Angst vor Beobachtung in den zeitgenössischen Medien
Überwachung ist nichts Neues: Insbesondere seit Orwells Buch 1984, das bereits 1949 die Vision eines autoritären Staats präsentierte, der jede Lebensäußerung aggressiv kontrolliert, ist unsere Wahrnehmung der Zukunft – und zunehmend auch der Gegenwart – von der Furcht geprägt, wir würden beobachtet, kontrolliert und unserer Privatsphäre beraubt. Und wirklich ließe sich argumentieren, dass haargenau die Verwirklichung von Orwells schlimmsten Alpträumen eines der zentralen Kennzeichen des ausgehenden 20. Jahrhunderts geworden ist: Immer stärker prägt Überwachung unseren Alltag, und zwar in Ausformungen, die von den eher offensichtlichen Videoüberwachungskameras (CCTV – closed-circuit television) bis hin zu den hinterhältigeren (weil weitgehend unsichtbaren) Varianten digitaler Informationsdokumentation reichen, die heute unter dem Namen "Datenüberwachung" (dataveillance) geläufig sind und alles Mögliche umfassen, angefangen von der Registrierung unserer Einkäufe im Supermarkt über die Aufzeichnung der Daten der Handybenutzung bis hin zur Erstellung des individuellen Interessensprofils jedes einzelnen Internet-Surfers. Werbefachleuten – stets äußerst feinfühlige Barometer für gesellschaftliche Entwicklungen – blieb diese Tatsache nicht verborgen, wie beispielsweise folgende Reklametafel beweist, die in Manhattan für Oberbekleidung wirbt:
"An jedem durchschnittlichen Tag werden Sie mindestens ein Dutzend Mal von Überwachungskameras gefilmt – sind Sie auch schick genug angezogen?"
Eine Zeitungsreklame wiederum wartet mit folgender Feststellung auf:
"Gerade mal zehn Prozent der New Yorker, die ein Teleskop besitzen, interessieren sich für Astronomie."
Demnach funktioniert Überwachung in zwei Richtungen: Wir sind ihr Objekt, aber wir selbst betreiben sie auch aktiv.
Die Dynamik des allgegenwärtigen Voyeurismus und der allgegenwärtigen Observation und Datendokumentation bleibt dabei keineswegs nur auf die Vereinigten Staaten von Amerika beschränkt, wie ein faszinierender Bericht an das Europaparlament belegt (Steve Wright, An Appraisal of Technologies for Political Control). Bei der Lektüre dieses ebenso nüchternen wie systematischen Katalogs einer ganzen Reihe technischer Hilfsmittel und Praktiken zur Beibehaltung von Macht (die ausführliche Behandlung des Stichworts Überwachung stellt nur eines der Kapitel dieses umfangreichen Dokuments dar) wird einem bewusst, dass das, was man vor der Lektüre vermutlich als wüste Verschwörungstheorie abgetan hätte, nicht nur in vielen Fällen zutrifft, sondern vielfach noch weit erdrückender ausfällt, als man es sich je hätte träumen lassen. Aus Wrights Bericht erfahren wir, dass sich erstens zahlreiche Ex-Militärausrüster nach dem Ende des Kalten Krieges primär auf den sogenannten privaten Sektor umorientiert haben, und dass zweitens neue digitale Technologien dem Staatsapparat die nötigen Mittel an die Hand geben, Fernschreiben, Telefaxe, E-Mails und sogar Telefonate automatisch auf Schlüsselworte hin scannen zu lassen und alles selektiv zu speichern, was von Interesse scheint. Heutzutage lässt sich diese Aufgabe vollautomatisch erledigen – früher einmal (zum Beispiel in der DDR) brauchte es dazu eine halbe Million geheimer Informanten, von denen bis zu zehntausend Personen nur damit beschäftigt waren, Telefongespräche abzuhören, mitzuschneiden und zu transkribieren. Erst kürzlich wurde aufgedeckt, dass das berühmt-berüchtigte Projekt 'ECHELON' – eine Gemeinschaftsunternehmung der USA, Großbritanniens, Kanadas, Neuseelands und Australiens – als weltumspannendes Üherwachungssystem funktioniert, mit dem der gesamte Datenverkehr zwischen sämtlichen Intelsat-Satelliten "durchschnüffelt" wird – und damit so gut wie alle Satellitentelefonate, fast der komplette Internet-Verkehr, alle Faxe und alle E-Mails. Das System, ursprünglich zu militärischen Zwecken entwickelt, wird heute im gleichen Umfang zur routinemäßigen Überprüfung "ziviler Ziele" eingesetzt. Wie der zitierte Bericht erhellt, steuern alle fünf an 'ECHELON' beteiligten Staaten "Lexika" mit Stichwörtern, Redewendungen und Namen bei, woraufhin sie wenig später automatisch erstellte Abschriften des kompletten Textes sämtlicher "elektronisch markierter und abgefangener Meldungen" erhalten – so etwas erweist sich nicht nur