Konfigurationen der Fremdheit
In der interdisziplinären Kindheitsforschung (Childhood Studies) wird Kindheit nicht als naturgegebener Zustand verstanden, sondern als eine kulturelle Kategorie untersucht, die neben den Kategorien Gender, ‚Race‘ und Class der Zuschreibung von Differenz und Andersheit dient (vgl. u.a. Jenks 2005, Honig 1999, Montgomery 2009). Das Kind wird demnach in Abgrenzung zu Erwachsenen definiert: Es verkörpert das, was Erwachsene in Bildungsprozessen (glauben) hinter sich (zu) lassen und was im Prozess der modernen Zivilisation abgespalten wurde. In filmtheoretischen Diskursen ebenso wie in filmischen Kindheitsdarstellungen spielt dagegen ein phänomenologisches Verständnis von Alterität oder Fremdheit eine wichtigere Rolle. Dieses bezieht sich einerseits auf Kinder als Darsteller*innen, die gewissermaßen Fremdkörper im Getriebe des filmischen Erzählens sind (vgl. Kelleher 1998). Andererseits wird der Blick oder die Wahrnehmung von Kinder(figure)n mit Fremdheitserfahrungen in Verbindung gebracht (vgl. Lury 2010). Kinder, die die Wirklichkeit mit anderen Augen sehen, stehen oft für eine sinnlich-affektive Welterfahrung oder für eine besondere Empfänglichkeit für die Alterität der Wirklichkeit ein. Dementsprechend verkörpern Kinder auf narrativer Ebene nicht selten Figuren, die dem Fremden begegnen – seien dies imaginäre Welten, historische Traumata oder andere Kulturen.
Diese Konfigurationen der Fremdheit, für die der filmische Blick und der Anblick von Kindern steht, die also als eine filmspezifische Differenzbildung verstanden werden können, werde ich im Folgenden vorstellen. Sie lassen sich verdichtet in der medienreflexiven Kindheitsfigur der zuschauenden Kindergesichter aufspüren: In Dokumentar- und Spielfilmen – wie I BAMBINI CI GUARDANO (DIE KINDER SCHAUEN UNS AN, I 1944), LES QUATRE CENTS COUPS (SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN, F 1959), POR PRIMERA VEZ (FOR THE FIRST TIME, CU 1967), IM LAUF DER ZEIT (BRD 1976), СТАРШЕ НА ДЕСЯТЬ МИНУТ (TEN MINUTES OLDER, LT 1978), THE FIRST MOVIE (UK 2009) oder DEMI-TARIF (F 2003) – werden Kinderzuschauer*innen im Puppentheater, im Kino oder beim Fernsehen gezeigt, wobei die Gesichter selbst zum Schauplatz des Dramas werden. Die bis heute ungebrochene Faszinationskraft solcher Aufnahmen gründet nicht nur darin, dass hier die Wirkung kultureller Erfahrungen auf Kinder, ja, die Kulturerfahrung selbst, zur Anschauung gebracht und die filmische Zuschauerschaft gespiegelt wird. Sie liegt auch daran, wie sich die Kinder und das Medium Film gegenseitig zur Geltung bringen, wie die Andersheit des Kindseins und die Besonderheit des Mediums Film gleichermaßen hervortreten und in eins fallen. Wenn die Großaufnahme ein Gesicht zugleich vertraut und fremd erscheinen lässt und unsere Empathie anspricht, so verstärkt sich diese Wirkung im Gesicht eines Kindes, das nicht nur an uns als (mit-)fühlende Menschen, sondern auch an uns als (mehr oder weniger) verantwortungsbewusste Erwachsene appelliert (vgl. Henzler 2020). Aber nicht nur die Großaufnahme, auch das filmische Bewegungsbild und die filmische Blickstruktur werden gerade in der Darstellung von Kindern als Differenzerfahrungen reflektiert – Differenzerfahrungen, die auf der spezifischen Körperlichkeit von Kindern gründen und die verkörperte Zuschauererfahrung ansprechen.
Somit untersucht dieser Beitrag Kindheit als eine filmästhetische Differenzkategorie, wobei die genannten Aspekte des kindlichen Blicks und Anblicks im Vordergrund stehen. Ausgehend von der filmästhetischen Figuration der zuschauenden Kindergesichter in dem experimentellen Kurzfilm TEN MINUTES OLDER werde ich grundlegende Merkmale filmischer Kindheitsdarstellungen ausbuchstabieren, die eine Differenz zum Erwachsenen ebenso wie zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen markieren. Meine Befunde resultieren aus der Forschung zum europäischen Kindheitsfilm, lassen sich aber – wie ich durch punktuelle Querverweise verdeutlichen werde – auch in weiteren Filmen feststellen. Zur Kontextualisierung werde ich zunächst die in der Kindheitsforschung etablierte kulturelle Kategorie der Kindheit und deren Ausprägung in filmischen Narrativen skizzieren, um sie anschließend filmtheoretischen Überlegungen zur medialen Kategorie der Kindheit gegenüberzustellen. Das sich darin andeutende phänomenologische Verständnis des Films und des Kindes, weise ich dann – wie dargelegt – in filmästhetischen Konfigurationen der Kindheit nach. Dabei werde ich die Brauchbarkeit eines phänomenologischen Begriffs der Alterität bzw. Fremdheit zur Diskussion stellen, um die prinzipielle Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern zu berücksichtigen und um Differenz nicht nur als eine kulturelle Konstruktion, sondern auch als ein filmästhetisches Phänomen zu fassen.
