Zu Harun Farockis Installation Ich glaubte, Gefangene zu sehen
Ein Filmemacher geht in eine Galerie oder ins Museum.1 Dies bedeutet zum einen, pragmatisch betrachtet, daß eine Kunstform sich in einen anderen Bereich verlagert und also einen neuen Raum erschließt. Im Falle von Harun Farocki bedeutet dies zum anderen, ästhetisch betrachtet, die Möglichkeit der Verräumlichung des Bildes: Statt zu festgesetzten Zeiten auf einer Leinwand, einem Monitor oder am Fernsehschirm läuft ein Film nun ohne Unterbrechung in Doppelprojektion. Dies erlaubt dem Zuschauer, sich sowohl mit den Parallelwelten der montierten Bilder wie auch mit seiner eigener Position zu konfrontieren.
Nach der Retrospektion eigener Arbeiten im Rahmen seiner ersten Installation Schnittstelle (1995), einer Art künstlerischem Selbstporträt, hat Harun Farocki in seiner zweiten Videoinstallation2 Ich glaubte, Gefangene zu sehen (2000) sich einem Sujet zugewandt, das ihm abermals erlaubt, Fragen der visuellen Darstellung mit der Frage nach der Blickposition des Zuschauers kurzzuschließen, ohne die politische Dimension des Dargestellten selbst aus dem Auge zu verlieren: In Ich glaubte, Gefangene zu sehen steht das Überwachungsdispositiv zur Debatte, als architektonische Figur, wie sie Michel Foucault vom Bentham'schen Panopticon auf andere geschlossene Anstalten übertrug, um die mikroskopischen Funktionsweisen der Macht in den Disziplinargesellschaften zu analysieren.
'Gefundene' Bilder werden ihrer ursprünglichen apparativen Anordnung entzogen und dienen hier als Material. Das Ausgangsdispositiv bleibt als Spur jedoch über die eingefügten Zwischentitel und schriftlichen Bezeichnungen, sowie über die teils narrativ, teils deskriptiv und analytisch verfahrenden Kommentare oder Originaltöne aus dem Off präsent. Ein Bilddispositiv wird somit in ein anderes übergeführt, um durch dieses neu gelesen und betrachtet werden zu können. So treffen hier mehrere voneinander unabhängig hergestellte Bilder und Bilddispositive aufeinander. Interpunktiert von Zwischentiteln, kreuzen und spiegeln die Aufnahmen einander; in komplexen Abfolgen zwischen zwei parallel laufenden Bildern erzeugen sie ein Spiel aus Wiederholung und Differenz. Als Kristallisationsmomente der Installation schälen sich Begriffe wie "Identität", "Überwachung" und "Durchsuchung" heraus, die sich anschaulich im Spannungsfeld zwischen Körper und Maschine, zwischen manuellem und technischem Zugriff erschließen: So sehen wir nicht bloß videographierte Gefängnisinsassen, sondern auch deren graphische Entsprechungen in Übertragungsbildern von elektronischen Bewegungsmessern. Zwischen Überwachungsvideos aus einem kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis und Computersimulationen von Bewegungen, die Einkäufer in Supermärkten vollziehen, entwickelt sich in Farockis Bildarchitektur eine komplexe Struktur von Digitalität und Anlogizität, von Gleichzeitigkeit und Konsekutivität, von Sagbarem und Sichtbarem, paarweise in Schleifen und Drehbewegungen angeordnet wie in einer Doppel-Helix, um eine Godard'sche Metapher für die Verkettung von Bildern und Tönen aus ICI ET AILLEURS (F 1976) zu gebrauchen.