bei der Bekämpfung von "Terroristen" als nützlich, sondern ebenso bei der Aushandlung von Handelsabkommen. Selbst augenscheinlich harmlose Technologien wie beispielsweise Systeme zur Kontrolle des Straßenverkehrs lassen sich mühelos zu Überwachungszwecken umfunktionieren, wie sich im Nachspiel zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Pekinger Tienanmen-Platz herausstellte. Das dort installierte Verkehrsüberwachungssystem, ein Gemeinschaftsprodukt der Firmen Siemens und Plessy, wurde nämlich zur Identifizierung so gut wie aller Studentenführer eingespannt: man zeigte die Aufzeichnungen der Videokameras solange im Staatsfernsehen, bis alle gesuchten Personen denunziert worden waren. Erst vor kurzem wurde ein ganz ähnliches Verkehrskontrollsystem nach Lhasa exportiert, obwohl man in ganz Tibet keine Verkehrsstaus kennt. Die unschöne Schlussfolgerung, die der zitierte Bericht aus solchen Fakten zieht, besagt schlicht, dass "demokratische Verfahren der Rechenschaftslegung das einzige Kriterium sind, das ein modernes System der Straßenverkehrskontrolle von einer technisch hochentwickelten Technik zur Festnahme von Dissidenten unterscheidet". Trotzdem sind solche Systeme der Verkehrsüberwachung noch harmlos im Vergleich zur neuesten Generation technischer Hightech-Spielereien wie beispielsweise der in Dänemark hergestellten Stroboskopkamera "Jai", die binnen Sekunden Hunderte von Fotos schießt – auf diesem Wege lassen sich problemlos Fotodokumentationen sämtlicher Teilnehmer einer Demonstration erstellen. Ähnliches gilt für parabolische Mikrofone, mit deren Hilfe man mühelos Unterhaltungen abhören kann, die bis zu einem Kilometer entfernt stattfinden; die deutsche Elektronikfirma PK Elektronik hat vor kurzem eine auf Lasertechnik basierende Version dieses Geräts vorgestellt, die selbst noch durch geschlossene Fenster jedes Gespräch belauscht, sofern freie Sicht auf die Sprecher gewährleistet ist. Ein jüngst erschienener Artikel der New York Times brachte die Konsequenzen folgendermaßen auf den Punkt:
"Wenn Sie das Empire State Building sehen können, können umgekehrt auch wir Sie sehen, hören und vor allem aufzeichnen."
Weniger eindeutig auf die Geheimdienste verweisend, aber ebenso beunruhigend sind folgende zwei Feinheiten der neuen ISDN-Telefonsysteme: Erstens wurden sie nicht nur optimiert, um die Datenübertragung zu 'ECHELON'-verwandten Schnüffelsystemen zu ermöglichen, sondern zweitens lässt sich bei jedem ISDN-Telefon ohne Klingelzeichen elektronisch der Hörer "abheben" und damit jede beliebige Unterhaltung in einem Privathaus oder Büro mithören. Kreditkarten und neue computerlesbare Pässe erlauben schon seit langem die Dokumentation der geografischen Bewegungen eines Individuums – allerdings mit zeitlichen Unterbrechungen und Lücken; trotzdem macht diese Tatsache die paranoide Hellsichtigkeit absolut nachvollziehbar, die in Deutschland bereits vor Jahren massive Proteste gegen die Einführung von Strichcodes auf den Personalausweisen ausgelöst hatte. Dank der rapiden Ausbreitung von Handys und ihren proletarischen Vettern, den "Beepern" (in Deutschland unter dem Namen "Scall" oder auch "Quix" im Handel), haben die genannten Möglichkeiten zur Dokumentation der Ortsbewegungen von Individuen in jüngster Zeit merklich an Exaktheit zugelegt, weil die relevanten Daten aus den Handys weit häufiger "aufgefrischt" werden, um es einmal so auszudrücken. Dieses Faktum wurde bei einer Werbekampagne für das neue (und mittlerweile fast bankrott gegangene) weltumspannende Satelliten-Handy-System der Firma lridium taktisch gesehen merkwürdig ungeschminkt ausposaunt:
"Es sollte doch eigentlich nicht leichter sein, den Verbleib eines Postpakets zu dokumentieren als den Aufenthaltsort einer Person." (Im Originalton der Reklame: "Tracking a package shouldn't be easier than tracking a person.")
Die potenziell finsteren Folgen dieses augenscheinlich harmlosen Charakteristikums der neuen Technik wurden erst kürzlich anlässlich der Ermordung des tschetschenischen Rebellenführers Dudayew unterstrichen: dieser zurückgezogen lebende Nomade, der lediglich per Handy Kontakt zur Außenwelt hielt, wurde anhand der Positionssignale seines Mobiltelefons geortet und liquidiert, indem die Handysignale zum überaus effektiven Zielpeilungssignal einer Rakete umfunktioniert wurden.
