Harun Farockis ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK
Der Filmemacher und Videokünstler Harun Farocki betreibt im Kern eine Bildarchäologie (vgl. Blümlinger 2014, Didi-Huberman 2014, Elsaesser 2004a). Auch Farocki selbst spricht davon, dass er den „Schutt, der auf den Bildern liegt“ abtragen möchte und nach dem „verschütteten Sinn“ der Bilder suche (Reinecke o.J.). So klingt eine Praxis an, die an die Archäologie erinnert, wie sie Michel Foucault in seiner Archäologie des Wissens ausarbeitet. Daher rückt Farockis Methode in die Nähe des Archivs, welches Foucault nicht als Speicherort, sondern als Aussagesystem versteht (vgl. Foucault 1981).
Die Geschichte, so Foucault 1969 in Archäologie des Wissens, tendiere gegenwärtig zur Archäologie. Zum Ausdruck kommt hier ein neues Verhältnis der Geschichte zum Dokument; denn die Geschichte ziele nicht länger darauf das Dokument zu interpretieren oder auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen, sondern es von innen zu bearbeiten und auszuarbeiten (Ebd.: 14f.):
Sie [die Geschichte-als-Archäologie] zerlegt es [das Dokument], verteilt es, ordnet es, teilt es nach Schichten auf, stellt Serien fest, unterscheidet das, was triftig ist, von dem, was es nicht ist, findet Elemente auf, definiert Einheiten, beschreibt Beziehungen. Das Dokument ist für die Geschichte nicht mehr jene untätige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur verbleibt: sie sucht nach der Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst. (Ebd.: 14)
Infolgedessen fokussiert die Geschichte-als-Archäologie das Monument. Anders als die klassische Geschichtsschreibung, will sie keine linearen Abfolgen oder durchgängige Narrative konstruieren. Sie versteht Geschichte nicht als Gedächtnis, sondern fokussiert Brüche und legt die Schichten der diskursiven Formationen frei, wobei jeder Diskurs historisch bedingt ist (Vgl. Foucault 1981).
Bekanntlich wurde Foucaults Diskursanalyse insbesondere durch Friedrich Kittler erweitert, indem er die Analyse technischer Medien, Aufschreibesysteme1, ins Zentrum rückte. Auch die Medienarchäologie begründet sich unter anderem in Foucaults Methode. Dementsprechend betont der Medientheoretiker Jussi Parikka in What is Media Archaelogy nicht nur den Umstand, dass Archive nach Foucault monumental sind, weil sie aufzeichneten, was existiert habe und sie dabei Dokumente nicht als Narrative, sondern als konkrete Objekte übermittelten, sondern auch, dass Foucault die Medienarchäologie gelehrt habe, sich als eine Methode der Ausgrabung von Existenzbedingungen zu verstehen (Vgl. Parikka 2012: 6). Archäologie bedeute dabei, so Parikka, die Hintergründe offenzulegen, aufgrund derer ein bestimmtes Objekt, eine Aussage, ein Diskurs oder ein Medienapparat entstehe, aufgegriffen werden und überdauern könne. „It is for media archaeologists as it was for Foucault: all archaeological excavations into the past are meant to elaborate our current situation.“ (Ebd.) 2 Eine Feststellung, die auch in Bezug auf Harun Farocki kaum zutreffender hätte formuliert werden können.
