine Untersuchung von Diskursen oder von ‚Texten‘.“ (Metz 1971, 13) Anders gesagt: in Metz' Text Langage et cinéma, der Gründungsschrift einer bis Ende der 80er Jahre weit über Frankreich hinaus dominanten theoretischen Strömung der Filmtheorie und Wissenschaft – u.a. der feministischen Filmtheorie6 – wird das Kino zugunsten der Etablierung des Films als Forschungsgegenstand der Filmsemiologie zurückgestellt.
Neben der Teilung des bisweilen noch heute als nebulös geltenden Feldes Film/Kino, unternimmt Metz einen zusätzlichen Schritt, indem er die von Cohen-Séat geprägten Begriffe fait filmique und fait cinématographique in einem anderen Sinn verwendet, sie sozusagen umprägt oder verschiebt. Auf diese Weise gerät das Kino, welches als möglicher Erkenntnisgegenstand der Filmsemiologie zunächst zurückgewiesen worden war, erneut und unter veränderten Vorzeichen in den Blick. Während Cohen-Séat das Kino als ein dem Film äußerliches Phänomen beschreibt, das den Film umgibt, rekurriert Metz, bezugnehmend auf den konventionellen Sprachgebrauch des Begriffs cinéma, der sich als weitaus umfassender erweist, auf ein Verständnis von „cinéma im Inneren des fait filmique“. Das Innere des fait filmique umfasst die „Gesamtheit der Filme und sodann ein einzigartiges System, das diese Gesamtheit zusammenfassen soll.“ (Metz 1971, 42) Metz' Lektüre der Begriffe Cohen-Séats kann als dekonstruktivistische Lektüre gelten, der Gestus bleibt beschreibend und die Zurückweisung des fait cinématographique steht rhetorisch im Dienst der Verschiebung des Verhältnisses von Film und Kino.
Wir haben der Tatsache, dass ‚cinéma‘ in der Umgangssprache häufig Phänomene bezeichnet, die dem filmique innerlich sind, einige Bedeutung zugemessen. (...) Cohen-Séat hat nicht ausreichend bemerkt, dass der Film sich auf zweifache, und zwar verschiedene, Weise vom cinéma abhebt: zum einen von aussen her: der Film stößt das cinéma als etwas, was nicht zu ihm gehört, was ihn nur umgibt, von sich (und das bedeutet cinéma bei Cohen-Séat) -; und zum anderen von innen her: der Film beschreibt das cinéma als etwas, das er selbst in sich hat, aber nicht ausschließlich ist (und das ist das Kinematographische in dem Sinn, der hier vorgeschlagen wurde). (Metz 1971, 51)
Anhand der Perspektive des cinéma im Inneren des fait filmique rückt etwas in den Blick, das jenseits der Dichotomie Film/Kino ‚kinematographisch‘ genannt werden kann.
Der semiologische Ansatz lässt, wie wir gesagt haben, die Phänomene, die Cohen-Séat kinematographisch nennt, ‚beiseite‘. Wie sich jetzt zeigt, ist es angemessener zu sagen, dass die Semiologie die Untersuchung dieser Phänomene nicht direkt in Angriff nimmt, sondern dass sie ihnen am anderen Ende begegnet und dass sie sich mit ihrer Anwesenheit im Herzen des Films befasst; wenn das cinéma, das im Film eingetaucht und aufgelöst worden war, selbst zum Gegenstand der Sprache und des Diskurses wird, kann die Semiologie sich nutzbringend mit ihm befassen. (Metz 1971, 52)
Metz' Idee des cinéma im Inneren des fait filmique bringt das Kino als diskursive Position hervor: weder die Apparatur (Baudry7), noch die spezifische Wahrnehmungssituation des Zuschauers (Kracauer8, Barthes9) werden als mögliche Säulen des Kinematographischen angeführt. Das Kino, welches Cohen-Séat anhand seiner tatsächlichen raumzeitlichen Anordnung beschrieb, ist nach Metz zusätzlich auch im Diskurs der Filme, also unabhängig von seiner raumzeitlichen Anordnung lokalisierbar. Mit der Verschiebung der Begriffe fait filmique und fait cinématographique streicht Metz die Frage nach den Säulen des Kinos, nach seiner Seinsbestimmung durch und legt den Fokus auf die Entzifferung der Filme. In der Lektüre des einzelnen Films zeigt sich das cinéma als Summe aller Filme der Filmgeschichte und gleichsam als deren Klebstoff. Das cinéma scheint in Momenten der Wahrnehmung des Films auf. Im Unterschied zu Kracauers10 Ausführungen zur „physischen Realität“ als Instanz des eigens Filmischen, die sich dem Zuschauer in Momenten der Filmwahrnehmung zeigt und die an den Ort des Kinos, die Dunkelheit des Raums, rückgebunden ist, entfaltet Metz in seinem Text ein Verständnis von Kino unabhängig von seiner traditionellen raumzeitlichen Ordnung.