Das Ausgangsmaterial entstammt verschiedenen Überwachungsdispositiven. Bekanntlich beschrieb Michel Foucault diese Art von Dispositiv in "Überwachen und Strafen" als Anordnung eines bestimmten Verhältnisses von Sehen und Sichtbarkeit. Auf das ausgehende 20. Jahrhundert übertragen, kann dieses Überwachungsdispositiv modellhaft als ein zentrales Dispositiv des Mediums Video gefaßt werden. Anne-Marie Duguet begreift in einem wegweisenden Text den Begriff "Dispositiv"3 daher auch in Abgrenzung von den metapsychologischen Entwürfen der Apparatusdebatte der 70er Jahre zum Kino und definiert diesen, bezogen auf das Medium Video, als Artikulation bestimmter Ausrichtungen des Blicks oder einzelner Einbindungsweisen des Zuschauers, aber auch allgemeiner im Sinne der griechischen Bedeutung von mèchané als technische Anordnung einer Mechanik, die verschiedene Instanzen der Äußerung oder der Darstellung in Gang setzt. Die Prinzipien des Überwachungsdispositivs gelten nach Duguet gleichermaßen für jegliche rückgekoppelte Videoinstallation: Ihre Kennzeichen sind umfassende Aufsicht, Kontinuität, Automatismus, Unsichtbarkeit des Beobachters (eine Aufsicht ohne Blick), Zirkularität (die Schleife der Direktübertragung), Dissoziation von Sehen und Gesehen-Werden, und schließlich die Umkehrbarkeit des Raumes (Innen/Außen). Diese Merkmale treffen etwa auf frühe Videoinstallationen von Bruce Nauman (Video Surveillance Piece, Public room/ Private Room) 1969/70), Bill Viola (Peep Hole, 1974) oder Dan Graham (Two Viewing Rooms, 1975) zu. Während diese Installationen den Betrachter in die changierende Position von Subjekt und Objekt des Blicks versetzen, arbeitet Farockis vom Prinzip des Filmischen geleitete Installation nicht mit der Schleife der Direktübertragung, sondern mit Material aus ehemals in Gefängnissen direkt übertragenen Bildern. Der Gestus, mit found footage aus Überwachungskameras zu arbeiten, ähnelt jedoch nur auf ersten Blick Michael Kliers Film DER RIESE (D 1984), in dem automatisch aufgezeichnetes Videomaterial aus Hotels, öffentlichen Einrichtungen und Privathäusern in eine Art riesige fiktionalisierende Hyperinstallation transformiert werden. Bei genauerer Betrachtung erschließt sich von der Differenz des Ausgangsmaterials ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Klier: Farocki bedient sich medial nicht des Kinodispositivs, sondern eines videographischen Theaters. Er schafft durch den Dispositivwechsel eine neue Blickanordnung, um das Medium Video in der von Duguet4 beschriebenen Potentialität einzusetzen: als Prozeß, reine Bildvirtualität, und in seiner metakritischen Funktion; denn im Rahmen eines Theaters des Sehens und Wahrnehmens sind es, wie Duchamp sagte, "die Betrachter, die die Bilder machen".5
Indem Farocki den Betrachter mit zwei parallel laufenden Videobildern konfrontiert, die im rechten Winkel zueinander projiziert werden,6 setzt er ihn virtuell an die Schnittstelle der Bilder, dorthin, wo eine syntagmatische oder auch paradigmatische Wahl zwischen zwei Möglichkeiten getroffen werden muß. Eine Situation, die schon Godard emblematisch als Frage des Mediums Video in seinem Film NUMÉRO DEUX (F 1975) inszeniert hat, wo von Beginn an immer wieder zwei Monitore als koexistierende Bilder erscheinen. Bei Godard tauchen stellenweise Schwarzbilder auf, in die sich die Stelle des Autors, aber auch die des Voyeurs7 einschreiben kann. Bei Farocki erhalten die Zwischentitel diese auktoriale Funktion. Anders als vor Godards Film befindet sich der Betrachter von Farockis Installation durch die verräumlichte Darstellung der einander im rechten Winkel "zugewandten" Bilder in einer theatralen Situation. Es gilt zunächst, einen Standpunkt zu finden. Der Einstellungswechsel findet über den Blick des Betrachters statt. Damit setzt die Installation Aussage und Äußerung in ständige Bewegung: Eine Art Dialog zwischen den beiden ablaufenden Bildern hält die Frage nach dem ständig präsent, was gerade nicht sichtbar ist. Die Frage führt deutlich auf ein Moment hin, das die Filmtheorie (Pascal Bonitzer) das "blinde Feld" genannt hat: Es gibt keine einleitende Point of view-Einstellung, keinen Gegenschuß zu den Gefangenen oder Konsumenten, die dem Überwachungsblick preisgegeben sind, denn die tausend Augen der Kameras bleiben unsichtbar wie Fritz Langs MABUSE (D 1922). So bleibt der Blick der Betrachteten ein Blinder. Dies zeigt sich auch an Farockis Gefängnismaterial: Ein beim Versuch des erotischen Körperkontaktes ertappter Häftling verläßt, ohne den Kopf zu wenden, den Besuchersaal. Der Überwacher ist keines Blickes wert, denn er ist nicht verortbar, wenngleich der Gefangene zuvor noch versucht hat, aus Stühlen einen Sichtschutz zu bauen, als gäbe es ein einziges und faßbares Gegenüber.