In seiner Arbeit komme es weniger darauf an, so Farocki, neue Bilder zu suchen, als vorhandene derart zu bearbeiten, dass sie neu werden (Vgl. Reinecke o.J.). Denn, wie der Protagonist in Farockis ETWAS WIRD SICHTBAR (BRD 1984) feststellt, „[…] geht [es] also nicht um das, was auf einem Bild ist, eher um das, was dahinter liegt […]“. Farocki blickt ‚hinter die Bilder‘, wie die Archäologie Monumente ausgräbt. Er eignet sich die Bilder der Welt3 an und setzt sie mittels der Montage in neue, oftmals unerwartete, Beziehungen. Auf diese Weise dient die Montage als epistemisches Mittel, um eine Re-Lektüre der Bilder zu ermöglichen. In diesem Sinne schreibt Hal Foster Farockis Umgang mit Archivmaterial – das er entdecke, neu zusammensetze, neu gestalte und kontextualisiere – sowohl eine forensische Dimension, als auch einen mnemonischen Imperativ zu. Jede neue Phase der Geschichte, so zeigten seine Arbeiten, (re)produziere ein neues Macht- und Wissensregime und damit einhergehende neue Subjekte (Vgl. Foster 2004: 157f.). Ein zentraler Punkt von Farockis Montagen ist es offenzulegen, dass das Sehen medial und historisch bedingt ist. Ganz in jenem Sinne, in dem Foucault die historische Bedingtheit der Diskurse herausarbeitet. Ute Holl unterstreicht für Farocki:
Vision is stratified by implicit historical structures. These organize the gaze and sometimes blind our sight. Based on historical investigation, seeing with one’s own eyes is a matter of political resistance. (Holl 2014)
Die Aneignung der Geschichte müsse daher immer auch mit der Aneignung der Medien, d.h. mit der Analyse der Logik des Aufzeichnens, Speicherns, Umwandelns und Ordnens der Wahrnehmung, einhergehen (Vgl. ebd.).
Das Kino ist ein wichtiger Bezugspunkt in Farockis Werk; sowohl als Archiv, aus dem er schöpft, als auch als Aussagesystem, das er herausarbeitet. In Farockis Meta-Kino (Vgl. Elsaesser 2004a: 34) wird Kino zu einer Sprache, die Bilder ‚verarbeitet‘ (Vgl. Elsaesser 2004b: 102).
In seinem Projekt Archiv filmischer Ausdrücke widmet sich Farocki der systematischen Aneignung von Kinobildern. Ausgehend von ikonografischen Vergleichen sammelt, kommentiert und analysiert er Motive der Filmgeschichte. Ziel des Archivs filmischer Ausdrücke ist es, das Prinzip eines Wörterbuchs oder Thesaurus auf den Film zu übertragen, um ein „filmisches Sprachbewusstsein“ zu schulen (Farocki 2001a: 5); oder besser gesagt, ein Bild- und Blickbewusstsein zu schärfen. Obgleich Farockis Arbeiten generell an diesem Bilderschatz, wie er das Projekt ebenfalls nannte, mitarbeiten, entstanden drei Arbeiten explizit für diesen: ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK (D 1995), DER AUSDRUCK DER HÄNDE (D 1997) und GEFÄNGNISBILDER (D 2000).4 Für diese gilt im besonderen Maße, was Christa Blümlinger generell für die Aneignung von Archivfilmmaterial im Found-Footage-Film feststellt. In der historisch denkenden Archivkunst ginge es nicht nur um
die Referentialtät eines dokumentarischen (oder auch fiktionalen) Bildes (als Dokument), sondern ebenso um die Material- und Diskursgeschichte dieses Bildes innerhalb der Gedächtniskultur (als Monument). (Blümlinger 2009: 25)
Eine seinem Archiv filmischer Ausdrücke vergleichbare „brauchbare Bibliothek aus Bildern“ forderte Farocki bereist 1975 in seinem Aufruf Was getan werden soll (Vgl. Farocki 2016). Die angestrebte Institution sollte dabei unter anderem zeigen, wie Bilder zu einem bestimmten Zeitpunkt eingesetzt wurden. Denn, so Farocki im Aufruf, zeugten z.B. Wochenschaubilder eher davon, wie die Wochenschau zu einem bestimmten Zeitpunkt funktioniert habe, als dass sie geschichtliche Ereignisse wiedergäben (Vgl. ebd.: 4). Der Aufruf umfasst eine Agenda, die sich im Archiv filmischer Ausdrücke spiegelt und zeugt von Farockis „fortwährende[m] Ruf nach visueller Alphabetisierung“ (Holert et al. 2016: 18); so als wolle Farocki das berühmte Diktum Walter Benjamins wiederholen und um den Film erweitern: „Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.“ (Benjamin 1963: 64)
Obwohl der Ausgangspunkt des Archivs filmischer Ausdrücke lexikalischer Natur ist, steht die Eigenlogik der Bilder für Farocki außer Frage: Das angestrebte ‚Wörterbuch‘ muss einer eigenen medialen Logik folgen und daher nicht nur ‚auf‘ den Film, sondern auch ‚in‘ Film übertragen werden. Das Archiv filmischer Ausdrücke ist nicht nur ein Projekt, das mit Filmen aus dem Archiv arbeitet, Film als Archiv untersucht, oder ein Archiv, das Filme sammelt, sondern selbst Film. Eines der Hauptprobleme der Übertragung des Konzeptes ‚Wörterbuch‘ auf den Film bleibt allerdings in dessen ursprünglich lexikalischem Charakter begründet, da die Trennschärfe der Wörter verloren geht; handelt es sich doch um Gesten und Bewegungsabläufe, die im Archiv filmischer Ausdrücke untersucht werden (Vgl. Pantenburg 2001: 19). In einem anderen Kontext thematisiert Farocki diesen Umstand selbst. Ein Wörterbuch5 könne nicht in derselben Weise für Bilder wie für Wörter erstellt werden, da Wörter und Bilder unterschiedlich funktionierten. Man könne zwar Wörter, die in einem bestimmten Zusammenhang geprägt worden seien, festhalten, eine entsprechende Erörterung von Bildern sei aber sehr viel schwieriger (Vgl. Farocki 2007: 297).