Sollte einem schon bei solchen Details mulmig werden, möge man sich die Implikationen der Einführung des IKONOS-Satellitenbilddienstes durch den Kopf gehen lassen, die im Sommer 1999 mit großem PR-Tamtam erfolgte: Einerseits verbessert diese neue Generation von Satellitenkameras die Bildschärfe der für jedermann auf Anfrage verfügbaren Luftaufnahmen, so dass jetzt statt der 10 m Auflösung des bisherigen Standards der SPOT-Satelliten die lang ersehnte Auflösung von 1 m erreicht wird, andererseits muss man vor allem bedenken, dass das Militär sich Auflösungen vorbehält, die noch um Längen präziser sind (manche Experten schätzen, dass die Auflösung der Satellitenfotos vielleicht schon bei 3 cm liegen könnte). Ergänzend sollte man versuchen, sich die Auswirkungen der nächsten Generation terrestrischer Überwachungstechnologien vorzustellen, die auf das erst im Entstehen begriffene, aber rasche Fortschritte verzeichnende Forschungsgebiet der Biometrik zurückgreifen, welches die automatische Personenerkennung anhand von Gesichts- oder Augenabgleichungen erlaubt – man denke nur an den berühmten "Netzhautscan", der bereits an manchen Geldautomaten im Pilotversuch getestet wird. Kombiniert man die Biometrik mit den bereits heute installierten Videoüberwachungssystemen, erlaubt diese Technologie dann eines Tages nahezu überall, im öffentlichen wie im privaten Raum, die vollautomatische und kontinuierliche Identifikation sowie Dokumentation bestimmter Personen samt ihres Aufenthaltsorts.
Unsere Wirklichkeit entspricht dem geschilderten Big Brother-Szenario des 21. Jahrhunderts noch nicht in allen Details – auch wenn sie ihm bereits beunruhigend nahekommt –, dennoch erklärt letztgenanntes Szenario, warum die Gesetzgebungsdebatte um Verbreitung und Einsatz augenscheinlich "neutraler" Überwachungssysteme heute von entscheidender – und immer zentralerer – Bedeutung ist. Die staatliche Regulierung solcher Überwachungstechniken unterscheidet sich von Land zu Land ganz erheblich: In Dänemark zum Beispiel ist der Einsatz aller Videoüberwachungssysteme im öffentlichen Raum kategorisch verboten, in Großbritannien dagegen floriert das Kameraüberwachungswesen so gut wie ohne jede Kontrolle. Nach analogem Muster hat die Tatsache, dass Cyber-Unternehmer als ungebetene Dritte die Online-Aktivitäten des vernetzten Computerbenutzers dokumentieren und die gewonnenen Daten an potenzielle Werbeträger und sonstige Händler verkaufen, gegenwärtig eine wichtige Regulierungsdebatte bezüglich des politischen Umgangs mit der Privatheit von Daten ins Rollen gebracht – in Europa sind datenbezogenen Aktivitäten viel engere Grenzen gezogen als in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die "Regierung" des Cyberspace weitgehend der Dynamik einer ungezügelten Marktlogik überlassen wird.
Es gibt aber noch eine zweite Arena, in der gegenwärtig die Politik der Überwachung ausgehandelt wird – wie nicht weiter überraschen wird, geht es dabei um den Bereich der kulturellen Produktion. Es ist allgemein bekannt, dass zumindest eine weitverbreitete Klasse von Überwachungsgeräten ihre Entstehung einer Anregung aus dem Reich der Populärkultur verdankt – die Rede ist vom elektronisch überwachten Hausarrest (EMHC, electronically monitored home confinement), bei dem am Fußknöchel oder Handgelenk des Delinquenten angebrachte Bänder die Bewegungen von Straftätern dokumentieren, die unter Hausarrest stehen: Der Erfinder des Ganzen, ein Haftrichter aus New Mexico, räumt freimütig ein, dass er die Idee zu diesen Sendern aus einem 1979 erschienenen Spiderman-Comic übernahm. Trotz dieses höchst bemerkenswerten Umstands haben erst wenige Kritiker, die sich mit dem Phänomen Überwachung beschäftigen, erkannt, wie nachdrücklich die öffentliche Meinung (und damit auch die gängigen Haltungen zum Thema Überwachung und die Einschätzungen der ihr inhärenten Gefahren) auch und nicht zuletzt von verschiedenen Formen der so genannten "Hochkultur" bzw. der "Massenkultur" geprägt wird. Zwar verläuft dieser Prozess parallel zu den oben skizzierten und äußerst wichtigen Regulierungsdebatten, dennoch stelle ich die These auf, dass heute, da das neue Jahrtausend begonnen hat, jedes soziopolitisch fundierte Begreifen des Phänomens der Überwachung unbedingt untersuchen muss, mit welch frappanter Geschwindigkeit die Rhetorik besagter Überwachung in so gut wie allen zeitgenössischen Medien Ausbreitung findet, angefangen vom Kino übers Fernsehen bis hin zum Cyberspace – und wohlgemerkt sowohl thematisch als auch formal.