Es mag kein Zufall sein, dass Metz' Text keine nähere Beschreibung der möglichen Gestalt des cinéma im Inneren des fait filmique aufweist. Das Kino wird als Produktivität konzipiert, dessen Gestalt dynamisch ist. Als Bedingung der Möglichkeit des Films entzieht es sich einer festen Beschreibung: das cinéma entzieht sich der Beschreibung (das ist ein alter Gedanke) – es soll gar nicht beschrieben werden (das war/ist das Neue), sondern es zeigt sich / es ereignet sich / es spricht sich / es findet statt. Die Gemeinsamkeit zwischen den Überlegungen von Cohen-Séat und Metz besteht besonders darin, dass beide auf das Kino Bezug nehmen und dieses explizit in ein Verhältnis zum Film stellen. Fokussiert die Filmologie (Cohen-Séat) die wissenschaftliche Betrachtung des fait cinématographique, konzentriert sich die Filmsemiologie vornehmlich auf das fait filmique.
Rick Altman konzipiert das Kino in seinen verschiedenen Dimensionen als Gesamtkomplex und setzt es zu dem seit den 70er Jahren etablierten Textparadigma der Filmwissenschaft in Opposition. Als Einleitung einer Anthologie mit dem Titel Sound Theory / Sound Practice steht der Text im Dienst der Etablierung einer grundsätzlich neuen Perspektive. Anstatt in Sound- und Filmwissenschaft weiter vom Film (film as text) auszugehen, schlägt Altman einen Wechsel der Perspektive auf das Kino (cinema as event) vor. Das Kino wird dabei in Abgrenzung zum Filmtext konzipiert. Dem textzentrierten Universum der traditionellen Filmwissenschaft wird erneut das Verständnis von Kino als komplexes kulturelles Gefüge gegenüber gestellt, welches bei Altman11 Eigenschaften umfasst und unter den Begriff des Ereignisses gefasst wird.
Das Textparadigma der Filmtheorie wird bei Altman als Ellipse zusammengefasst, in deren Zentrum der Filmtext plaziert ist. Drei konzentrische Ringe, auf denen verschiedene Bezugssysteme (Kultur, Produktion, Rezeption) wie Planeten um die Sonne kreisen, umgeben den Filmtext. In der Geometrie des Kinoereignisses, die Altman alternativ zum Universum des Textparadigmas konzipiert, wird der Filmtext anders positioniert. Flottierend wie doughnut-förmige Raumschiffe in der Schwerelosigkeit, erlaubt das Kinoereignis keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Aussen, Oben und Unten. In dieser dreidimensionalen Moebiusschleifen-Welt bildet der Filmtext nicht länger den Fixpunkt. Stattdessen, wie das Nadelöhr im Zentrum eines Stundenglases, wird der Filmtext nur mehr als Durchgang zwischen zwei V-Formen konzipiert, von denen sich die eine zur Produktionsseite hin öffnet, die andere zur Rezeptionsseite. Die Idee dabei ist, dass ein komplexer Kosmos im Laufe der gesamten Produktionsphase mit sämtlichen Stadien (Idee, Drehbuch, technische Möglichkeiten, Finanzierung, Produktion) einen Durchgang durchläuft, den man traditionell als Filmtext angesehen hat, um sich im nächsten Moment im Prozess der Rezeption wieder in den kulturellen Raum auszuweiten. Der Filmtext, nun nicht mehr zentraler Forschungsgegenstand, sondern nur mehr Zwischenstück oder Passage zwischen Produktion und Rezeption, hat weder eine eigene Gestalt noch Materialität.