Die seit den 1990er Jahren universitär etablierte interdisziplinäre Kindheitsforschung untersucht Kindheit als eine Kategorie, die durch soziale, kulturelle, historische Kontexte und Diskurse konstruiert ist und die Lebensbedingungen von Kindern in einer Gesellschaft bestimmt. In der europäischen Kulturgeschichte, in der Bildenden Kunst, in Literatur und Philosophie, aber auch in der Anthropologie oder Pädagogik, fungiert das Kind demnach seit der Antike als ein Gegenbild zum Erwachsenen, anhand dessen das jeweils gesellschaftlich dominierende Menschenbild bzw. die Vorstellung von menschlicher Subjektivität definiert wird (vgl. Richter 1987, Valentin 2004, Kennedy 2013).
Als Anderes wurde das Kind dabei häufig idealisiert oder verteufelt. In der christlichen Religion beispielsweise stehen das Jesuskind und die ihm gleichenden engelhaften Kinder, für eine besondere Nähe zum Göttlichen; die in Sünde geborenen, von Natur aus bösen oder teuflischen Kinder wiederum gelten als Vertreter*innen der Erbsünde (Richter 1996: 83–87). Seit dem Zeitalter der Aufklärung wird die besondere Nähe des Kindes zur Natur betont, die der zivilisierte Mensch im Prozess des Aufwachsens zum rationalen, autonomen Subjekt zu überwinden hat. Je nach ‚Bewertung‘ dieses Zivilisationsprozesses galt das Kind als wild, triebhaft, amoralisch, gar als böse und sollte im Zuge der Erziehung ‚gebändigt‘ und zivilisiert werden. Oder ihm wurde in der Romantik ‚Unschuld‘, eine besondere Weisheit oder Kreativität zugeschrieben, die erst durch das Hineinwachsen in eine moralisch verdorbene oder zweckrationale Gesellschaft verloren gegangen sei. Diese Dichotomie des Kindes als unbeschriebenes Blatt oder als ungebändigte Wildheit findet sich auch noch im 20. Jahrhundert in verschiedenen Ansätzen der autoritären Erziehung oder der Reformpädagogik, ebenso wie in populären Debatten um Missbrauch oder Kriminalität von Kindern (Kehily 2004). Sie kennzeichnet auch die filmischen Inszenierungen von Kindern, beispielsweise das Geisterkind des Horrorfilms oder das Kind als unschuldiges Opfer gesellschaftlicher Missstände in Sozialdramen.
Als Gegenbild des europäischen Subjekts der Aufklärung wird das Kind häufig auch mit den weiteren Kategorien des Anderen der europäischen Kulturgeschichte verknüpft. Frauen, Einwohner*innen ehemals kolonisierter Gebiete, psychisch Kranke oder Personen aus sozial benachteiligten Schichten wurden bis ins 20. Jahrhundert immer wieder als Kinder bezeichnet. Ihnen wurden sogenannte kindliche Eigenschaften zugeschrieben, wie Triebhaftigkeit, Unreife, Naturnähe, Naivität, um ihre Unterlegenheit gegenüber dem weißen (bürgerlichen) männlichen Europäer zu begründen und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren (Richter 1987, Montgomery 2009). Es drängt sich daher die Vermutung auf, dass Kindheit die zentrale oder auch übergreifende kulturelle Differenzkategorie der europäischen Moderne ist.
Im Unterschied zu den genannten Differenzkategorien Class, ‚Race‘ und Gender fungiert das Kind aber nicht nur als Anderes des dominierenden Menschenbilds, als Projektionsfläche also, sondern es dient auch als Identifikationsfigur, als Verkörperung des Eigenen. Denn jede*r Erwachsene war einmal Kind. Dieter Richter führt daher als dritte Kategorie, neben den Kategorien des unschuldigen und des wilden Kindes, das mit der Aufklärung entstehende „Lern-Kind“ ein, das bis heute mit einem fortschrittsorientierten Menschen- und Weltbild in Verbindung steht (Richter 1996: 87). Kindheit wird hierbei in einer zeitlichen Dimension definiert, als ein Prozess des Aufwachsens und Werdens. Sie steht, je nach Perspektive, für die Vergangenheit oder die Zukunft des Einzelnen und der Gesellschaft.
Dieses Kindheitsbild zeigt sich in der (rückblickenden) Biografisierung des individuellen Lebenslaufes, beispielsweise in der im 18. Jahrhundert entstehenden literarischen Form der Autobiografie oder in den Theorien und Praktiken der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts. Die Kindheit gibt in diesen Lesarten darüber Aufschluss, wie Erwachsene zu denen geworden sind, die sie sind. Die Pädagogik wiederum trägt seit dem 19. Jahrhundert zur Institutionalisierung dieses Entwicklungsprozesses bei. Kindheit wird zur Investition in die Zukunft. Durch die Erziehung von Kindern möchte die (bürgerliche) Familie und die Gesellschaft nicht nur die Entwicklung, künftige Teilhabe und den Erfolg des Kindes an der Gesellschaft, sondern auch den eigenen Fortschritt sichern. Diese doppelte Zeitlichkeit des Kindes zeigt sich auch in filmischen Darstellungen: in Initiationsgeschichten und in Kindheitserinnerungen oder in der Figur des Kindes als Zeug*in und Opfer politisch-sozialer Entwicklungen. Der Rückblick auf die Kindheit dient gerade in Nachkriegs- oder Postdiktaturgesellschaften der Aufarbeitung historischer Traumata und zugleich verkörpert das Kind gerade angesichts von gesellschaftlichen Umbruchs- und Krisensituationen häufig die zukünftige Gesellschaft – je nach Perspektive als utopisches Versprechen oder als Dystopie, wenn der Verfall einer Gesellschaft sich in der Verdorbenheit der Kinder zeigt (vgl. Lury 2010: 105–144, Martin 2019: 133–163, Henzler 2017b).