Eines der Paradebeispiele für die gleichzeitige Faszination und Bedrohung, die in der heutigen Populärkultur von der Überwachung ausgeht, ist der nachgerade prototypische Film THE TRUMAN SHOW (USA 1998), dessen Handlung aus nichts anderem besteht als der Zurschaustellung eines Lebens, das rund um die Uhr überwacht wird. Das wohl Bemerkenswerteste an dieser humoristischen Gleichsetzung einer TV-Sendung mit dem buchstäblichen "Big Brother" ist die Inszenierung eines laufend überwachten Lebens in Form eines mitreissenden Schauspiels, was die wiederholt ins Bild gesetzte Gemeinde begeisterter Fernsehzuschauer in aller Welt an Truman so goutiert, ist (neben dem klassischen voyeuristischen Vergnügen, jemanden beobachten zu können, ohne dass der Betreffende dies merkt) der Umstand, dass sich die Überwachung durch folgende zwei wesentliche Eigenschaften auszeichnet: Erkennbarkeit und Eingrenzung. Anhand verschiedener Kunstgriffe – optische Einblendungen, die auf in der Kleidung (button-cam) oder an der Hausaußenseite (sidewalk-cam) versteckte Kameras hinweisen, Kommentare aus dem 0ff, die "uns" darüber informieren, welches dieser Aufnahmegeräte gerade läuft etc. – wird dem mitfiebernden Publikum klar gemacht, dass man Überwachung durchaus erkennen und als solche identifizieren kann: dies lindert die Angst vor einer unsichtbaren Überwachung, die sich unmöglich erkennen lässt und einem keinerlei Kontrollmöglichkeiten bietet, noch nicht einmal den Quasi-Zugang, den man als Zuschauer genießt. Da das panoptische Umfeld zudem auf das des Mega-Studios beschränkt ist, in dem die Show "stattfindet", evoziert der Film zwar einerseits eine von überall mit dem Auge einer Kamera einzusehende Welt, beharrt jedoch andererseits darauf, dass dies nicht die unsere, sondern lediglich die Scheinwelt des Fernsehens sei. Und obwohl es – aus Gründen, zu denen ich später noch komme – entscheidende Bedeutung hat, dass DIE TRUMAN SHOW im Fernsehen "live" ausgestrahlt wird, ist es genauso wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Film ein Loblied singt auf jene Sorte Überwachung, die jedermann erfreut: Alle Welt sieht gerne dabei zu, wie Menschen – und zwar, wie sich noch zeigen wird, sogar sie selbst – beobachtet werden.
THE TRUMAN SHOW ist jedoch mitnichten ein Einzelfall, und wirklich bekommt man eine gute Vorstellung davon, in welchem Ausmaß die Überwachung in unserer Massengesellschaft zu einem vorherrschenden Gegenstand kultureller Besorgnis geworden ist, wenn man sich die Anzahl und Vielfalt der Medien vergegenwärtigt, die in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen haben, das Thema zu erforschen. Doch selbst da, wo diese Sorge klar und deutlich zum Thema gemacht wird – etwa in Filmen wie SLIVER (USA 1993), bei dem die Bewohner eines Hochhauses in Manhattan nichts davon wissen, dass das ganze Gebäude verkabelt ist und mittels femgesteuerter beweglicher Kameras mit variabler Brennweite (PTZ – pan-tilt and zoom; die neueste Variante nennen die Fachleute übrigens "intelligente Überwachungskameras") unablässig überwacht wird, oder auch im gegenwärtigen Boom sogenannter "Realitv TV"-Shows, deren Macher den Aktivitäten oftmals ahnungsloser "Opfer" in einem wüsten ästhetischen Konglomerat aus "Versteckte Kamera" und "cinéma-vérité" nachstellen –, stellt sich weiterhin die Frage, wie es zu interpretieren ist, dass das Phänomen Überwachung so sehr in den Vordergrund gerückt wird. Gibt es beispielsweise einen signifikanten Unterschied zwischen David Lynchs Film LOST HIGHWAY (Frankreich/USA 1996) zum einen, in dem über "Watchman"-Handmonitore flimmernde Videoüberwachungsbilder eine fast schon surreale und zutiefst paranoide Form narrativer Beklemmung erzeugen, die mit der Logik des "geschlossenen (Video)Kreises" zusammenhängt, und Brian DePalmas SNAKE EYES (USA 1998) zum anderen, in dem die Überwachungskameras des Spielkasinos, das den Schauplatz des Filmes bildet, zum zentralen narrativen Instrument werden, das es uns erlaubt, die Handlung aus dem Blickwinkel des Mannes zu "verfolgen", der die Videoüberwachungsanlage des Kasinos steuert. Denn genauso, wie man das erstgenannte Werk dahingehend auslegen könnte, dass es eine Kritik der Überwachung entwickelt, indem es ihre störenden und bedrohlichen Eigenschaften sowie die Ambiguität ihrer scheinbar so eindeutigen Bilder hervorhebt und außerdem ihre Komplizenschaft mit der Macht sowie die Einschränkung der öffentlichen Sphäre und das Ende jedweden Privatlebens zum Thema macht, könnte man umgekehrt argumentieren, dass DePalmas SNAKE EYES mit Hilfe äußerst subtiler formaler Mittel das Phänomen Überwachung legitimiert, indem dieser Film den Zuschauer in die höchst behagliche (nämlich mit vielerlei Machtbefugnissen ausgestattete) Position des Mannes an der Überwachungskamera versetzt. Da das Verlangen des Zuschauers, der partout "wissen" will, was läuft, in SNAKE EYES von einer Kameralogik befriedigt wird, die unverhohlen zu erkennen gibt, dass sie im Dienste der Observierung steht, könnte man dies wiederum in zwei konträren Lesarten interpretieren: entweder soll herausgestellt werden, dass eine ganz bestimmte Stilrichtung des narrativen Kinos sich aus Gründen der visuellen Ökonomie ganz bewusst auf die Ebene der Überwachung hinab begibt, oder aber wird die Tätigkeit der Observierung wirkungsvoll entpolitisiert, weil wir durch unseren Zugang zur Überwachung visuelles Vergnügen empfinden, was die optische Bespitzelung banalisiert und bestätigt, dass sie eigentlich ganz harmlos und im Grunde genommen eine höchst nützliche und angenehme Beschäftigung ist.