In der Schwerelosigkeit, in der Altman das Kinoereignis ansiedelt, ist das Stundenglassystem stets umkehrbar. Wie die Produktion durch den Text hindurch in Richtung Rezeption fliegt, so beeinflusst die Rezeption umgekehrt die Produktion. Beide ‚Vs‘ öffnen sich in einen kulturellen Raum wo sie andere Kinoereignisse in sich aufnehmen, selbst wiederum auf ein jeweils anderes ‚V‘ verweisend. Die gegenseitig aufeinander verweisenden ‚Vs‘ widersetzen sich einer genauen Unterscheidung zwischen Innen und Aussen/Oben und Unten und insofern kann das Kinoereignis nicht durch einen privilegierten Einzelaspekt des Systems repräsentiert werden. Stattdessen konstituiert es sich aus dem kontinuierlichen Austausch, ohne Anfang und Ende und spezifischem Punkt. Weder eine festgelegte Flugbahn charakterisiert diesen Austausch, noch ist es möglich vorauszusehen welcher Aspekt des Systems welchen anderen Aspekt beeinflusst.
Wie könnte man dieses Modell kommentieren? Auf einer semantischen Ebene führt das Bild von den fliegenden Doughnuts in den Eingangsbereich populärer Großkinos mit ihren überdimensionalen Portionen von Cola und Popcorn (in den USA auch Doughnuts) und dem süßlichen Duft, der dort vorherrscht. Die teigige Konsistenz des Gebäcks (anstatt der festen, aufgepoppten beim Popcorn) erinnert an die weichgepolsterten Sessel der Großkinos, die Teil einer Kinokonzeption sind, die dem Zuschauer eine luxuriöse und möglichst störungsfreie Rezeption bieten wollen. In seiner durch den Flug bedingten Verformung zur Ellipse, ist der Doughnut schließlich auf den ersten Blick als teigiges Äquivalent des (ebenfalls als Ellipse gefassten) Paradigmas der Filmwissenschaft erkennbar. Die fliegenden Doughnuts als süße Entsprechung der (ansonsten bitterernsten) Filmwissenschaft changieren zwischen Wissenschaft und Pop.12
Für meine Argumentation lassen sich vor allem zwei Aspekte herausstellen. Altmans Modell enthält eine utopische Dimension, indem es einen Raum ohne Grenzen imaginiert. Dieses Modell ist insofern verlockend, als es, zumindest auf den ersten Blick betrachtet, nicht im Sinne einer Definition funktioniert, sondern einer Produktion. Das eigentlich Interessante scheint mir aber nicht die utopische Dimension zu sein. Denn diese basiert auf der traditionell dichotomen Anordnung von Filmtext und Kinoereignis und schreibt damit die alte Vorstellung vom „Chaos der Bilder (und der) Ordnung des Textes“13 fort. Bemerkenswert dagegen ist der Rückgriff dieser Kinotheorie auf ein grafisches Modell. Das Ereignis des Kinos wird nicht lediglich in Worten beschieben, sondern ‚übersetzt‘ in eine Grafik und als theoretische Geometrie präsentiert. Zweitens ist die Tatsache interessant, dass die filmischen und kinematographischen Tatbestände nicht im Hinblick auf reale Gegebenheiten des Kinos beschrieben werden (Phänomenologie), sondern im Hinblick auf bestehende Diskurse im kulturellen und gesellschaftlichen Feld. Nicht filmische und kinematographische Tatbestände sind Gegenstand dieser Kinotheorie, sondern Paradigmen der Kultur-, Gesellschafts- und Filmwissenschaft, die sich auf den Film (film as text) bzw. auf das Kino (cinema as event) als Forschungsgegenstand beziehen.
Cohen-Séat beschreibt die kinematographischen Sachverhalte, die es zu erforschen gilt. Die Forschung wird dieser Idee nach von verschiedenen Disziplinen geleistet. Im Sprachgebrauch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ließe sich dieses Modell als eine Art ‚Forschergruppe‘ zum Kinoereignis beschreiben, oder auch als ‚transdisziplinärer Ansatz‘ zur Erforschung des Kinoereignisses. Legt man diese Perspektive an, erweist sich Cohen-Séats Ansatz zum Kino als anschlussfähig an heute gängige Forschungsperspektiven. Davon abgesehen und für meine Fragestellung ist aber vor allem interessant, dass Cohen-Séat anstatt das Kinoereignis zu beschreiben, sich darauf beschränkt, einzelne Sachverhalte zu nennen, deren Erforschung das Kinoereignis erst zutage fördert.