Im Vergleich zum Filmischen verlagert sich beim Video-Überwachungsbild die Qualität des Analogen von der räumlichen auf eine zeitliche Ebene, nämlich auf das Prinzip der Realzeit. Die lange, starre Einstellung verlangt nach dem Ereignis im Bild, oder, wie Farockis Schrift-Kommentar zur Vorstellung einiger buchstäblich 'spektakulärer' Szenen feststellt, das Überwachungsbild zielt von der Norm auf die Abweichung. Farocki holt aus den Szenen einer Abweichung etwas Filmisches, indem er zeitweise wiederholt, vergrößert und kommentiert. Er gibt nicht vor, das in die Bilder eingeschriebene Dispositiv der Macht aufzuheben, sondern will es analysieren, durchaus auch im Sinne eines moralischen Begriffes von einer (filmischen) Einstellung. An einer Stelle, für die André Bazins so berühmte wie mißverstandene Formel "Montage verboten" gelten könnte, behält Farocki den externen Kommentar derer bei, die das Material zu politischen Zwecken veröffentlicht haben. Er läßt einen amerikanischen Bürgerrechtler den Fall eines von Wärtern erschossenen Häftlings erläutern, der in einem Hochsicherheitsgefängnis allzu schnell ins Visier genommen und dann allzu lange ohne Hilfe liegen gelassen worden war. Weil die Schußmächtigen wie die Videokameras positioniert sind und unsichtbar bleiben, sucht Farocki auch keinen Ersatz, kein Gegenbild. Er bleibt visuell beim Überwachungsmaterial, in das sich die Spur der Gewalt und der Macht kaum sichtbar eingeschrieben hat, und setzt dazu das Sprechen und die Schrift. Die verbale Ebene eröffnet eine neue Lesbarkeit des Bildes und die Möglichkeit, das Hors-Champ, das visuelle Off, imaginär hereinzuholen. So erfährt der Betrachter zum Beispiel, daß weiße Rauchschwaden im grauen Bild von einem kalifornischen Gefängnishof bedeuten, daß hier ein Schuß gefallen ist. Der ungewöhnliche Einsatz der Zwischentitel, die zwar innerhalb einer Bildspur als solche fungieren, die man in Ich glaubte, Gefangene zu sehen aber eigentlich als "Nebentitel" bezeichnen müßte, weil sie ein Bild darstellen, das immer auch in Kopräsenz zu einem anderen Bild zu lesen ist, erzeugt zusammen mit der Wiederholung einen Effekt der Nachträglichkeit: Etwas wird sichtbar und nachträglich erkennbar. Auf diese Weise vollzieht sich für den Zuschauer das Denken in einem Zwischenraum, in einer Disjunktion von Sehen und Sprechen.
"Ich glaubte Gefangene zu sehen",8 entsetzt sich Ingrid Bergman in Rossellinis EUROPA 51 (I 1951), wenn sie den erschreckenden Anblick von Fabrikarbeitern schildert. Gilles Deleuze zitiert diese Filmpassage in einem kurzen Essay über die Kontrollgesellschaften,9 einem seiner vielfältigen Kommentare zu Michel Foucault. Er verdeutlicht damit, daß das Gefängnis als Modell für analoge Systeme geschlossener Anstalten dient, wo Menschen konzentriert werden, räumlich verteilt, zeitlich befohlen und wo innerhalb eines Zeitraums eine Produktivkraft entfaltet wird, deren Effekt größer sein muß als die Summe ihrer Elementarkräfte. Farockis Film ist in dem Sinne foucaldianisch, als er seine Lektüren von Überwachungsdispositiven keineswegs, wie das so manche Kritiken und Katalogtexte sehr verkürzt feststellen, bloß auf das Gefängnis bezieht, sondern die Analyse von Disziplinarfunktionen auf andere öffentliche Räume erweitert, um auch an der Strukturierung von Sichtbarkeit in Supermärkten ein Dispositiv der Macht abzulesen. Diese Funktion des Panopticons, die man "von jedem spezifischen Gebrauch ablösen muß",10 und die sich also auch auf andere Institutionen wie Fabriken, Schulen, Kasernen oder Spitäler beziehen kann, beschreibt Foucault als 'Diagramm'.
