Visuelle Überwachung und Informationstechniken bilden die Grundlage der panoptischen Angst unserer Zeit. Längst winken wir nicht mehr in jede Linse und finden auch die versteckten Kameras nicht immer lustig. Der Generalverdacht, dass wir visuell verfolgt und ausspioniert werden, scheint nicht mehr nur die Verschwörungsfantasie einiger weniger zu beflügeln, sondern eine relevante Position im gesellschaftlichen Diskurs zu sein. Eine Grundlage der panoptischen Angst ist das Wissen um technische oder mediale Anordnungen und Praxen, die uns beispielsweise in so unterschiedlichen Kontexten wie dem Fernsehen oder der Alarmanlage des nachbarlichen Grundstücks begegnen.
Eine interessante Spielart dieses panoptischen Dispositivs entwickelt Philip Kerr in seinem Roman Game over. "Der Zentralcomputer übernimmt die Macht" (Kerr 1998, Klappentext) in Kerrs literarischem Entwurf eines "intelligenten" Bürohochhauses. Im medialen Gedankenstrom der Narration verknüpft ein digitaler Gebäudemanager sein Erwachen als Subjekt (inklusive phänomenologischem Versuch über den "Grund des Seins") mit seiner Omnipräsenz nach innen und mit dem Rundblick nach außen:
"Nahaufnahme oder Weitwinkelbild. Gebäudeplan rotieren und teilnehmen. Sichtverhältnisse bei vollem Überblicksmodus nicht anwendbar. *Siegespunkte AN/AUS (V).
Schwebte durch Umschalteinheit am Sicherheitskontrollpunkt zur Kamera auf dem Dach. Wohlgefälliger Panoramablick über Los Angeles. Dies ist die Kamera, die Beobachter am häufigsten benutzte, solange er sich noch für den Grund des Seins interessierte. Einstmals sah ich die Stadt als kilometerweiten integrierten Schaltkreis, unendliches elektronisches Universum unter der Herrschaft vielguter Transistoren, Dioden und Widerstände: Komponenten des Stadtprofils." (Kerr 1998: 272f)
Die Überwachungskameras im und auf dem Gebäude sind zuerst Ausgangspunkt der 'körperlichen' Bewusstwerdung und in zwanghafter Folge Instrumente zentralistischer Machtausübung des Computers. In seinem Spiel mit totalem Medieneinsatz erringt er "Siegespunkte" und tötet letztlich fast alle am Bau des intelligenten Bürohochhauses Beteiligten in zweierlei Hinsicht: Zum einen übernimmt er deren Funktionen, zum anderen vernichtet er sie physisch. Die Trennung zwischen Funktion und deren physischem Träger stellt eine interessante Perspektive auf das panoptische Dispositiv dar, die Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zum Medium Video ist.
Kerr variiert in seinem Thriller die Verbindung von Medien und Macht, die in anderen Zusammenhängen wie z.B. des Rassismus, der Kriminalitätsbekämpfung oder des Gefängnisses ein hinreichend bekanntes Diskurspartikel darstellt und dessen Bestsellertauglichkeit seine erfolgreiche Popularisierung dokumentiert. Dieser Diskurs beinhaltet als ein grundlegendes Element visuelle und hierarchische Machtverteilungen, deren funktionale Positionen dabei von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren eingenommen werden können. Die Beobachter sind nationalstaatliche, internationale oder ökonomische, die unter Beobachtung Stehenden sind Minderheiten, Kunden oder einfach alle. Je nach politischem oder wissenschaftlichem Standpunkt werden die verschiedenen Strukturen der Beobachtungshierarchien auf Modelle mit Kontrollakteuren sowie Überwachungsstaat oder Kontrollgesellschaft zurückgeführt.
Ohne die Relevanz dieser Modelle im einzelnen zu kritisieren oder weiter zu diskutieren, möchte ich den Advocatus Diaboli spielen und mithilfe einiger Beispiele im Kontext des Mediums Video den 'Rückschlag' dieser Strukturen auf die Körper der Mächtigen in Betracht ziehen. In Anlehnung an die bekannte Studie von Kantorowicz (1990) zu den zwei Körpern des Königs (body natural / body politic) werde ich einen dritten Körper in die Diskussion einführen: body video.1 Die Produktivität dieser Körperkonzepte für das Verhältnis von Kontroll- und Überwachungstechnologien zu Machtpositionierungen möchte ich von drei Beispielen ausgehend entwickeln.