Bei Metz kehrt etwas ähnliches wieder. Auch hier wird in keinem Moment der Versuch gemacht, das Kinoereignis als solches zu beschreiben. Metz radikalisiert Cohen-Séats Position, indem er die kinematographischen Tatbestände (welche Cohen-Séat zum Untersuchungsgegenstand deklariert) zugunsten der filmischen Tatbestände zurückweist. Das Kinoereignis ist folglich nicht nur nicht-beschreibbar, wie bei Cohen-Séat, sondern es lässt sich auch (zumindest mit den Mitteln der Filmsemiologie, von denen Metz ja ausgeht) nicht anhand seiner Tatbestände erforschen. Altman geht von den Paradigmen der Filmwissenschaft aus und wechselt, indem er das Kinoereignis als theoretische Geometrie (fliegende Doughnuts im gravitationsfreien Feld) vorführt, von der Ebene des Sagens auf die des Zeigens über.
Vergessen wir nicht – das Kino! Verfolgt man den Gestus, mit dem Cohen-Séat, Metz und Altman dem Kino (wieder) einen Platz in der Filmwissenschaft einzuräumen suchen, gerät die Grenze des Sagbaren in den Blick. Die Frage „Was ist Kino?“, die Bazin stellte und die Karsten Witte Jahre später in Anspielung auf Kracauer mit der Bemerkung beantwortete, es gäbe zwar eine Theorie des Films aber eine Theorie des Kinos gäbe es nicht, lässt sich aus der hier eingenommenen Perspektive vorläufig wie folgt beantworten: Cohen-Séat beschränkt sich auf die Beschreibung einzelner Sachverhalte, deren Erforschung das Kino erst hervorbringt und siedelt das Kino dementsprechend in der Zukunft an; Metz zufolge ist das Kino für die Filmsemiologie nur dann als Forschungsgegenstand denkbar, wenn es als Spur im Filmtext lokalisierbar geworden ist. Erst wenn es stattgefunden und sich als Summe aller Filme in den Filmtext eingeschrieben hat – also aus einer zeitlichen Distanz heraus – wird das Kino anhand von Spuren greifbar. Das Kino ist als ein Zukünftiges (Cohen-Séat) oder ein Vergangenes (Metz) beschreibbar und ist als Gegenwärtiges (Altman spricht von event) nur über Umwege – z.B. den Umweg der Visualisierung als fliegende Doughnuts – darstellbar.
Auch wenn es verkürzt erscheint, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Film und Kino als Wechsel zwischen unterschiedlichen Paradigmen zu betrachten, so läßt sich doch resümieren, dass es sich in der Regel um eine dichotome Anordnung handelt, in der entweder der Filmtext oder das Kino privilegiert werden. Im folgenden soll ein Ansatz skizziert werden, der beide Stränge in einer Verbindung und wechselseitigen Beziehung fruchtbar macht. Dies soll beispielhaft an einem Film und an einem Text zu diesem Film geschehen.
BONJOUR TRISTESSE (R: Otto Preminger, USA 1958) wird in der Literatur in mehrfacher Hinsicht als herausragender Film gewürdigt. Die Art und Weise, wie sich die Figuren im Raum bewegen, die Verstreuung des Zentrums in die Peripherie nimmt Ansichten vorweg, mit welchen die Filme der Nouvelle Vague wenige Zeit später experimentieren. Stilistisch, so wird gesagt, gehe Preminger im Vergleich zu anderen CinemaScope-Filmen der gleichen Zeit am weitesten und BONJOUR TRISTESSE sei der früheste Film, der die meisten Scope-Erneuerungen nutzt und weiterführt. Neben der visuellen Spannung zwischen Überschau und Detail, die zeigt, ohne hinzuweisen, wird die Erweiterung des Rahmens als Erweiterung des Raums um die Handlung herum als Besonderheit angeführt, welche z.B. das Nervöse und Zerrissene in der Geschichte verdeutliche.14 Um die Attraktion im Umgang mit dem Format nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, den Film im Kino zu sehen. Abgesehen davon, dass die ästhetische Wahrnehmung des Films im Kino spezifisch ist, kommt hier noch hinzu, dass das Bild auf der Videokopie beidseitig verkürzt ist. An einzelnen Bildern des Films kann man das sehen. In einer Szene z.B. sieht man eine Gesellschaft beim Sekttrinken. Im Vordergrund, nur für den Zuschauer sichtbar, trinkt eines der Hausmädchen genüsslich die abgestellten Gläser aus. Auf der Videokopie ist der Bildrand abgeschnitten und es ist lediglich der Ansatz des Arms zu sehen.