Es gibt höchstens Bildfolgen, Bildkonstellationen, Aussagekonstellationen, Aussageprägungen mit Bildern, mit einem oder mehreren, die in etwa dem entsprechen, was in der Wortsprache ein feststehender Ausdruck ist. (Ebd.)
Insbesondere für Farockis Archiv filmischer Ausdrücke gilt daher, was Georges Didi-Huberman für Farockis künstlerische Praxis im Allgemeinen feststellt: Er übersetzt nicht einfach Sichtbares in Lesbares (Vgl. Schwarte 2008). Obgleich das Archiv filmischer Ausdrücke dezidiert von ikonografischen Vergleichen ausgeht, wehrt es sich gleichzeitig gegen eine rein „ikonografische Attitüde“ (ebd.). Wie dies konkret aussieht, soll im Folgenden exemplarisch an ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK, dem ersten ‚Eintrag‘ in das Archiv filmischer Ausdrücke, untersucht werden.
Farocki eignet sich in ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK den ersten Film, LA SORTIE DE L´USINE LUMIÈRE À LYON (F 1895) der Brüder Auguste und Louis Lumière, und damit auch das erste Motiv der Kinogeschichte, an. „Der erste Film, der je zur Vorführung kam,“ wie Farocki in dem von ihm gesprochenen Voice Over feststellt.
In ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK sammelt und kommentiert Farocki Wiederholungen und Variationen dieses ersten Motivs der Filmgeschichte, sodass neben den Arbeiter*innen der Lumière-Werke, z.B. Marilyn Monroe in Fritz Langs CLASH BY NIGHT (USA 1952), Charlie Chaplin in seinem Film MODERN TIMES (USA 1936), Arbeiter*innen in Fritz Langs METROPOLIS (D 1927) sowie Ford-Arbeiter*innen 1927 und VW-Arbeiter*innen 1975, Fabrikgebäude verlassen. Ausschnitte aus Spielfilmen stehen dabei gleichberechtigt neben dokumentarischen Aufnahmen.
Im Verlauf der Arbeit wiederholt Farocki nicht nur dieses Motiv in seinen verschiedenen Ausformungen, sondern auch die Aufnahme der Brüder Lumière mehrfach. Dabei entfaltet er das Motiv, setzt es immer wieder in neue Zusammenhänge und liest es neu. Ferner erweitert er das Motiv, indem er sich von ihm entfernt. So drängen die Arbeiter*innen nicht nur aus dem Fabriktor, sodass „[der Film sich] wann immer möglich […] eilig von den Fabriken entfernt“ (Voice Over), sondern auch auf den Vorplatz, der sich als Ort des Arbeitskampfes und Streiks ausweist. Infolgedessen rückt auch die Frage nach der Überwachung der Fabrik sowie die Sicherheitspolitik der Fabrikbesitzer*innen in den Fokus.