Beide Aspekte des Kindes als Verkörperung des Eigenen oder des Anderen sind zwei Seiten einer Medaille. Sie bringen seine Eigenart als Individuum zum Verschwinden und orientieren sich an Modellen des erwachsenen Subjekts. Dies gilt für das vernunftbegabte, handlungsfähige Subjekt der Aufklärung ebenso wie für das Subjekt der Entwicklungspsychologie, der zufolge Kinder sich die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten von Erwachsenen erst noch aneignen müssen, somit als ‚Mängelwesen‘ begriffen werden. Es zeigt sich im Subjekt der Sozialisationstheorien, denen zufolge das Kind als soziale Akteur*in in vorgegebene gesellschaftliche Strukturen hineinwächst. Und sogar die subjektkritische postmoderne Philosophie bezieht sich auf das Kind als eine utopische Figur des Werdens und der Transgressivität, die etablierte Ordnungen subvertiert, um ein postmodernes Menschenbild zu beschwören (Castañeda 2002, Kennedy 2013). Nicht zuletzt übergeht auch die sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Kindheitsforschung, wenn sie sich auf die Kritik der Kindheit als Kategorie fokussiert, das (individuelle) Kind oder greift – mit dem Konzept des Kindes als Akteur*in – auf eine an das Subjekt der Aufklärung erinnernde Vorstellung vom autonom handelnden Menschen zurück (vgl. Spyrou 2018).
Diese verschiedenen Menschen- und Kindheitsbilder sind auch deshalb problematisch, weil sie die eigensinnige Körperlichkeit und Erfahrung von Kindern weitgehend ausklammern. Dies kritisierte Maurice Merleau-Ponty mit Blick auf die kognitivistische Entwicklungspsychologie schon 1949–1952, als er in seinen Vorlesungen zur Kinderpsychologie forderte, die kindliche Wahrnehmung als grundlegend ‚anders‘ strukturiert als diejenige Erwachsener zu begreifen (Merleau-Ponty 1949–1952: 171f.). Daran anschließend, wurde auch in der deutschen phänomenologischen Pädagogik und Philosophie, von Käte Meyer-Drawe und Bernhard Waldenfels beispielsweise, die Egozentrik von Ansätzen kritisiert, die sich ausschließlich auf Bilder und Konstruktionen der Kindheit fokussieren (Meyer-Drawe/Waldenfels 1988). Die Autor*innen fordern stattdessen – wie auch zeitgenössische Vertreter*innen der phänomenologischen Pädagogik –, die leibliche Welterfahrung des Kindes in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen, dass unser Blick auf andere immer ein verkörperter ist, dass Fremdheit also nicht nur eine kulturelle Konstruktion ist, sondern eine Erfahrung, die aus einer anderen Situierung in der Wirklichkeit erwächst.
Nun wurde in der phänomenologischen Filmtheorie, ebenfalls anschließend an Merleau-Ponty, vielfach der Film als ein Medium untersucht, das in besonderem Maße geeignet ist, verkörperte Erfahrungen darzustellen und zu vermitteln. Meine These lautet daher, dass die andere Situierung von Kindern in der Welt filmisch verhandelt und erfahrbar gemacht wird und dass sich dies entlang einer Reihe filmästhetischer Differenzen ausbuchstabieren lässt, in denen sich Alterität als filmische Erfahrung vermittelt. Gerade filmische und filmtheoretische Diskurse zur Kindheit legen nahe, Kindheit in diesem Sinne als eine filmästhetische Kategorie zu begreifen. Setzen wir also nochmals neu an und fragen nach dem, was uns Filme über Kindheit verraten.
Kinder verkörpern in Filmen meist eine ambivalente Position zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Dies gilt für die narrative Ebene in Kindheitserinnerungen, die den Rückblick Erwachsener auf ihre Kindheit vorführen, oder wenn Kinder als Mittler*innen auftreten, die dem Fremden begegnen, seien dies andere Kulturen und soziale Schichten, andere Zeiten oder auch fantastische Welten. Dies manifestiert sich aber auch grundsätzlich in der doppelten Rolle von Kindern als filmische Protagonist*innen, mit denen wir uns identifizieren, deren Perspektive und Erfahrung wir teilen, und als Darsteller*innen, die erwachsenen Zuschauer*innen als Andere, als Kinder, gegenüber treten. Die für den Film grundlegende ambivalente Beziehung der Zuschauer*innen zu Figuren auf der Leinwand, die als Andere und zugleich als Spiegelbilder erscheinen, tritt in Kinderprotagonist*innen besonders deutlich hervor (vgl. Elsaesser/Hagener 2007: 76).
Kindheit ist, wie erwähnt, nicht nur eine kulturelle oder narrative Differenzkategorie, sondern auch eine filmästhetische Kategorie. Seit Beginn der Filmgeschichte wird, wie Vicky Lebeau dargelegt hat, in Filmen wie in filmtheoretischen Diskursen ein Spiegelverhältnis von Kindheit und Film betont (Lebeau 2008: 56–86). Das heißt, Filme gelten als besonders geeignet, Kinder darzustellen und Kindheit erfahrbar zu machen, und umgekehrt beziehen sich Filmtheoretiker*innen, Cinephile und Filmschaffende immer wieder auf Kinder, um mediale Eigenschaften oder auch die eigene ästhetische Haltung zu reflektieren (Henzler 2017a). Ohne diese Diskurse an dieser Stelle umfassend darstellen zu können, möchte ich zwei paradigmatische Beispiele aus der frühen Filmtheorie anführen. Béla Balázs schrieb 1924 in seinem Buch Der sichtbare Mensch, in dem er eigens ein Kapitel den Kindern widmete:
Die Welt des Films ist eben kindlicher. Denn jene Poesie des kleinen Lebens, welche die eigenste Substanz des guten Films ist, ist aus der näheren Perspektive der kleinen Leute sichtbarer. Die Kinder kennen die geheimen Winkel des Zimmers besser als die Erwachsenen, weil sie noch unter Tisch und Diwan kriechen können. Sie kennen die kleinen Momente des Lebens besser, weil sie noch Zeit haben, bei ihnen zu verweilen. Die Kinder sehen die Welt in Großaufnahmen. Die Erwachsenen aber, nach fernen Zielen eilend, schreiten über die Intimitäten der Winkelerlebnisse hinweg. Denn Menschen, die schon wissen, was sie wollen, wissen meist nur dieses eine und sonst nichts. Nur spielende Kinder verweilen sinnend bei Einzelheiten. (Balázs 1924: 78f.; Herv. i. O.)