Andere Filme jüngeren Datums, die auf sehr ehrfurchtsvolle Art und Weise "klassische" kinematografische Meditationen über das Phänomen Überwachung zitieren, weisen daraufhin, dass das Sujet ebenfalls eine wichtige historische Dimension als ein zentrales Kapitel in der komplizierten Genealogie der medialen Selbstreflexion hat. Man führe sich nur vor Augen, wie etwa THE END OF VIOLENCE (Frankreich/ Deutschland/ USA 1997) von Wim Wenders fast genau dieselben kniffligen ethischen und politischen Fragen aufwirft, die bereits in Antonionis BLOW UP (England 1966) gestellt wurden, einem Werk, das seinerseits eine bedeutende frühe Studie der Fotografie als unabsichtliche Form der Überwachung ist. Oder, um ein noch aktuelleres Beispiel anzuführen: Was ist davon zu halten, dass der Kassenschlager ENEMY OF THE STATE (USA 1998), ein Streifen, der fast zur Gänze aus der Perspektive eines Sammelsuriums von versteckten und mobilen Überwachungsvorrichtungen aufgenommen wurde, ebenfalls ein äußerst werkgetreues, allerdings auf das GPS-("Global Positioning Satellite") Zeitalter zugeschnittenes "Remake" eines Filmes ist, bei dem es sich um die womöglich bedeutsamste frühe kinematografische Untersuchung der Überwachung von Tonaufzeichnungen handelt, nämlich um Francis Ford Coppolas Meisterwerk THE CONVERSATION (USA 1974)? Und einmal ganz abgesehen davon, weshalb wohl in beiden Versionen derselbe Darsteller auftritt – Gene Hackman in der Rolle des bärbeißigen Hackergenies – und die Trennlinie zwischen vordergründiger thematischer Überwachung und einer narrativen Erzählform respektive formalen Ästhetik verwischt wird, die ihrerseits, obschon kaum wahrnehmbar, im Dienste der Observierung steht, stellen sich noch weitere Fragen. Warnen diese Filme mit ihrer fast schon pädagogisch anmutenden Auflistung von Überwachungsvorrichtungen und der geduldigen Erklärung ihrer Funktion womöglich das Publikum vor Gefahren und technologischen Möglichkeiten, derer es sich zuvor vielleicht überhaupt nicht bewusst war, und ist dies womöglich ein Beleg für eine plötzliche Politisierung Hollywoods – oder geht es vielmehr um ein ebenso zynisches wie abgekartetes Spiel mit der visuellen Anziehungskraft von Neuheiten aus der technologischen Trickkiste – oder geht es gar um beides in einem?
Angesichts der Tatsache, dass sich diese Überwachungsspektakel angestrengt darum bemühen, "Echtzeit" zu inszenieren, erscheint es mir wichtig, sich Gedanken über die Bedeutung dieser neuen Versessenheit auf Unmittelbarkeit zu machen. Einerseits lässt sich die Anziehungskraft der "Direktwiedergabe" semiotisch als Antwort darauf deuten, dass der Fotografie im Zeitalter ihrer digitalen Manipulierbarkeit praktisch keinerlei dokumentarischer Wert mehr zukommt. Diesem medienhistorischen Argument zufolge ist die Hinwendung zur Überwachungstechnologie eine Hinwendung zur Zeitweiligkeit als einem neuen Garanten für die "Wahrheit" des Bildes und soll dafür sorgen, dass das Kino die rhetorische Kraft zurückerlangt, die es früher aus dem foto-chemischen Anspruch des Filmbildes auf Wahrhaftigkeit bezog (und im Zeitalter von "Photoshop" verloren hat). Der "Wirklichkeitsanschein" (um den wunderbaren Ausdruck von Barthes zu nehmen), der in der Vergangenheit von der Indexikalität der Fotografie garantiert wurde, stellt sich jetzt durch die rhetorische Kraft der sogenannten "Echtzeit" ein. Man ist versucht, diese Emphase auf der "direkten" Wiedergabe als Antwort des Kinos auf den für das Fernsehen bezeichnenden "Livecharakter" zu interpretieren – und wirklich bedient sich der Film überall da, wo Überwachung im Mittelpunkt steht, fast immer einer vom Einsatz einer ganzen Reihe von Kameras geprägten Darstellungsweise, wie sie für "Direktübertragungen" im Fernsehen typisch ist: eine Tatsache, die sich anhand von "Christo" und seinem buchstäblich panoptischen Fernsehstudio in THE TRUMAN SHOW oder anhand der bösen Agenten belegen lässt, die in ENEMY OF THE STATE in ihrem Lieferwagen sitzen und als ortsmobiles Team ihre Überwachungsaufnahmen auf Videoband bannen.
Man könnte jedoch auch dahingehend argumentieren, dass das, was sich als das "Spektakel der Überwachung" bezeichnen ließe und in vielen zeitgenössischen Filmen einen so breiten Raum einnimmt, nur im Zusammenhang mit dem realen "Operationsfeld" zeitgenössischer Überwachung und jener anderen Domäne der "Echtzeit" zu verstehen ist, die sich vor allem auf das nichtvisuelle Reich der Daten erstreckt. In diesem Fall lautet die Frage, ob das Sichtbarmachen von Überwachung, genauer gesagt, von für die Augen sichtbarer Überwachung dazu dient, die Aufmerksamkeit auf diese leicht zugängliche, weil zur vertrauten Welt der Erscheinungen gehörende Form zu rücken, um die Allgemeinheit so zu verstärkter Wachsamkeit aufzurufen – oder ob das Ganze schlicht und einfach ein strategischer Anachronismus ist, der weit dringlichere Themen der Datenüberwachung und des Datenschutzes verdrängt?