Mehrfach werden entsprechende Szenen aus z.B. Spielfilmen gezeigt oder kurze Werbevideos für Überwachungs- und Sicherungstechnologien eingeblendet. Schließlich wird anhand eines visuellen Vergleichs zwischen Fabrik- und Gefängnistor nicht nur eine Überleitung zu einem weiteren Beitrag des Archivs filmischer Ausdrücke – GEFÄNGNISBILDER – geschaffen, sondern auch eine inhaltlich-strukturelle Verbindung zweier Motive hergestellt. Der Bildvergleich verbleibt nicht im Visuellen, sondern zeigt eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den architektonischen, politischen und sozialen Infrastrukturen der Fabrik und des Gefängnisses auf. Er ist dem Vergleich zwischen Überwachungsbildern aus Gefängnissen und Einkaufshallen verwandt, der in GEFÄNGNISBILDER über Vorhersehbarkeit und Programmierbarkeit (Vgl. Elsaesser 2004a: 22), über „unsere eigene Verfängnis in visuelle Kontrollsysteme“ (Holl 2005: 268) sowie über präskriptive und nachträgliche Steuerungsmechanismen (Vgl. Pantenburg 2008a) spricht.
Farocki vermeidet es, eine teleologische Entwicklung des Motivs zu schreiben. Zugleich unterläuft er das Konzept einer ausschließlich ikonografischen Sammlung, indem er eine Vielheit an Deutungen gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Die Wiederholungen und Variationen deuten das Motiv nicht aus, sondern lassen auch eine Ausweitung des Motivs zu, die Widersprüchlichkeiten und Weiterentwicklungen zu anderen Motiven erlaubt. Eine rein ikonografische ‚Entschlüsselung‘ des Motivs ist nicht (mehr) möglich. Daher ist es konsequent, dass Farocki auch inkongruente Lesarten aufzeigt und sogar gezielt vornimmt.
Ich versuche stets Interpretationen zu vermeiden, bei denen der Film in der Deutung – sozusagen rückstandslos – aufgeht. Eine meiner Strategien ist, daß [sic!] ich einen Film über- oder fehlinterpretiere. Vielleicht ist mit der Übertreibung etwas zu retten. (Farocki 2001a: 12)
Gegenläufig zu seiner eigenen Praxis, die die Lesbarkeit der Bilder fördert und herausfordert, zeigt Farocki in seinem Archiv filmischer Ausdrücke ferner, dass Bilder oft verunklärend eingesetzt werden. Anhand des ‚Bildbegriffs‘ der Arbeiterschaft führt Farocki in ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK vor, wie Bilder zu „rhetorischen Figuren“ (ebd.: 13) verkommen können.
Wir sehen wie Arbeiter*innen dichtgedrängt die Ford-Werke verlassen. Auf diese Weise werden sie, so erläutert das Voice-Over, als eine Masse, eine Arbeiterschaft, wahrgenommen, in der die*der Einzelne visuell aufgeht; also nicht mehr als individuelle Person gesehen und somit auch nicht als solche verstanden werden kann. Farocki wählte an dieser Stelle sicher nicht zufällig die Arbeiterschaft eines Werkes von Henry Ford, der als Sinnbild für die Abwendung vom Individuum zur Masse und als Symbol sowohl des aufkommenden Massenkonsums als auch der effektiven Massenproduktion am Fließband gilt. Erst nachdem wir gelernt haben „wie Filmbilder nach Ideen greifen und von diesen ergriffen werden,“ so schreibt Farocki, können wir sehen, „daß [sic!]die Entschiedenheit der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter repräsentativ [ist]“ und als sichtbare Bewegung der Menschen für die unsichtbare Bewegung der in der Industrie zirkulierenden Güter, Gelder und Ideen einsteht (Farocki 2001b: 247).