Balázs stellt in seinen Ausführungen nicht nur diese Analogie zwischen dem Blick des Kindes und der filmischen Großaufnahme her, sondern bezieht sich auch auf die besondere Rolle von Kindern als Darsteller*innen in Filmen. Diesem Gedanken widmet André Bazin fünfundzwanzig Jahre später einen eigenen, wenn auch kurzen Artikel. Im Einklang mit seiner Auffassung vom filmischen Realismus vermutet er darin eine besondere Affinität des Films zur Kindheit:
Wie könnte der Romanschriftsteller, der die Worte vom ‚Stamme der Erwachsenen‘ verwendet, oder gar der Maler, der dieses reine Verhalten, diese wechselnde Dauer in eine unmöglichen Synthese [...] zusammenfügen muss, wie könnten sie Anspruch erheben auf das, was die Kamera uns endlich enthüllt: das geheimnisvolle Gesicht der Kindheit. Alle diese Gesichter, die von Sommersprossen gefleckt sind, wie Seewasser von toten Blättern, diese frechen Augen, die sich darbieten, uns auflauern und entwischen wie das Eichhörnchen im Wald, diese Gesten, die so überraschend und selbstverständlich sind, wie die Natur selbst, nur das Kino konnte sie zum ersten Mal in seinen Lichtstrahlen einfangen und uns zum ersten Mal der Kindheit gegenüberstellen. (Bazin 1949: 13)
Beide Autoren argumentieren mit der Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern: im Fall von Bazin in Hinblick auf erwachsene Zuschauer*innen, die auf Kinder als Darsteller*innen schauen, im Fall von Balázs in Hinblick auf die unterschiedlichen Perspektiven von Erwachsenen und Kindern auf die Welt. Beide schreiben sich dabei in die genannten kulturgeschichtlichen Kindheitsdiskurse ein: Bazin spricht Kinder als Projektionsfläche des Anderen an und greift dabei auf Naturmetaphern zurück. Balázs schließt an Künstlerdiskurse (sic) an, die bis in die Romantik zurückreichen und den vermeintlich unvoreingenommenen Blick des Kindes mit dem der Künstler identifizieren.
Jedoch liegt die Pointe dieser Zitate meines Erachtens nicht in den kulturellen Stereotypen, die sie aufrufen, sondern in den medienästhetischen Phänomenen, die ihr bildhaftes Schreiben anspricht und mit denen sie eine medienspezifische Differenz markieren. Das filmische Potenzial, Kinder in ihrem Eigensinn darzustellen, bezieht Bazin auf die Aufnahme von Gesichtern, die fremd erscheinen, auf die Flüchtigkeit von Bewegungen, die sich dem Zugriff entziehen, und auf die Körperlichkeit des Schauspiels, die in Mimik und Gestik zum Ausdruck kommt. Balázs führt die kindliche Perspektive seinerseits auf eine andere körperliche Verortung im Raum (das Kind kriecht unter Tisch und Diwan) und eine andere Zeitwahrnehmung (es verweilt bei den Einzelheiten) zurück. Filmästhetisch sieht er diese in der Großaufnahme verwirklicht, und in der Erfahrung des Moments. Beide, Bazin und Balázs, beziehen sich auf das Kind, um die Eigenschaften des Films im Unterschied zu anderen kulturellen Ausdrucksformen hervorzuheben und betonen dabei Merkmale, die gerade auf die Körperlichkeit der Kinder und die Verkörperung filmischer Wahrnehmungen verweisen, also Merkmale, denen sich phänomenologisch inspirierte Filmtheorien widmen.
Im Folgenden werde ich dieser Spur nachgehen und aufzeigen, wie sich anhand von filmischen Kindheitsdarstellungen die von Bazin und Balázs angedeutete filmästhetische Differenz der Kindheit ausbuchstabieren lässt. Ausgangspunkt ist der bereits erwähnte litauische Kurzfilm TEN MINUTES OLDER, der sich besonders konsequent den eingangs erwähnten zuschauenden Kindergesichtern zuwendet und dabei die in den Zitaten von Balázs und Bazin anklingende Großaufnahme eines Kindergesichts – als Blick und Anblick – vorführt. In einer 10 Minuten langen Einstellungen wird ohne Gegenschuss ein Kinderpublikum dokumentiert, das – wie uns der Vorspann mitteilt – ein Märchen von Gut und Böse anschaut (Clip 1; vgl. Header-Abbildung).