Bezeichnenderweise findet sich zu Beginn der doppelten Videoprojektion eine Reihe von Vergleichsbildern, die auf die diagrammatische Gemeinsamkeit zwischen Gefängnis und Supermarkt verweist: Computergenerierte Grundrisse einer Strafanstalt ähneln der Aufsicht von einem Selbstbedienungsladen; numerische Bilder, die Bewegungen im Einkaufsbereich simulieren, gleichen digitalisierten Darstellungen von elektronisch überwachten Häftlingen. "Identität", so zeigt Farocki, definiert sich hier über eine Einkaufliste, oder aber über Nummern, den Standort einer Zelle und die Zugehörigkeit zu einer Gang. Das diagrammatische Bild erscheint hier also zunächst als mentale Projektion, im Unterschied zum analogen Bild in der Tradition des Photographischen, das auf der Aufzeichnung von Licht und Zeit beruht.
Das Überwachungsbild ist ein Realzeitbild, das, falls es sich um mehrere Kameras handelt, eine Kopräsenz der Bilder am Mischpult bedingt. Diese Montagepraxis der simultanen Auswahl, die dem Betrachter nicht zuletzt aus den televisuellen Live-Übertragungsformen, aber auch aus der elektronischen Kultur des öffentlichen Raums bekannt ist, bildet sich in Farockis Installation über die Kopräsenz zweier Videobilder ab; dagegen wird das digitale Bild gesetzt, das der Logik der Computerspiele nahesteht, und dem als beliebig zusammensetzbares Bild nicht mehr die Lumière'sche Einstellung als diskrete Einheit zugrundeliegt. In Farockis Collage taucht denn auch ein früher Film auf, der in einer frontal gefilmten Szenerie einen Gefängnisbesuch erzählt. Dieses Zitat scheint jedoch nicht als bloße Nostalgie in bezug auf ein Medium oder als rein ikonographische Referenz auf, sondern verweist auf den prekären ästhetischen Status, den das filmische Bild zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte und der den neuen 'postphotographischen' Bildern, die sich in einer Schere zwischen Digitalität und Analogizität befinden, heute ebenfalls anhaftet.
Die oftmals von rein technikgebunden argumentierenden Medientheoretikern so selbstverständlich postulierte begriffliche Opposition zwischen dem Analogen, Videographischen einerseits und dem Digitalen, Postphotographischen andererseits stellt sich in Farockis figurativer Demonstration als verkürzt heraus. Denn die graphisch dargestellten und numerisch generierten Positionen von Figuren nähern sich auf erstaunlicher Weise der Ästhetik der Videoüberwachungsbilder, bei denen rudimentäre Optik, Materialverschleiß, schlechte Auflösung und Kopiereffekt in einer Weise zusammenwirken, die an die Grenzen der figurativen Darstellung rührt. Die Materialität des abgenutzen Videofilms führt so zur nahezu graphischen Abstraktion, während die Computersimulationen von Menschenbewegungen eine Qualität anstreben, der die 'virtuelle Analogizität' (Raymond Bellour)11 naturwissenschaftlicher Modellbilder aus der Meteorologie oder der Biologie eignet.
Diese paradoxe Beziehung zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion zeigt sich über den mentalen Raum, den die Installation eröffnet. Denn durch die Verräumlichung der projizierten Bilder wird ein Zwischenraum sichtbar, in dem sich das entfaltet, was Bellour "L‘Entre-Images" genannt hat: Einerseits das (im Kino unsichtbare) Intervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Einstellungen, andererseits die Passagen, die zwischen den Bildern unterschiedlichen Ursprungs (Photo, Film, Video, Computerbild) liegen. Das so symptomatische Zirkulieren der Bilder zwischen verschiedenen Bildträgern, die nach Maßgabe transformiert, verfremdet und reflektiert werden, wiederholt sich bei Farocki nicht bloß über eine kulturelle Technik, sondern präsentiert sich als Gegenstand der Reflexion und als Denken der dispositiven Differenz.
Dieser Text ist eine stark erweiterte und veränderte Fassung einer Besprechung von Farockis Installation, die in "Texte zur Kunst" N°43/2001 (Versprechen Film) erschienen ist.