Nahtlos an das Bild der Ford-Arbeiterschaft anschließend, zeigt Farocki erneut eine ‚Arbeiterschaft‘. Diesmal strömt diese aus den Toren eines volkseigenen Betriebs der DDR auf die Kamera zu. Die Aufnahme ist im Original mit emphatischer Musik unterlegt und mit einem Voice Over versehen, das mitteilt, dass volkseigene Betriebe den Arbeiter*innen ein volles Mitbestimmungsrecht einräumten, damit sie ihr Dasein „selbst und sicher“ gestalten könnten. Hier nutzen, so vermittelt uns Farocki über seine Montage, zwei konträre Systeme – Kapitalismus (Ford-Werke) und Sozialismus (Volkseigene Betriebe) – dasselbe Bild. Das Voice Over Farockis folgert: „Ein Bild wie ein Begriff. Oft so benutzt, dass man das Bild verstehen kann und eigentlich gar nicht anschauen soll.“ Der Bildbegriff ‚Arbeiterschaft‘ sagt uns demnach nicht viel über Arbeits- und Produktionsbedingungen und kann scheinbar arbiträr verwendet werden.6 Farockis Bildmontage verweist damit nicht nur auf den ‚hinter den Bildern‘ liegenden Produktionsprozess in der Fabrik, sondern auch auf den Produktionsprozess der Bilder selbst.
Der Bildbegriff, „der sich in jede Aussage fügen lässt“, erinnert an die Wochenschaubilder aus Was getan werden soll, die weniger von der Geschichte als von der Funktionsweise der Wochenschau zeugen. Außerdem zeichnet sich hier ab, dass das Archiv filmischer Ausdrücke nicht einfach eine Einrichtung ist, welche „[…] die Summe aller Texte [sammelt], die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als das Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat […]“ (Foucault 1981: 187). Vielmehr stellt Farockis Archiv im Sinne Foucaults ein „System der Formation und Transformation der Aussagen“, ein „System ihres Funktionierens“ dar (ebd.: 188), wobei Farocki den Fokus explizit auf das Sichtbare richtet. Infolgedessen fordert Farocki in seiner Zusammenstellung filmischer Motive das historische Denken sowie das Bildersehen heraus. Sich (Kino)Geschichte anzueignen bedeutet auch, sich das Medium (Film) anzueignen; das Kino bildet die Geschichte nicht ab, sondern schreibt sie.
Konzeptueller und konkreter Ausgangspunkt von ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK ist die ‚Urszene‘ des Kinos, die Aufnahme der Brüder Lumière. Die Arbeit eröffnet mit dieser Aufnahme, die das Voice Over zunächst beschreibt und als ersten zur Aufführung gekommenen Film vorstellt. Sogleich folgt eine erste Deutung durch das Voice Over: „Diese Bilder sollten vor allem zeigen, dass es möglich ist im Film Bewegung wiederzugeben.“ Somit beginnt Farocki seine Arbeit nicht nur mit der ersten Kinoaufnahme, sondern auch mit einem der Ausgangspunkte des Kinos schlechthin: der Bewegung. Spätestens seit Gilles Deleuzes Bewegungs-Bild (Vgl. Deleuze 1997) gilt die Bewegung als ausschlaggebend für den frühen Film. Auch für das zeitgenössische Publikum stand die Bewegung im Zentrum, so nahmen sie die Bilder des Kinematographen vornehmlich als „bewegte Fotografien“ wahr (Vgl. Elsaesser 2002: 56).7 Durch die Markierung der Aufnahme der Brüder Lumière als ‚Ursprung‘ des Kinos8 und der gleichzeitigen Betonung der Bewegung, scheint Farocki das Kino in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu den wissenschaftlichen Bewegungsstudien, den Chronofotografien von unter anderem Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge, zu setzen.9 So rückt neben der Geschichte des Kinos auch seine Vorgeschichte in den Blick.10
Farocki wiederholt die Aufnahme der Brüder Lumière an verschiedenen Stellen, wobei diese Wiederholungen keine Dopplungen darstellen, sondern Re-Lektüren, die inhaltliche Variationen derselben Aufnahme aufzeigen.11 Bei einer dieser Wiederholungen richtet Farocki sein Augenmerk auf ein unauffälliges Detail: Eine der Arbeiter*innen zupft einer anderen Arbeiterin am Rock. Diese reagiert darauf jedoch nicht. Das Voice Over kommentiert, dass an dieser Stelle eine Handlung ohne Gegenhandlung bleibe und somit eine Asymmetrie entstehe: „Ungleichgewicht und Ausgleich. Das ist das Bewegungsgesetz der Filmerzählung.“ Auf diese Weise verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Bewegung auf die Erzählung, wodurch ein neues Kapitel der Kinogeschichte geöffnet wird. Die neue Lesart der Aufnahme weist ihr den Weg zum Erzählkino. Das frühe Kino wurde ab ca. 1908 durch das klassische Erzählkino abgelöst. Indem hier ein narrativer Aspekt betont wird, wird dem Motiv an dieser Stelle der Weg zu seinen Variationen im Erzählkino geebnet.