Die zunächst distanziertere, auf eine Gruppe von Kindern gerichtete Kamera zoomt zügig in die Großaufnahme eines Kindes heran, in dessen Mienenspiel sich das Wechselbad der Gefühle besonders deutlich abzeichnet. Sie verweilt dort minutenlang, schweift kurzzeitig ab, um andere Gesichter zu kadrieren, kehrt aber immer wieder zu dem bewegten Mienenspiel des ersten Kindes zurück, das in kürzester Folge von widerstreitenden Regungen durchzogen ist. Der Zoom dringt dabei in das Gesicht ein, als wolle er sein Geheimnis enthüllen. Dieser Film zeugt von der Faszinationskraft des kindlichen Blicks und Anblicks. Doch worin genau liegt diese Faszinationskraft? Und auf welchen filmästhetischen Differenzen beruht sie?
Bewegtheit und Bildlichkeit: Da sind zunächst die Bewegtheit der Einstellung, der unentwegte Wechsel und die Vielgestaltigkeit mimischer Regungen, die sich nicht festhalten lassen in einem aussagekräftigen oder ausdeutbaren Bild. TEN MINUTES OLDER variiert eine Kindheitsfigur des frühen Kinos, die sogenannten ‚child pictures‘ oder ‚facials‘, fotografische oder filmische Aufnahmen, die die unwillkürlichen mimischen Veränderungen von Kindergesichtern zur Schau stellten und sich einer großen Beliebtheit beim Publikum erfreuten. Laut Lebeau lag ihre Faszinationskraft in der Momentaufnahme, im schnellen Wechsel der Gefühle, der die spezifische Zeitlichkeit des Films ebenso wie seinen Realitätscharakter vorführte: „The ‚hit‘, I think, comes through that moment of sudden transition from playing to quarrelling, from pleasure to grief, from smiles to tears.“ (Lebeau 2008: 38) Wie in Bazins Metaphorik angedeutet und schon in den frühen Theorien zum ‚photogenié‘ thematisiert, veranschaulicht sich in den bewegten Kindergesichtern das Potenzial des Bewegungsbildes, sich unentwegt zu wandeln, und somit anders zu werden, ja: das Vertraute fremd erscheinen zu lassen (Fahle 2000: 64ff.). In TEN MINUTES OLDER wird dieser Eindruck besonders dadurch verstärkt, dass die Gesichter aus dem Dunkel ragen, ihre Konturen manchmal verschwinden und sie etwas Gespenstisches gewinnen.
Fremdheit der Nahaufnahme: Entscheidend ist dabei, dass uns die Gesichter so nah herangeholt und so lange gezeigt werden, dass wir die nuancenreiche Mimik beobachten können, das einzelne Gesicht sich aber zugleich auch ins anonyme Publikum und die es umgebende Dunkelheit entgrenzt. Wenn das Gesicht in besonderem Maße für die Identität und Individualität eines Menschen oder einer filmischen Figur steht, in deren Mimik wir unser Gegenüber zu lesen und zu verstehen versuchen, treten die Kindergesichter in diesen Nahaufnahmen, wie es Balázs und nach ihm Gilles Deleuze beschrieben haben, aus ihrem raumzeitlichen Zusammenhang ebenso wie aus ihrer sozialen Rolle und Kommunikationsfunktion heraus. Sie zeigen sich gewissermaßen nackt, in ihnen tritt das Unbewusste, Unkontrollierbare von Affekten hervor, das sich nicht benennen lässt (Balázs 1924: 46, Deleuze 1983: 141, Löffler 2004: 198).
Schauspiel als Verkörperung: Die Kindergesichter sind faszinierend, möglicherweise auch irritierend, wenn wir sie als ein voyeuristisches Eindringen in die Intimsphäre des Kindes empfinden. In diesem Sinne kritisiert Matthias Müller den Film, der unterlegt ist von einer spannungsreichen Musik, die das Mienenspiel dramatisch ausdeutet und dadurch den Kinderdarsteller*innen ihre jeweilige Individualität raube, das Kind als Archetyp erschaffe (Müller 2016: 130f). Das sich hier ausdrückende Unbehagen rührt auch daher, dass wir annehmen, dass die Kinder diese mimischen Regungen nicht spielen, sondern dass sie unmittelbarer Ausdruck von Empfindungen sind. Gerade in den unwillkürlichen, nicht kontrollierten Regungen scheint das hervorzutreten, was Siegfried Kracauer das „ungestellte physische Dasein“ der Schauspieler*innen genannt hat (Kracauer 1960: 138) und was in neueren Performancetheorien als Besessenheit von etwas Anderem beschrieben wird (Mersch 2016, Sternagel/Levitt/Mersch 2012: 53). Der Eindruck von Präsenz entsteht daraus, dass der*die Darsteller*in mit ihrer Leinwandpersona zu verschmelzen scheint, so dass ihre Besessenheit auch uns als Zuschauende affiziert.
In diesen Nahaufnahmen treten somit die von Bazin in dem oben genannten Zitat angesprochenen Aspekte der Beweglichkeit, der Fremdheit und Körperlichkeit von Kinderdarsteller*innen besonders deutlich hervor. Das dabei auf den verschiedenen Ebenen der Bildlichkeit, der Figur und der körperlichen Präsenz wahrnehmbare Abgleiten ins Nichtidentische charakterisiert auch die Darstellung von Kindern in fiktionalen Filmen – und zwar nicht nur auf der Ebene des Gesichts.
Da wäre zunächst die ‚Bewegtheit‘ zu nennen: Schon die Kissenschlachten des frühen Kinos inszenierten die chaotischen, unkontrollierbaren Bewegungen von Kindern. Auch in fiktionalen Filmen – wie in der anarchistischen Revolte der Schüler*innen in ZÉRO DE CONDUITE (BETRAGEN UNGENÜGEND, F 1933), die mit einer Kissenschlacht im Schlafsaal beginnt – destabilisieren solche Bewegungsfiguren Raumordnung und Bildlichkeit, lösen diese buchstäblich in Bewegungsbilder auf (Abb. 1–2). Die Revolte gegen die soziale Ordnung richtet sich hier auch auf Logiken der Bildproduktion, die sich auf der Tonspur fortsetzt, wenn diese in undifferenziertes Geschrei oder zerpflückte Klänge übergeht.