Vielleicht ist es jedoch sinnvoller, die verschiedenen kinematografischen Überwachungsspektakel in Zusammenhang mit einem Phänomen zu betrachten, das die vielleicht drastischste und am weitesten verbreitete Manifestation der Überwachungskultur im Internet darstellt: das Umsichgreifen sogenannter Webcam Sites. Diese Websites, auf denen sich die "Ausbeute" scheinbar "live" geschalteter beziehungsweise in regelmäßigen Abständen datenaktualisierter digitaler Kameras befindet, erlauben es einem, sich in "Echtzeit"-Aufnahmen privater und öffentlicher Orte jeder nur denkbaren Art "einzuklinken", wobei die Palette der Schauplätze von Laboratorien, Büros und Studentenwohnheimen bis hin zu Großstadtstraßen, Landschaften, dem Inneren von Automobilen und Baustellen wie etwa dem Potsdamer Platz reicht. Was ist am exponentiellen Wildwuchs derartiger Websites von solchem Interesse, dass es mittlerweile sogar schon "Meta-Webcam-Sites" gibt, die diese Kameras nach Ländern, US-Bundesstaaten, Universitäten und sogar Kontinenten auflisten oder es einem erlauben, ein Zufallsprogramm zu aktivieren, das den Internet-Browser in regelmäßigen Abständen von einem solchen Spektakel femgesteuerter Überwachung zu einem beliebigen anderen springen lässt? Man beginnt, die Antwort zu erahnen, wenn man die vielleicht bekannteste Website betrachtet, nämlich jene berüchtigte Jennicam-Site, die einem die Tür zu einer Reihe angeblich "live" geschalteter digitaler Kameras öffnet, die dem Betrachter das Leben einer jungen Frau namens Jenni in seiner ganzen unzensierten Banalität des Alltags präsentieren. Der die Sensationslust anstachelnde Reiz dieser Website, die Zugang zu Bildern gewährt, auf denen sich Jenni womöglich gerade auszieht oder mit ihrem Freund ins Bett geht, hat dazu geführt, dass unglaublich viele, überwiegend junge, weiße und männliche Internetvoyeure zu zahlenden "Mitgliedern" geworden sind (und sich zahllose andere pornografische Websites – bezeichnenderweise – in der phonetischen Nachbarschaft von "Jennis" Internetadresse tummeln). Soziologisch gleichermaßen faszinierend wie die Verwandlung der "Auffrischungsrate" in eine Ware ("Mitglieder" bekommen "Live"-Aufnahmen zu sehen, wohingegen "Gäste" sich mit in unregelmäßigen Abständen aktualisierten Bildern begnügen müssen) ist die dokumentarisch belegte Tatsache, dass viele User mehrmals am Tag zu "Jennis" Website zurückkehren und dem Leben dieser wildfremden Frau in so ziemlich derselben Art und Weise folgen, wie man das bei einer der täglich ausgestrahlten Seifenopern tun würde – wobei der wesentliche Unterschied jedoch darin besteht, dass das, was man beobachtet, scheinbar ein "wirkliches" Leben ist.
So auch im Falle der amerikanischen Fernsehsendung mit dem gleichermaßen bezeichnenden Titel The Real World, die in den USA bereits seit vier Jahren erfolgreich ausgestrahlt wird (in Deutschland zeitweilig unter dem Titel Die wirkliche Welt auf MTV zu sehen). Diese Serie zeigt Filmmaterial aus dem "nicht inszenierten" Alltag einer Gruppe von Zwanzigjährigen, die in einem Haus leben, das rund um die Uhr von Kameras überwacht wird – auch von diesen, angeblich unzensierten, Bildern geht eine starke Faszination aufs Publikum aus. Eine erstaunlich erfolgreiche niederländische Fernsehproduktion, die Ende 1999 mit dem passenden Titel Big Brother ausgestrahlt wurde, bestätigt diese Tatsache uneingeschränkt (der Privatsender RTL hat mittlerweile eine deutsche Fassung produziert). Diese allabendlich gezeigte Sendung, zu der es auch eine Website gibt, kombiniert die Möglichkeiten des voyeuristischen Beobachtens via Fernsehen bzw. Cyberspace und ermöglicht es dem Zuschauer, den Alltag einer Personengruppe zu verfolgen, die sich dazu bereit erklärt hat, in einem Fernsehstudio zu leben, das einer bemüht unauffälligen Wohnung nachempfunden ist und rund um die Uhr überwacht wird. Die Sendung ist als eine Art exhibitionistischer Fernsehwettkampf aufgezogen und lockte mit einem Geldpreis für denjenigen, der am längsten durchhalten wird. Der dadurch vorgegebene Wettstreit wurde durch eine geradezu barock anmutende Dynamik verschärft: Die Mitglieder der Gruppe mussten in regelmäßigen