Handelt es sich hier aber nur um die Umdeutung der Szene oder lediglich um eine Überleitung zum Erzählkino? Vielmehr kann die Szene auch als Hinweis auf die Filmgeschichtsschreibung gelesen werden: Galt das frühe Kino im Unterschied zum Erzählkino zunächst als primitiv, fand in den 1970er Jahren nicht nur eine Neubewertung desselben durch den Begriff des Kinos der Attraktionen (Vgl. Gunning 1990) statt, sondern auch die Frage nach der Handlung im Film wurde neu bewertet: Bewegung stelle im Kino der Brüder Lumière nicht ausschließlich einen Selbstzweck dar; ihr Kino genüge sich auch nicht in einer unverstellten Sicht auf die Realität – auch das frühe Kino inszeniere und narrativiere (vgl. Deutelbaum 1983). So spiegelt sich Farockis Voice Over gewissermaßen in einer von Thomas Elsaessers Deutungen des Lumière‘schen Kinos:
Kadrierung und Stellung der Kamera sind so gewählt, daß [sic!] der Minimalanforderung aller narrativen Grundsituationen genügt wird; der Dreiakt von Gleichgewicht, Unterbrechung und wiederhergestelltem Gleichgewicht ist auf allen Ebenen inszeniert und durch den Wechsel von Symmetrie und Asymmetrie unterbaut […]. (Elsaesser 2001: 38f.)
Dennoch richtet Farocki sein Augenmerk auf eine beiläufige Szene, die nicht von den Brüdern Lumière inszeniert wurde, sodass eine gewisse Ambivalenz erhalten bleibt. Denn üblicherweise steht insbesondere die mise en scène im Fokus, um narrative Strukturen im frühen Kino hervorzuheben (im Falle von LA SORTIE DE L´USINE LUMIÈRE À LYON z.B. die Rahmung der Szene durch das Öffnen und Schließen des Tores sowie die Dopplung der Handlung durch die Tür neben dem Fabriktor (vgl. ebd. und Deutelbaum 1983)). Im Gegensatz hierzu zeigt das durch Farocki hervorgehobene Detail keine Inszenierung, sondern das Einbrechen der Realität.
Farocki leitet seine Detailbetrachtung der Lumière-Aufnahme jedoch nicht mit einem Verweis auf die Anfänge und die Vorgeschichte des Kinos oder die Kinogeschichtsschreibung ein, sondern lenkt, im Gegenteil, den Blick auf die Nachgeschichte des Kinos.
Vor der Betrachtung des Rockzupfens bemerkt das Voice Over, dass an der Stelle, an der 1895 die ‚eine‘ Kamera der Brüder Lumière stand, „[…] heute hunderttausende von Überwachungskameras zur Stelle [sind].“ So wird die erste Kinoaufnahme mit einem operativen Bild in Verbindung gebracht. Mit Bildern also, die nicht darauf zielen, ein Objekt zu repräsentieren, sondern Teil einer technischen Operation sind (vgl. Farocki 2004: 17). Operative Bilder sind jene, die ‚von‘ Maschinen ‚für‘ Maschinen erstellt wurden und streng genommen kein menschliches Auge mehr benötigen; sie sind Elemente technischer Operationen und daher funktional. Sie werden oft, wenn auch nicht ausschließlich, militärisch und überwachungstechnologisch eingesetzt. So zählen z.B. auch Überwachungsbilder, obwohl sie teils noch vom menschlichen Auge gesehen werden, und die Bilddaten, welche zur Steuerung von Lenkflugkörpern verwendet werden, als operative Bilder (vgl. Blumenthal-Barby 2015, Paglen 2014, Pantenburg 2017).12 Operative Bilder rufen immer eine neue Bildpolitik hervor (vgl. Farocki o.J.).