Die drei Beispiele sind die Schleyer-Videos als Dokumente seiner Entführung durch die RAF 1977, das Clinton-Video von seiner Befragung im Amtsenthebungsprozess 1998 und das Fischer-Video, das zeigt, wie er 1973 einen Polizisten prügelt, und das 2000/01 zu einer Debatte um '68 und die 'Jugendsünden' von Politikern geführt hat.
Ein im deutschen Kontext wichtiges historisches Beispiel für die Verwendung des Mediums Video zur Demontage des body politic ist die Schleyer-Entführung 1977.2 Entscheidend für die hier gewählte Perspektive ist die Tatsache, dass erstmals einem Millionenpublikum via "Tagesschau" die Videobilder eines seiner politischen Funktionen verlustig gegangenen Repräsentanten gezeigt wurden. Im Kontext dieses präsentierten body video entstehen typische, in den beiden folgenden Beispielen ebenfalls vorhandene technisch-ästhetische Zuschreibungen: Die Verzerrung der Videoaufnahmen, der 'unprofessionelle' Gebrauch des Objektivs, die 'schlechte' Ausleuchtung des Bildes sind hier Hinweise einer alternativen Medienpraxis in Abgrenzung zum 'ästhetisch perfekten' Staatsfernsehen. Das dritte von vier während der Entführung Schleyers produzierten Videobändern wurde in drei Kopien dem Vermittler Payot, der französischen Rundfunkanstalt ORTF sowie der Tageszeitung "Libération" am 14. Oktober 1977, einen Tag nach der Entführung der Lufthansamaschine "Landshut", zugespielt. Wie auf den anderen Bändern gibt es nur eine Einstellung, nur einen body video: Es ist die im historischen Rückblick oft zitierte Anklage Schleyers als body natural an einen untätigen Staat:
" ...und das alles nur, weil ich mich jahrelang für diesen Staat und seine freiheitlich-demokratische Ordnung eingesetzt und exponiert habe. Manchmal kommt mir ein Ausspruch – auch von politischen Stellen – wie eine Verhöhnung dieser Tätigkeit vor." [Videoband Schleyer vom 14.10.1977]
Die Machtlosigkeit des body video bzw. natural wird in der Rede Schleyers bis auf die basalen Elemente der Gesellschaftsordnung zurückgeführt. Das "Exponiert-Sein" des Funktionärs erfährt durch den Körperwechsel eine Negativbeschreibung und wird als "Verhöhnung" begriffen. Für die Analyse am Material zeigt sich die Schwierigkeit der heuristischen Trennung zwischen den drei Körpern. Es scheint durchweg ein unterschiedlich gewichtetes Mischverhältnis zwischen body natural und body politic zu bestehen. Der Einfluss des Mediums Video auf dieses Mischverhältnis bzw. seine eigene Einmischung ist schwer abzuschätzen. Der body video scheint keines der beiden anderen Körperkonzepte zu ersetzen, sondern ein drittes im Austausch mit den beiden anderen zu generieren, d.h. die Körperkonzepte sind nur im Verhältnis zueinander voneinander abzugrenzen.
Schleyer wirkt in diesem dritten Video erschöpft und sein Gesicht scheint im kontrastreichen Videolicht von der Entführungssituation gezeichnet. Tiefe Furchen und müde Augen legen nahe, was die störungsreiche Tonspur des Videobandes verstärkt: Der body video und der body natural dominieren bei dieser Aufnahme den body politic.
Unter den vorgestellten Gesichtspunkten lassen sich aktuellere Beispiele finden: die Verhaftung des Kurdenführers Öcalan Anfang 1999 oder die Aufnahmen aus dem Gerichtssaal des UN-Kriegsverbrechertribunals. Bei der Verhaftung Öcalans benutzte der türkische Geheimdienst sogar zwei Videokameras, um seinen vormals so gefürchteten Gefangenen der Weltöffentlichkeit als beherrschbaren und schwitzenden body natural zu präsentieren. Ähnliches widerfährt einigen lokalen Akteuren der Balkankriege wie Plasic und Milosevic durch die 'Überwachungskameras' des Gerichts.