Gerade Kleinkinder verkörpern in Filmen – wie LA MATERNELLE (MUTTERHÄNDE, F 1933), LITTLE FUGITIVE (DER KLEINE AUSREISSER, USA 1953) oder INNOCENCE (BE/F/UK/JP 2004) – zudem häufig das Aus-der-Rolle-Fallen. Sie durchkreuzen damit Vorstellungen von der Identität eines Menschen, nicht nur in ihren bewegten Gesichtern, sondern auch mit ihren Körperbewegungen, und zwar vor allem dann, wenn sie sich Gesten oder Bewegungsformen, die ihnen (noch) nicht geläufig sind, wie zum Beispiel das Essen mit Messer und Gabel, Theater- und Sportspiele, Singen und Tanzen, anzueignen versuchen oder wenn sie durch Räume laufen, die für sie nicht geschaffen sind (Abb. 3–4). Dies gilt teilweise – wie in BLIND KIND (NL 1964) oder SIB (DER APFEL, IRN/F/NL 1998) – auch für ältere Kinder, deren Bewegungen durch Behinderungen beeinträchtigt sind, die daher ungewohnt erscheinen. Indem sich die Kameraführung den eigenwilligen Körperbewegungen der Kinder zuwendet, führt sie uns die Abweichung von habitualisierten Verhaltensmustern vor.
Schließlich kennzeichnet das ‚kindliche Schauspiel‘ auch in fiktionalen Filmen, wie Karen Lury unter anderem an BELLISSIMA (I 1951) gezeigt hat, eine Wandelbarkeit und Uneindeutigkeit, welche die Trennung zwischen Rolle und Sein infrage stellt (Lury 2010: 145-189). Die damit verbundene eigentümliche Präsenz von Kinderdarsteller*innen wird eingesetzt, um Fiktionen in der profilmischen Realität zu verankern, sie uns als gegenwärtig erscheinen zu lassen. Dies gilt gerade auch für Geschichtsfilme, wie DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (BRD 1980) oder LA MAISON DES BOIS (DAS HAUS IM WALD, F/I 1971), denen Kinderdarsteller*innen eine besondere Gegenwärtigkeit verleihen. Zugleich können Kinder die Mise en Scène dezentrieren, indem sie mit ihrem eigensinnigen Verhalten die Aufmerksamkeit vom Zentrum des narrativen Geschehens, von den bedeutsamen Handlungen Erwachsener ablenken (Abb. 5–6). Kinder fungieren in diesem Sinne auch als Fremdkörper im Getriebe des filmischen Erzählens, ihre Gegenwart durchkreuzt ideologische Absichten (Brodski 2016, Henzler 2022b).
Um erneut auf die zuschauenden Kindergesichter zurückzukommen: Die Wirkung der Aufnahme in TEN MINUTES OLDER beruht wesentlich darauf, dass die Kinder etwas anschauen. Darin unterscheidet sich der Film von den erwähnten ‚child facials‘ des frühen Kinos. Die Kinder bringen nicht nur das Bewegtbild zur Geltung, sondern verkörpern hier eine Zuschauererfahrung. Im modernen Kino wird das bewegte Kindergesicht somit zu einer medienreflexiven Chiffre, aber auch zu einem Ausdruck oder Spiegel der Zuschauererfahrungen. Dieser Aspekt wird interessanterweise gerade in den Reaktionen von Kindern auf diesen Film greifbar, die sich nicht über die Mimik der Darsteller*innen verwundern, sondern diese zum Anlass nehmen, über die eigene Kinoerfahrung zu sprechen (Huber 2021).
Die Zuschauererfahrung zeigt sich in TEN MINUTES OLDER als eine Alteritätserfahrung. Das Kinderpublikum scheint buchstäblich besessen von etwas anderem, ‚außer sich‘. Paradoxerweise artikuliert sich dabei gerade in den unwillkürlichen Regungen des Kindergesichts, im Realen dieser Aufnahme also, das Imaginäre der Aufführung. Die sich in Gesichtern und Gesten abzeichnenden mimetischen Ansteckungsprozesse machen greifbar, was in phänomenologischen Rezeptionstheorien als Eigenart der Kinoerfahrung beschrieben wird: Diese ereignet sich als verkörperte Erfahrung, als energetischer Austauschprozess, der dem Erkennen und Verstehen, der Identifikation und Projektion, vorausgeht und zugrunde liegt. Die Imaginationen des Films werden – wie hier die des Puppentheaters – als real erlebt.
In fiktionalen Filmen wird die kindliche Wahrnehmung dementsprechend häufig als verkörperte Erfahrung, manchmal auch als Alteritätserfahrung vermittelt. Dies gilt auch für Momente, in denen sich die Aufmerksamkeit der Kinderprotagonist*innen nicht auf Medien oder kulturelle Ereignisse, sondern auf innerdiegetische Wirklichkeiten richtet. Solche Alteritätserfahrungen sind meist verbunden mit der Verschiebung oder auch Differenz des Blicks, wie sie Balázs’ Bild von dem Kind, das unter Tisch und Diwan kriecht und sinnend bei den Einzelheiten verweilt, plastisch werden lässt.