Abständen darüber abstimmen, wer aus ihrem exhibitionistischen Kreis verbannt werden sollte. Die Vorgänge in der Wohnung konnten sowohl anhand von Internetkameras mitverfolgt werden (eine Vielzahl von Kameras ermöglichte den gleichzeitigen Blick in viele, wenn auch nie in alle Bereiche), als auch in einer halbstündigen Zusammenfassung zur besten Fernsehzeit, die klar erkennbar eine Auswahl des Materials bot. In dem Maße, wie die Gruppe immer weiter zusammenschrumpfte, wuchs erstens die Zahl der Besucher der Website (beziehungsweise der "Eyeballs", wie sie im Fachjargon heißen) und wurden zweitens die dramatischen Ereignisse, die sich zwischen den "überlebenden" Beteiligten abspielten, zum Thema hitziger Debatten am Kaffeetisch oder beim Abendessen. Betrachten wir das Ganze einmal von der Warte der Beteiligten, also aus der Perspektive derer, die sich freiwillig einer solchen permanenten anonymen Beobachtung unterwerfen, werden wir Zeuge einer neuen Form von Exhibitionismus, die ganz offensichtlich eine direkte Antwort auf den Wildwuchs des Phänomens der Überwachung darstellt. Das Objekt der Überwachung ist nämlich jetzt nicht mehr länger das Opfer repressiver Bespitzelung, sondern befindet sich in einer eigenartig wünschenswerten, ja sogar schmeichelhaften Position. Diese Entwicklung ist im selben Atemzug die Bestätigung und die Selbstentlarvung von Andy Warhols hellsichtiger Bemerkung, das Aufkommen von Videokameras werde die Menschen dazu verleiten, zweierlei zu tun: Pornos zu drehen und ihre Nachbarn zu bespitzeln. Ausnahmslos legen die genannten Spektakel der Überwachungskultur die Pornografie des Alltags bloß.
Keiner hat es besser verstanden, diese verblüffende Umwertung, die sich in dem konstituiert, was man als "Subjektivität der Überwachung" bezeichnen könnte, zum Ausdruck zu bringen, als Friedrich Dürrenmatt in seinem beeindruckenden Büchlein Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter aus dem Jahre 1986:
"dieses Unbeobachtet-Sein würde ihn mit der Zeit mehr quälen als das Beobachtet-Sein vorher (...) nicht mehr beobachtet, käme er sich nicht beachtenswert, nicht beachtenswert nicht geachtet, nicht geachtet bedeutungslos, bedeutungslos sinnlos vor, er würde, stellte er sich vor, in eine hoffnungslose Depression geraten, (...) die Menschen, würde er dann zwangsläufig folgern, litten unter dem Unbeobachtet-Sein wie er, auch sie kämen sich unbeobachtet sinnlos vor".
Dieses Zitat aus Dürrenmatts Buch erhellt sehr eindrucksvoll die ontologische Verschiebung, die meiner Ansicht nach in zunehmendem Maße zum Kennzeichen der Überwachungskultur wird: Die Substitution des Descarteschen "cogito" durch eine Logik, die man auf die Formel "Ich werde beobachtet, also bin ich" bringen könnte. In diesem Zusammenhang ist auch die Zunahme der Fälle zu sehen, in denen jugendliche Straftäter überführt werden, die ihre Vergehen eigenhändig mit der Videokamera aufgezeichnet hatten. Ob es sich dabei um vier randalierende Halbwüchsige aus Los Angeles handelt, die mit ihren weitreichenden Farbsprühpistolen in den Straßen des westlichen San Fernando Valleys aufs Geratewohl irgendwelche Passanten beschossen, oder um den Fall eines Schülers an einer Highschool in Omaha, der von seinen Schulkameraden zusammengeschlagen wurde: In beiden Fällen legten die straffälligen Jugendlichen Wert darauf, ihre eindeutig strafbaren Taten mit der Videokamera aufzuzeichnen. Dies stellt eine dramatische Wende dar. Die bloße Möglichkeit und, in den genannten Fällen, die Tatsache der dokumentarischen Aufzeichnung der begangenen Straftaten, der früher eine abschreckende Wirkung zugeschrieben wurde, hat hier offensichtlich genau das Gegenteil bewirkt: nämlich eine medieninflationsbedingte Reduktion der 15 Minuten des Ruhms, die Warhol einst jedem vorausgesagt hatte, auf 15 Sekunden. Es scheint, als reichten im Zeitalter der Überwachung, zwischenmenschliche Handlungen, selbst wenn sie in Gegenwart von Zeugen stattfinden, nicht mehr aus, um ein Ereignis zu konstituieren. Jedes Ereignis – ja sogar eine strafbare Handlung – hat erst dann stattgefunden, wenn es einer Form der Video(selbst)überwachung unterzogen wurde.