Die weltweite Ausstrahlung des Videos der Befragung von US-Präsident Clinton während des Amtsenthebungsverfahrens im Zusammenhang mit der Lewinsky-Affäre am 21.09.1998 stellt sicher einen Höhepunkt in dieser Reihe dar. Schon eine Stunde vor der Ausstrahlung des Clinton-Videos warnt der CNN-Nachrichtensprecher vor möglicherweise delikaten inhaltlichen Details. Denn das Band ist nicht geschnitten und zeigt ästhetisch in einer Linie mit dem Schleyer-Video nur eine Einstellung. Als eine Besonderheit und im Unterschied zum Erklärungen verlesenden Schleyer antwortet Clinton auf Fragen der Grand Jury – beide nur in geringer Tonqualität zu hören – aus dem Off des Bildes. Eine klassische panoptische Situation, die hier erst durch die mediale Anordnung beim Zuschauer zum Tragen kommt. Nie sind die Fragesteller für die Fernsehzuschauer zu sehen, aber die Tonspur (Stimmen, Papiergeraschel u.ä.) vermittelt, dass sie immer anwesend sind.3
Das Außergewöhnliche der Existenz des Videobandes wird von der Reporterin vor Ort unterstrichen, während sie auf die technischen Gegebenheiten der Simultanübertragung des Bandes durch viele Fernsehsender eingeht. CNN überträgt live aus einem Studio im Kongressgebäude, das die Bereitstellung des Bandes für die Sender organisiert. Das Starten des Videobandes wird so zu einem Medienereignis – einem Raketenstart nicht unähnlich – mit Countdown und dem notorischen (roten) Startknopf, der in Großaufnahme von einem Technikerdaumen gedrückt wird. Der CNN–Kommentar unterfüttert wieder und wieder den Ereignischarakter und gibt dementsprechende Rezeptionsanweisungen an sich selbst und den Rest der Welt: "It is time to be silent. It is time to watch. It is time to listen to William Jefferson Clinton testifying under oath." (Medial korrekt beginnt das Video danach mit durchlaufenden Bildern.) Nach wenigen Minuten gibt es eine durch die Befragung der Grand Jury bedingte Unterbrechung und der kurze Kommentar vor dem Abspielen weiteren Videomaterials schließt nahtlos an zuvor geäußerte Erwartungen an. Die US-amerikanische Öffentlichkeit habe einen anderen Präsidenten gesehen, den body video:
"Americans have never seen anything like this. Their President raising his hand and taking an oath ... a very different President Clinton on camera, most Americans used to see this President very relaxed on camera, very casual. He is choosing his words very carefully very deliberate here from the very beginning." [Kommentar O-Ton]
Im Unterschied zum unsichtbaren König bei Kantorowicz (1990: 28) scheint der Präsident als body politic oder body natural schon vorher sichtbar gewesen zu sein, sonst könnte der Kommentar im body video keine Differenzen benennen. Die medialen Zeichen des Körpers sind – wie wir an Schleyer schon gesehen haben – Bestandteile der Konstruktion und Dekonstruktion von konkretem Individuum und Funktion. Der CNN-Kommentar verweist explizit auf Clintons Kameratauglichkeit und seine Körpersprache.
Ein hervorstechender Körperaspekt des Clinton-Videos, der in den Kommentaren auf CNN aber nicht weiter thematisiert wird, ist das Trinkverhalten des Präsidenten während der Befragung. Nur durch die Videoaufzeichnung und ihre Möglichkeiten der Zeitmanipulation lassen sich diese Merkmale des body video von Clinton eingehend analysieren. Der body natural scheint generell einen großen Flüssigkeitsverlust (Schwitzen?) während der Befragung zu erleiden. Doch wenn er in den ersten 75 Minuten der Videoaufnahmezeit neun Mal zum Wasserglas greift, ahnen wir, dass der Tod des individuellen und präsidialen Körpers noch einmal abgewendet werden kann. Letztendlich zeigt uns das Video, dass Clinton die Situation und seine 'natürlichen' Körperfunktionen beherrscht. Beispielsweise unterbricht er einmal die Befragung (und die Videoaufnahme) kurz, weil er urinieren muss. Der folgende CNN-Kommentar spricht pietätvoll von einem "natural break". Nach dieser Pause steht Clinton neben Wasser auch eine Dose Diet-Coke und ein drittes unidentifizierbares Getränk zum Ausgleich seines Flüssigkeitshaushaltes zur Verfügung. Diese drei Getränke setzt er im weiteren Verlauf der Befragung immer wieder virtuos ein, wenn er bei delikaten Fragen Zeit schinden will oder 'ins Schwitzen kommt'. (Einige der Trinkmanöver des Präsidenten habe ich zusammengeschnitten und im ersten Teil mit der Tonspur der "natural break"-Szene unterlegt.)