Durch das Einflechten einzelner Überwachungsbilder im Verlauf der Arbeit und insbesondere durch die soeben geschilderte ‚Ablöse‘ der ‚einen‘ ersten Kamera durch die heutige ubiquitäre Masse an Überwachungskameras, verschränkt Farocki die Kinogeschichte mit dem operativen Bild; vielmehr noch bringt er das operative Bild sogar direkt mit dem ‚ersten‘ Kinobild zusammen – und konfrontiert damit das erste Kinobild mit seiner Nachgeschichte.13
Wirkt der Kommentar über die hunderttausend Überwachungskameras vor heutigen Fabriken zunächst beiläufig, ist es hingegen nicht belanglos, dass er die Betrachtung eines unauffälligen Details einleitet: Das besagte Rockzupfen kann dem menschlichen Auge beim flüchtigen Betrachten leicht entgehen; das maschinelle Auge der (Überwachungs)Kamera registriert es hingegen zwangsläufig. Bedenkt man, dass die Bilder der Überwachungsbänder üblicherweise nicht gespeichert, sondern gelöscht werden (vgl. Farocki 2004: 18), scheint die Hervorhebung des Details zusätzlich als ironischer Kommentar auf die Ereignislosigkeit von Überwachungsbildern, die vom Menschen oft nur betrachtet werden, wenn etwas Unerwartetes geschehen ist.
Dass Kino und Fabrik schon immer miteinander in Kontakt traten (vgl. Elsaesser 2004a: 35) wirft nicht nur die Frage auf, inwiefern auch operative Bilder und Fabrik sich schon immer begegneten (wie z.B. in Frank Bunker Gilbreth‘ filmischen Bewegungsstudien zur Optimierung von Arbeitsprozessen), sondern setzt auch einen Akzent auf das Motiv, dem sich ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK widmet. Seitdem es Maschinen gibt wird die Handarbeit durch Automatisierung abgelöst oder, anders formuliert, verlassen die Arbeiter*innen die Fabrik. So stellt Farocki insbesondere mit dem operativen Bild die Frage, ob nicht auch die Augenarbeit obsolet zu werden droht (vgl. Elsaesser 2008: 46, Farocki 2014: 67).
Damit ist die Betonung der Masse an Überwachungskameras vor heutigen Fabriken aber noch nicht abschließend erläutert. Denn genau genommen lösen die Überwachungskameras die ‚eine‘ Kamera nicht ab, sondern ergänzen sie: es gibt nicht mehr nur ein Bild vom Werkstor, sondern hunderttausende. Kein Bild kann betrachtet werden, ohne dass dabei andere, vergleichbare, zuvor gesehene Bilder ins Gedächtnis gerufen werden (vgl. Geimer 2010: 45). Auch Farocki betont diesen Umstand, indem er schildert, wie immer bereits andere Kameras dort standen, wo man filmen möchte (vgl. Scotini 2015 und Farocki zitiert nach Didi-Huberman 2014: 178). Daher ist man, so Farocki, „wenn man heute seine Kamera auf irgendetwas richtet, […] kaum noch mit der Sache selbst konfrontiert, sondern eher mit vorstellbaren oder bereits im Umlauf befindlichen Bildern, die von ihr bereits existierten.“ (Ebd.)
Die Bilder überlagern sich gegenseitig, sodass sich jedes Bild aus Schichten von zuvor gesehenen Bildern aufbaut. Ein Umstand, der besonders im Digitalen an Bedeutung gewinnt. Dass die Anzahl der produzierten und konsumierten Bilder beständig wächst, kann als Allgemeinplatz gelten, wie das Stichwort ‚Bilderflut‘ illustriert. Ferner gewinnt die Frage nach der Rolle der Quantität in Bezug auf operative Bilder im besonderen Maße an Bedeutung. Denn z.B. lernen Algorithmen zu ‚sehen‘, indem ihnen eine enorme Masse an Bildern in training sets 14 vorab zur Verfügung gestellt wird.
Kein Bild wird streng genommen je allein betrachtet. Mit jedem Bild, in dem Arbeiter*innen die Fabrik verlassen, werden auch die Variationen und Wiederholungen des Motivs ‚gesehen‘, die sich wie unsichtbare Schichten in die Bilder eingeschrieben haben und fortlaufend einschreiben. Dies gilt auch für ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK. Auf diese Weise wird im Archiv filmischer Ausdrücke jedes Bild ‚zum‘ Archiv.