Durch die unterschiedlichen Zeitebenen des Films, die dem Zuschauer im Breitwandformat vor Augen geführt werden, werde die Leinwand, so Fritz Göttler, zu einer
magischen Box (...), in der die Stimmen und Töne von einst sich gefangen haben, und die, zum Zuschauer hin aufgetan, ihm die Schmerzen in Erinnerung bringt an all die Zeiten, die lang vorbei und erst in ferner Zukunft vielleicht wieder sein mögen. (Göttler 1993, S.124)
Diese Beschreibung ist beispielhaft für die Schwierigkeit, die Attraktion des Films BONJOUR TRISTESSE in Worte zu fassen. Überhaupt zeichnet die Kritiken eine gewisse Blumigkeit in der Ausdrucksweise aus. Häufig wird in Bezug auf BONJOUR TRISTESSE z.B. auch von ‚Meisterwerk‘ gesprochen. Frieda Grafe hat die Farbigkeit des Films hervorgehoben, die zwar unserer Alltagswahrnehmung entspreche, aber durch das Leuchten der Sonne und durch das Glitzern des Meeres an der „Blauen Küste“ eine paradiesische Irrealität entfalte. „Die Farbe erweitert die Geschichte, das Schwarzweiß sorgt für Stimmung, beides gleichsam fiktiv, beides stets am Rande der Plausibilität.“15 Ein weiterer Aspekt ist das Verhältnis von BONJOUR TRISTESSE zur Nouvelle Vague und Filmen wie LES QUATRE CENTS COUPS (R: François Truffaut, F 1959), À BOUT DE SOUFFLE (R: Jean-Luc Godard, F 1960) oder L`ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (R: Alain Resnais, F/I 1961). BONJOUR TRISTESSE ist zeitlich vor den genannten Filmen entstanden. Der Film nehme jedoch die Fragmentarisierung, die Zerstreuung, das Ausbrechen, Übertreten, Fliehen, Verschieben, Verlagern, das Sich-Spiegeln, vorweg. BONJOUR TRISTESSE unterscheide sich radikal von den Filmen, die Mitte der 50er Jahre in den USA und in Europa entstanden.16
Ließe sich BONJOUR TRISTESSE von hier aus als Kinoereignis klassifizieren? Verschiedene Indizien sprechen dafür: mit der Rede vom Meisterwerk ist der besondere Stellenwert des Films, seine Einmaligkeit angezeigt; die Einmaligkeit im Umgang mit dem Format und die Farbigkeit fordern die Kritiker zu Elogen heraus; auch läßt sich ausgehend vom Plot eine Richtung zum Ereignis aufzeigen, denn der Film erzählt die Geschichte eines Traumas, welches durch ein Ereignis, das vor unser aller Augen auf der Leinwand aufgerollt wird, hervorgerufen wurde. Dass ich den Film BONJOUR TRISTESSE ausgewählt habe, hat außerdem mit seiner Eigenschaft als Schwellenfilm zu tun. Historisch ist er vor dem Aufkommen des Autorenkinos der Nouvelle Vague zu situieren. Weiter gilt der Film als Vorläufer des ‚modernen Kinos‘,17 d.h. Filmen, die nach dem 2. Weltkrieg keine totalen Bilder mehr kennen, sondern ihre Bildhaftigkeit stets gleichzeitig mit ausstellen. Weiter läßt sich Otto Preminger als ein Regisseur der Schwelle bezeichnen. Er gilt als einer der umstrittensten und vielleicht auch streitbarsten Regisseure Hollywoods. Und ist gleichsam aber auch als unabhängiger Produzent und Autor hervorgetreten. Zwischen 1931 und 1979 dreht er insgesamt 37 Filme und gehört in den 30er und 40er Jahren zu den wichtigsten Regisseuren der Twentieth Century-Fox. In den fünfziger Jahren sagt er sich von der Hollywood-Hierarchie los. Im Katalog zur Preminger-Retrospektive der Berlinale 1999 wird das Werk Premingers in verschiedener Hinsicht gewürdigt:
Ab 1953 realisiert Preminger seine Filme als ‚freier‘ Produzent und Regisseur, bricht in der Auswahl seiner Stoffe oft soziale und politische Tabus, rebelliert gegen den amerikanischen Puritanismus und die Selbstzensur Hollywoods. Seine Filme, geprägt von einer obsessiven erzählerischen und ästhetischen Kraft und in ihrer Bildsprache bestimmt von Eleganz, Zynismus, ungefilterter Emotion und effektsicherer Show, gehören heute zum klassischen Kanon des amerikanischen Kinos.18
Liesse sich das Ereignis des Kinos, so könnte man einwenden, anhand von anderen Filmen – solchen mit offensichtlichem Ereignischarakter – nicht weitaus plastischer demonstrieren? Zum Beispiel anhand von neueren Actionfilmen oder Katastrophenfilmen des zeitgenössischen Hollywoodkinos wie INDEPENDENCE DAY (R: Roland Emmerich, USA 1996), ARMAGEDDON (R: Michael Bay, USA 1998), TWISTER (R: Jan de Bont, USA 1996)19, deren Präsenz der Bilder und Töne20 unvereinbar ist mit einer Deutung des Films als Zeichensystem und Text. Man könnte von hier aus noch weiter gehen und sagen, dass die Filme ihren Ereignischarakter nicht in einer Textualität, sondern an Orten entfalten. Wobei das Multiplexkino nur die Herberge für die Körper wäre, die in einem somatischen Geniessen den eigentlichen Ort des kinematographischen Ereignis ausmachen. Um den Ereignischarakter von Filmen herauszustellen, liesse sich weiter auf das frühe Kino verweisen.21 Die pure Überwältigung, die heute dem aktuellen Kino zugeschlagen wird, ist im übrigen nicht ganz so neu, wie sie zunächst scheint, bedenkt man die historisch erste Filmvorstellung der Brüder Lumière, als die Zuschauer vor den Bildern eines einfahrenden Zuges erschrocken aus dem Kino hinausgelaufen sein sollen.
Um den Ereignischarakter des Films BONJOUR TRISTESSE im Speziellen herauszustellen, ist ein Umweg nötig. Der Umweg führt über die Schrift. Konkret heißt das, dass dem Film ein kurzer Text, oder noch genauer, ein einzelner Satz aus diesem Text an die Seite gestellt wird. Der Satz handelt von der Fehllektüre des Films BONJOUR TRISTESSE. François Truffaut, damals Kritiker und Mitherausgeber der Zeitschrift Les Cahiers du cinéma gesteht in einer 1958 verfassten Besprechung zu BONJOUR TRISTESSE ein, als Kritiker an diesem Film gescheitert zu sein. Im letzten Drittel des vierseitigen Textes, nachdem bereits verschiedene Aspekte angesprochen worden sind - wie z.B. die Frage der literarischen Vorlage, die Vorliebe des Regisseurs für Details oder Premingers Arbeit mit der Schauspielerin Jean Seberg – wechselt der Text überraschend auf die Ebene der Selbstreflexion des Filmkritikers über, der seinen eigenen Text kommentiert.
Ich habe den Film nicht wirklich analysiert. Ist es mein Fehler, wenn er sich einem auf geheimnisvolle Weise entzieht? (Truffaut 1958, 119)
Das Eingeständnis des eigenen Scheiterns in einer Filmkritik ist ungewöhnlich. Was hat es mit diesem Satz auf sich? Der Satz markiert eine Leerstelle im Text. Mit Derrida22 ließe sich sagen, der Satz handelt von der unmöglichen Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen. Oder genauer: vom Kinoereignis des Films BONJOUR TRISTESSE. Etwas wird umkreist und doch verfehlt. Das Prinzip funktioniert aber auch umgekehrt. Erst indem Truffaut herausstellt, den Film mit seiner Lektüre verfehlt zu haben, wird dieser als Ereignis hervorgebracht. In welchem Dienst steht diese Inszenierung einer Fehllektüre? Diese Frage drängt sich auf, denn der Text des berühmten Kritikers der Zeitschrift Les Cahiers du cinéma stammt nicht etwa aus einem unveröffentlichten Nachlass, sondern wurde unter anderem in der Sammlung Die Filme meines Lebens publiziert.