Haptische Visualität: Der Blick von Kinderprotagonist*innen richtet sich in Spielfilmen – wie PATHER PANCHALI (IN 1955), LE VOYAGE DU BALLON ROUGE (F/TW 2007) oder MUTUM (BR 2007) – häufig auf scheinbar nebensächliche, alltägliche Details. Gemessen an der narrativen Logik, an der Lebenswelt der Erwachsenen, möglicherweise auch an historischen Kontexten erscheinen diese Details als unwichtig. Dieser Fokus geht oft einher mit dem, was Laura Marks als haptische Visualität beschrieben hat (Marks 2000: 162ff.). Statt das Gezeigte im Blick zu erfassen und zu deuten, werden Tasterfahrungen angesprochen. Wir rücken in den körperlichen Nahbereich vor (Abb. 7–8). Die den Kindern zugeschriebene sinnliche Erfahrung wird als lustvolle Entgrenzung inszeniert, bringt aber auch eine besondere Verletzlichkeit mit sich. In Kindheitsfilmen werden somit nicht nur sämtliche Dimensionen des menschlichen Seins als verkörperte wahrnehmbar: Denken und Kommunizieren, psychische Vorgänge, Vermittlungsprozesse und die Imaginationen (vgl. Wilson 2005, Henzler 2018a). Die kindliche Wahrnehmung motiviert auch einen anderen Blick auf filmische Wirklichkeiten.
Andere Raumerfahrung: Wie das von Balázs aufgerufene Bild ebenfalls nahelegt, geht die Verschiebung des Blickwinkels einher mit einer anderen körperlichen Situierung im Raum. Diese wird filmisch häufig durch die Kamera auf Augenhöhe von Kindern, aber auch durch eine – im Vergleich zu den Erwachsenenwelten – dezentrierte Blickposition vermittelt. Wie Vivian Sobchack dargelegt hat, greifen filmische Sehapparaturen, ebenso wie die Konventionen der Kameraführung und Kontinuitätsmontage, unsere Erfahrung der körperlichen Situierung im Raum auf und modulieren sie (Sobchack 1992: 62 u. 133). Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kamera auf Augenhöhe des Kindes als eine Strategie verstehen, Zuschauer*innen die Raumerfahrung von Kindern zu vermitteln, und zwar als eine, die wesentlich von sozialen Umfeldern und Architekturen geprägt ist, die dem Maßstab Erwachsener entsprechen. Diese eher konventionelle Form der Kindheitsdarstellung zieht geradezu zwangsläufig nach sich, dass die filmischen Räume, durch die Kinder sich bewegen, uns ungewohnt, manchmal gar bedrohlich erscheinen, und dass uns die Beschränkung unseres Blickfeldes besonders bewusst wird (vgl. Henzler 2022a).
Das Nichtsichtbare: Beides, der Fokus auf Details wie auch die Kamera auf Augenhöhe, bedingt wiederum, dass das Off in Kindheitsfilmen besonders präsent ist, und zwar als das Nichtsichtbare, das dem Sichtbaren innewohnt, als das, was den Kader von außerhalb bedroht, kurz, als der Ort, an dem das Fremde wohnt, das sich unserem Verstehen entzieht. Über den Blick von Kindern, die nicht alles sehen und wissen, werden vielfach Erzählweisen motiviert, in denen diese Fremdheit des Offs besonders hervortritt. Das betrifft die häufig elliptisch erzählten Kindheitserinnerungen, die, wie in PEPPERMINT FRIEDEN (BRD 1983), nur fragmentarisch Zugang zur Vergangenheit bieten (vgl. Lury 2010: 105–144). Das betrifft aber insbesondere auch die Mise en Scène der filmischen Welten selbst, wenn der filmische Raum nicht durch Blickanschlüsse und Kontinuitätsmontagen geschlossen wird, sondern gewissermaßen durchlässig bleibt für das Nichtsichtbare.
Filme wie MUTUM, der die Lebenswelt eines Jungen aus dem brasilianischen Sertao taktil und akustisch erschließt, oder RATCATCHER (UK 1999), dessen schonungslose Darstellung verwahrloster Glasgower Vororte momentan ins Imaginäre abgleitet, vermitteln die Perspektive von Kindern, die das, was um sie herum geschieht, (noch) nicht verstehen, denen buchstäblich der Überblick fehlt, die sich einen eigenen Reim auf ihre Erfahrungen machen. Die Wahrnehmung des Kindes kann zudem als Vorwand dienen, um die Voraussetzung des Schauens selbst zu befragen. So wird in EL ESPÍRITU DE LA COLMENA (GEIST DES BIENENSTOCKS, E 1973) der Eindruck erweckt, als verberge die Oberfläche des Wirklichen eine unheimliche Seite, in der – wie die Protagonistin glaubt – das Monster Frankensteins haust (Henzler 2018b). Und in CHOCOLAT (F 1988) vermittelt sich ein Bewusstsein dafür, dass der filmische Blick auf das kolonisierte Kamerun der einer Fremden ist, der sich die Blickwinkel der Einheimischen grundsätzlich entziehen (vgl. Henzler 2022c). In beiden Fällen bietet der Blick des Kindes den Regisseur*innen die Möglichkeit, sich statt als Wissende als Fragende mit der (eigenen) Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Die hier angeführten filmästhetischen Strategien gehören gewissermaßen zum Kernbestand filmischer Darstellung. Dennoch lässt sich feststellen, dass sie gerade in Kindheitsdarstellungen besonders deutlich hervortreten, ja: regelrecht reflektiert werden. Sie markieren eine ästhetische Differenz. Der Blick und der Anblick von Kindern werden als abweichend von denjenigen erwachsener Figuren etabliert. Sie bedingen und legitimieren zudem häufig eine Abweichung von etablierten Formen der bildlichen Repräsentation und der filmischen Narration. Diese ästhetische Differenz lässt sich aus zwei einander ergänzenden Perspektiven begründen.