Will man die Bedeutung dieser Entwicklung verstehen, empfiehlt sich ein Rückblick in das späte 18. Jahrhundert, konkret: auf das vielleicht bekannteste Vorbild der damaligen Überwachungstheorien – das Architekturparadigma der Gesellschaftsreform, das der Utilitarist Jeremy Bentham ersonnen hat. Benthams heute allgemein bekanntes Panopticon or the Inspection House, mit welchem dem Utilitaristen 1787 der Durchbruch in die Soziopragmatik gelang, wurde Mitte der siebziger Jahre von Michel Foucault als Paradebeispiel der Logik der Überwachung wiederentdeckt und damit breiteren Kreisen zur Kenntnis gebracht. In seiner Anwendung als Gefängnismodell – dies sollte später die bekannteste, aber beileibe nicht die einzige Verwendung dieses Modells werden, das sich auf eine Vielzahl verschiedener Institutionen übertragen ließ, so beispielsweise auf Krankenhäuser, Fabriken und Schulen – war Benthams Panopticon einfach ein mehrstöckiger zylindrischer Bau, in dessen Mitte sich ein Turm befand: der Durchmesser des Turmanbaus entsprach exakt dem Raummaß einer Gefängniszelle, auf deren Innenseite Gitterstäbe angebracht waren, auf der Außenseite dagegen Fenster, die dafür sorgten, dass die Häftlinge tagsüber aufgrund des Lichteinfalls von hinten klar und deutlich sichtbar und überwachbar waren. Von entscheidender Bedeutung war jedoch nicht nur, dass der Wächter im Turm jederzeit alle Gefängnisinsassen aufeinmal sehen konnte, sondern dass sich diese aufgrund der Konstruktionsweise des Turmes (der über ein aufwendiges System von Jalousien verfügte) nie sicher sein konnten, ob sie in einem bestimmten Augenblick tatsächlich überwacht wurden oder nicht, das heißt, ob sich momentan überhaupt jemand im Turm befand. Da sie aber bereits die Erfahrung gemacht hatten, dass sich dort von Zeit zu Zeit sehr wohl jemand aufhielt, mussten sie von einer permanenten Überwachung ausgehen. Deswegen, das heißt aufgrund der geschilderten Konstruktionsweise des Bauwerks, benahmen sich die Gefangenen "anständig" oder doch zumindest vorsichtig, kurzum so, als würden sie beobachtet. Dieses genial ausgeklügelte und frappant wirksame Prinzip bewährte sich in der Praxis, so dass tatsächlich mehrere Gefängnisse, Krankenhäuser und andere Einrichtungen nach dem Benthamschen Modell errichtet wurden und noch heute in Betrieb sind. Bentham griff in der für ihn typischen Bescheidenheit zu folgender bündiger Formulierung:
"Reform der Sitten – Bewahrung der Gesundheit – Belebung der Industrie – Verbreitung von Erziehung – Minderung der Belastung der Allgemeinheit ... und all das durch einen simplen architektonischen Einfall!"
Viele unserer heutigen Überwachungssysteme basieren auf dem Benthamschen Prinzip – gerade wenn die Geräte nicht eingeschaltet oder ohnehin nur Attrappe sind und keinerlei Film- oder Bandmaterial oder Übertragungskabel enthalten, und trotzdem ihre Aufgabe erfüllen, erinnern sie an Benthams Panopticon. Die Allgegenwart der Überwachungskameras in Straßen, Supermärkten oder Parkhäusern suggeriert, dass Aufnahmen gemacht werden bzw. gemacht werden könnten – und da kein Mensch wissen kann, ob tatsächlich Film bzw. Band in der Überwachungskamera ist, führt dies zu dementsprechendem Verhalten. Der Film bzw. das Videoband ersetzt den Wächter in Benthams Turm: der Effekt jedoch, die Verinnerlichung der Macht durch das Individuum, bleibt gleich. Solche Überwachungssysteme verkörpern also genau das, was Bentham einst von seinem Panopticon sagte, als er es "ein Mittel zur Übernahme von Macht" nannte, "zur Machtausübung eines Verstandes über den anderen, und dies in einem bisher unbekannten Maße."
In jüngster Zeit scheint dieser panoptische Behaviorismus allerdings einen tiefgreifenden historischen Wandel durchgemacht zu haben: Während die Gefangenen früher (zumindest in der Theorie) in ihrem panoptischen Gefängnis auf die Überwachungsstrukturen ihrer Kerkerhaft reagierten, indem sie den strafenden Blick verinnerlichten, haben sich straffällige Jugendliche des ausgehenden 20. Jahrhunderts in mancher Hinsicht bereits von vornherein mit dem Überwachungsapparat identifiziert. Während dieser Prozess der Verinnerlichung im Benthamschen Modell zu "anständigem" Verhalten führte, verrät in der Gegenwart die Subjektivität der Überwachung eine dramatische Umkehr dieser Dramatik: Heutzutage hat der überwachende Blick (möglicherweise zum ersten Mal) seine abschreckende Wirkung voll und ganz verloren, wurde er im Gegenteil zu jenem Blick umgedeutet, der einem Ereignis überhaupt erst den Status der Realität verleiht. Auch wenn dies einerseits zweifellos eine signifikante Verlagerung darstellt, ist die Überwachung – insofern sie andererseits eng (ob zum Guten oder zum Schlechten und wie kompliziert der Vorgang sich auch gestalten mag) an Begriffe wie Identität, Handlungsfähigkeit und Macht gebunden bleibt, daher nach wie vor (und aller Wahrscheinlichkeit nach auch zukünftig) eine "Technologie des Selbst", wie Foucault das so treffend nannte.
Dieser Aufsatz erschien zuerst in Ausstellungskatalog: 7 Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, IV Zivilisation, Berlin 2000.
Übersetzung aus dem Englischen Gerd Burger und Andreas Vollstädt