Um zu klären, was es mit Truffauts Satz auf sich hat, lässt sich zunächst ein Zusammenhang mit dem Beginn der Nouvelle Vague herstellen. Truffaut schreibt den Text zu Premingers Film ein Jahr vor dem datierten Beginn der Nouvelle Vague. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die Verbindung zwischen BONJOUR TRISTESSE und der Nouvelle Vague besteht hier in der doppelten Rolle Truffauts als Kritiker und Filmemacher, dessen Film LES QUATRE CENTS COUPS 1959 als erster Film der Nouvelle Vague gefeiert wird. Unter Freunden sowie Kritikern gilt Truffauts Film als ‚Prototyp‘ des ‚neuen Films‘, von dem in den Cahiers du Cinéma seit einigen Jahren die Rede gewesen war und der den französischen, wenn nicht sogar den europäischen Film, erneuern sollte.23 Dass die Beschreibung der Filme des ‚Neuen Kinos‘ existierten, noch bevor die Filme entstanden, mag ein nachträglicher Effekt der Lektüre sein. Auf der anderen Seite eröffnet diese Einschätzung eine Perspektive auf Truffauts Text als Text im Dienst des Autorenkinos. Truffaut inszeniert den Film BONJOUR TRISTESSE als Kinoereignis, das sich der Analyse des Kritikers (und damit jeglicher Lektüre) entzieht. Damit eröffnet er eine Perspektive nicht nur im Hinblick auf die Filme, sondern auch im Hinblick auf die Betrachtungsweisen der Filme, die von hier aus nicht länger als geschlossenes Werk, sondern als Ereignis betrachtet werden können. Dieses Ereignis des Kinos wird in einer zweiten Geste, einer Geste der Schließung24, gleichsam wieder rückgebunden. Truffauts Text endet mit einer Eloge an die Schauspielerin Jean Seberg als Schauspielerin in einem Film des Regisseurs Otto Preminger.
Die Form ihres Kopfes, die Silhouette, der Gang, alles an ihr ist so vollkommen, und neu auf der Leinwand ist ihre Art Sex Appeal; sie ist auf den Millimeter genau geleitet, kontrolliert und geführt von ihrem Regisseur, der auch ihr Verlobter sein soll, was nicht überraschen würde, denn für eine solche Genauigkeit im Ausdruck, braucht es einfach Liebe. (Truffaut 1958, 120)
Die Leerstelle, die Truffaut in seinem Text zunächst eröffnet, wird mit Verweis auf den Regisseur als Autor zuletzt wieder geschlossen. Nicht der Film ereignet sich, sondern Preminger bringt das Ereignis des Films – Jean Seberg – hervor.
Die Rede vom Kino erfordert besondere Strategien - das legt die vorangegangene Lektüre von Ansätzen nahe, die aus unterschiedlichen Perspektiven Überlegungen zum Kino anstellen. Anstatt das Ereignis des Kinos in ‚neuen‘ Paradigmen25 zu aktualisieren – ein Schritt, den Truffaut am Ende seines Textes vollzieht, indem er das Ereignis des Films an die Autorschaft des Regisseurs rückbindet – ist es die Aufgabe der Filmwissenschaft, den Fokus auf seine Möglichkeitsbedingungen zu lenken und die Frage „Was ist Kino?“ zu verschieben hin zu der Frage „Auf welche Weise kann das Kinoereignis in der Sprache stattfinden?“ Das Ereignis des Kinos entzieht sich der einfachen Darstellung durch Sprache und geht weder in der Beschreibung der Apparatur auf noch in der Aufzählung seiner Tatbestände. Es stattdessen in Filmen und Texten26 zu lokalisieren, ist Sache der Filmwissenschaft, deren Medium die Sprache ist.
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