Sie ist zum einen produktionsästhetisch zu verstehen: Dies meint, dass in der Interaktion zwischen Kamera und vorfilmischer Wirklichkeit, insbesondere mit Kindern als Darsteller*innen, filmische Bilder modelliert werden, in denen der Eigensinn der Dargestellten zur Geltung kommt. Diese weichen in ihrer Bewegtheit, ihren mimischen Regungen, ihrer affektiven Besessenheit von ausdeutbaren Bildern, habituellen Verhaltensweisen oder fiktionalen Rollen ab und erscheinen daher möglicherweise ‚fremd‘. Zum anderen ist die ästhetische Differenz rezeptionsästhetisch zu verstehen. In diesem Sinne verkörpern Kinderprotagonist*innen Fremdheitserfahrungen, die die Zuschauer*innen mehr oder weniger stark nachempfinden. Dazu gehören die haptische Visualität und die Raumerfahrung, aber auch die Durchdringung der Realität durch die Fantasie. All diese ästhetischen Strategien vermitteln ein Gespür für die Fremdheit im Ich, für das Unbekannte im Sichtbaren, für die das Kind und der kindliche Blick einstehen: als Stellvertreter*innen des Eigenen, die uns als Andere gegenübertreten.
Dabei handelt es sich nicht um kulturelle Bilder des Anderen, sondern um ästhetische Differenzen, die zumeist filmspezifisch sind. Sie beruhen – wie die Sprachbilder von Bazin und Balázs nahelegen – auf dem Potenzial von Filmen, sich auf konkrete Kinder in ihrer individuellen Körperlichkeit einzulassen und die verkörperte Erfahrung von Kindern zumindest partiell zu vermitteln. Diese filmästhetische Differenzkategorie lässt sich mit dem phänomenologischen Begriff der Alterität oder Fremdheit am besten fassen. Dies soll abschließend kurz skizziert werden und bedarf weiterer theoretischer Ausarbeitung.
In der phänomenologischen Theorie wird Differenz nicht als diskursive und kulturelle Konstruktion gedacht, sondern als eine existenzielle Erfahrung von Alterität oder Fremdheit, die auf der unhintergehbaren Asymmetrie zwischen dem Ich und dem Anderen beruht. Wie schon Merleau-Ponty darlegte, bewirkt die körperliche Situierung in der Welt eine prinzipielle Fremdheit des anderen Menschen wie auch der Dinge oder anderer Elemente der Wirklichkeit, die sich unserem Verstehen entzieht (Merleau-Ponty 1945: 372ff., 380ff.). Diese Fremdheit spüren wir, gerade weil sich unsere Perspektive unentwegt verschiebt und immer neue Ansichten eröffnen kann. Bernhard Waldenfels hat, an diese und andere phänomenologische Theorien anschließend, zudem Fremdheitserfahrungen als notwendige Folge der Grenzziehungen reflektiert, mit denen sich menschliche Subjekte konstituieren. Die Fremdheit (des anderen Menschen, insbesondere aber auch des Kindes) hänge immer auch mit dem Unverfügbaren im Ich zusammen, das in seiner Leiblichkeit mit dem Anderen verflochten und damit prinzipiell dezentriert sei (Waldenfels 2006: 68ff.).1
Kinderprotagonist*innen – so möchte ich schlussfolgern – verkörpern in Filmen diese Verflechtung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, durch sie werden die Prozesse der Grenzziehung und die daraus resultierenden Fremdheitserfahrungen greifbar. Dabei kommen die von phänomenologisch inspirierten Filmtheorien beschriebenen Eigenschaften des Films zur Geltung. Ich beziehe mich hierbei nicht nur auf die in den letzten 30 Jahren entstandene Filmphänomenologie, die anschließend an Merleau-Ponty und andere phänomenologische Philosoph*innen die Filmerfahrung untersucht und dabei häufig Alteritäts- und Fremdheitserfahrungen, Erfahrungen der Desintegration des Subjekts thematisiert hat – sei es als eine haptische Subversion von Blickstrukturen und narrativen Logiken, als ein Zirkulieren somatischer Energien oder als eine ahumane Ästhetik, die Körpergrenzen, ebenso wie die Grenzen zwischen dem Menschlichen und Nichtmenschlichen aufhebt (vgl. Marks 2000, Rutherford 2000, Morsch 2011). Ich meine auch die frühe Filmtheorie – die genannten Béla Balázs und André Bazin ebenso wie Siegfried Kracauer und Walter Benjamin –, die sich für die transformativen Prozesse interessierte, die profilmische Wirklichkeiten filmisch verwandeln, und die gerade hierin die dem Medium eigenen Fremdheitserfahrungen begründet sehen: Filme konfrontieren demnach mit der Alterität der Wirklichkeit, erspüren deren unerwartete Seiten, zerstören oder erweitern die habitualisierte Wahrnehmung. Das zuschauende Subjekt wird sich in der Erfahrung der Bewegung, des Materiellen, der Physiognomie der Dinge und Landschaften, des optischen Unbewussten selbst fremd (vgl. Koch 1986, Hansen 1993, Zechner 2013). Es ist wohl kein Zufall, dass viele der genannten Autor*innen sich, wenn auch oftmals nur beiläufig, auf Kinder und Kindheit beziehen, um diese filmischen Phänomene zu erläutern.
Indem Filme mit der Heterogenität der profilmischen Wirklichkeit, mit Körpern und Materialien arbeiten und indem sie Zuschauer*innen affektiv ansprechen, können sie das ins Spiel bringen, was von diskursiven Konstruktionen und kulturellen Bildlichkeiten abweicht: Dies gilt gleichermaßen für die Darstellung von Kindern und Kindheit wie für die Wirklichkeiten und Erfahrungen, die diese uns erschließen.2
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