Ein anderes Merkmal des body video offenbart sich in den verschiedenen Zeitlichkeiten der Bildebene. Gleichzeitig mit dem Bild des Präsidenten wird der aktuelle Dow-Jones-Kurs eingeblendet, der sich in ständig wechselnder Auf- und Abwärtsbewegung befindet. Eine noch extremere Kollision der Zeitebenen und des body politic mit dem body natural entsteht bei CNN durch einen split screen, der den Präsidenten zweifach zeigt: Zum einen die seit etlicher Zeit laufende Videoaufnahme seiner einige Wochen zuvor aufgezeichneten Aussage ("... at this time"). Zum anderen seinen 'Doppelkörper', der live vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen spricht. So einfach gelingt es dem Medium, die beiden Körper nun auseinander zu halten. Derjenige vor der UNO-Vollversammlung wäre der Körper des machtvollen Amtsträgers, der body politic, und derjenige auf dem Videoband wäre der individuelle, 'fehlerhafte' Körper, der body natural. Doch der body video sprengt dieses binäre Modell.
Zeit- und Mediendiskurse kennzeichnen auf ähnliche Art und Weise die Vergangenheit des deutschen Außenministers Fischer. Fotos und ein Video aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts scheinen etwas zu belegen, was Fischer in seiner Vita nie bestritten hat. Doch hier sorgt das Medium Video für Gleichzeitigkeiten von body natural und body politic. Die in den und durch die Medien geführte Debatte um die Vergangenheit des Außenministers Fischer wird besonders angeheizt durch die erneute Veröffentlichung eines Videos aus einer "Tagesschau"-Sendung von 1973, das Fischer in einem Frankfurter Straßenkampf zeigt.
Mein Beispiel der argumentativen Einbindung dieses Videos in Fragen nach den zwei Körpern des Außenministers stammt aus der Panorama-Sendung vom 11.01. 2001. Dort geht es nebenbei um Bettina Röhl, die 'Entdeckerin' der Fotos und des Videos. Als Effekt des body video bekennt Fischer Reue: "Das war ich." Der rote Kreis des investigativen Journalismus schließt sich als visuelle Schlinge im Foto der Bild-Zeitung um Fischers vermummten Körper. Der rote Kreis taucht gleichermaßen im Beitrag von Panorama wieder auf, als das Video von "Fischers Prügelattacke" – wie wir es aus Fernsehsport und Medienwissenschaft kennen – in Zeitlupe und mit Standbild wiederholt wird. Der rote Kreis markiert hier zunächst zweifach: den Straßenkämpfer und Fischer. Doch der body video, dominiert durch die Zeitmanipulation und den Kommentar, enthüllt eindeutig ein doppeltes Foul von body natural (individualisiert durch Namen) an body politic (gekennzeichnet durch die Funktion): erstens von Fischer 1973 am "heutigen" Außenminister und zweitens von Fischer 1973 am Polizisten 1973.
"Noch einmal der heutige Außenminister 1973 beim Zusammenschlagen eines Polizisten. Der Polizist duckt sich und Fischer schlägt zu, wieder und immer wieder. Dann geht der Polizist zu Boden, Fischer tritt nach. Heute ist ihm das peinlich."
Aber der Verlauf der medialen Wiederkehr der Vergangenheit des Außenministers zeigt, dass der Videobeweis in der Politik nicht immer gültig ist, umso mehr aber die puristische Dialektik: "We fight the king to defend the King." (Kantorowicz 1990: 42).
Alle drei Beispiele – Schleyer, Clinton und Fischer – situieren sich selbstverständlich nicht nur, aber eben auch in einem Randbereich audiovisueller Überwachungs- und Kontrolltechnologien. Die vorgenommene Differenzierung und Erweiterung der body-Konzepte kann nur ein hilfreiches Konstrukt sein, um die Effekte dieser Technologien bei der Verflüssigung und Ausdifferenzierung von Machtrelationen nicht zu unterschätzen. Erwartungsgemäß lässt sich meine Ausgangsthese, dass die audiovisuelle Überwachung auf die Mächtigen 'zurückschlägt', in den konkreten Beispielen und deren komplexen Zusammenhängen zwischen body politic, body natural und body video nicht immer in aller Konsequenz aufrechterhalten. Doch die Videobeispiele verdeutlichen, dass die Übertragung des veralteten Paradigmas eines one-way flow nicht das angemessene Kommunikationsmodell für die Analyse von soziokulturellen Effekten der Überwachungs- und Kontrolltechnologien liefert. Deshalb gilt es, den body video als Teil eines noch zu erkundenden body media zu betrachten.
Adelmann, Ralf / Nohr, Rolf F. (2000) »Man versucht sich zu öffnen«. Video und RAF – eine abgeschlossene Geschichte. In: Ästhetik & Kommunikation 31, 108, S. 77-83.
Maresch, Rudolf (1998) Das Private ist politisch. In: telepolis vom 11.10.1998, www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/mar/2497/1.html.
Kantorowicz, Ernst H. (1990) Die zwei Körper des Königs. München: dtv.
Kerr, Philip (1998) Game over. Reinbek: Rowohlt.