Bevor Farocki ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK mit einer erneuten, diesmal unkommentierten, Wiederholung der Aufnahme der Brüder Lumière abschließt, betont das Voice Over, dass die Arbeiter*innen bereits seit den Anfängen des Kinos, die Fabrik verlassen haben (das erste Kinobild sich also stetig fortsetzte). Ferner habe das Kino, so erläutert das Voice Over, in seiner hundertjährigen Geschichte mehr Gefängnistore als Fabriktore gezeigt. Farocki betont damit die Suggestionskraft seiner Arbeit (und deutet so an, dass er selbst zur Konstruktion der Kinogeschichte beiträgt). Das Voice Over fährt fort:
Die Fabrik hat den Film nicht angezogen eher abgestoßen. Reiht man Aufnahmen aneinander, die in 100 Jahren vom Verlassen der Fabrik gemacht wurden, so kann man sich vorstellen, da sei über 100 Jahre das gleiche Bild stets wieder aufgenommen worden; als würde ein Kind das erste Wort, das es sprechen kann über 100 Jahre wiederholen, um die Freude am ersten Wort zu verewigen.
Farocki kehrt mit dieser letzten Bemerkung an den Ausgangspunkt des Archivs filmischer Ausdrücke zurück; zu einem Wörterbuch, das ein „filmisches Sprachbewusstsein“ schulen soll; zu einem Kind, das das erste gelernte Wort wiederholt.15 Wiederholung ist ein grundlegendes Prinzip der Sprache. Um etwas zu bedeuten und verstanden werden zu können, müssen sprachliche Codes wiederholbar sein. Mit jeder Wiederholung werden diese dabei aber auch verändert; jede Iteration bedingt eine Variation (vgl. Derrida 1999). Zum einen ist die Iteration für die Bildung eines Motivs notwendig, zum anderen fügt sie diesem etwas hinzu. Jedes weitere Bild enthält vorherige Variationen und schreibt sich in diese ein.
Sobald man das Bild ‚als‘ Archiv auffasst, wird der Fokus auf diese durch Iterationen aufgebauten, unsichtbaren Schichten aus vorgängigen Bildern gelegt. Dadurch umfasst auch das Bild als Archiv die „beiden Körper“ des Archivs (vgl. Ebeling/Günzel 2009: 10): Zum einen ist es der Ort, an dem sich die vorgängigen Bilder ‚sammeln‘, ineinander einschreiben, zum anderen ist es Gesetz dessen, was gesehen werden kann (angelehnt an Foucaults Definition des Archivs als Gesetz dessen, was gesagt werden kann). Neben den zuvor gesehenen Bildern schreiben sich, wie Farockis Archiv filmischer Ausdrücke zeigt, auch Machtgefüge, Produktionsbedingungen sowie Texte in die Bilder ein – so z.B. Foucaults und Deleuzes Schriften zur Disziplinar- und Kontrollgesellschaft (vgl. Foucault 1994, Deleuze 1993) in GEFÄNGNISBILDER (vgl. Pantenburg 2008a). Betrachten wir nun diese unsichtbaren Schichten der Bilder (nicht zufällig erinnert dies an archäologisches Vokabular), so wird deutlich, dass Farockis Archiv filmischer Ausdrücke sowohl die einzelnen Schichten freilegt als auch den Schichtungsprozess aufdeckt und sich hier somit jedes Bild ‚als‘ Archiv erweist.
Farocki stellte bereits 1999 die Frage, inwiefern sich sein Archiv filmischer Ausdrücke „an der Schwelle digitale[r] Adressierbarkeit“ verändert (Farocki 2001a: 28). Zusammen mit Wolfgang Ernst fragte er, welche Potenziale rein maschinelle, auf Algorithmen basierende Bildsuchmaschinen bieten könnten, indem sie neue, a-semantische Bildvergleiche zu Tage förderten (vgl. ebd.: 28f.).16 Seinen post-kinematographischen und dystopischen Nachfolger scheint Farockis Archiv filmischer Ausdrücke inzwischen in biometrischen Datenbanken (vgl. Zavrl 2016) und den training sets für Machine-Learning-Programme gefunden zu haben. Dennoch betont Didi-Huberman zu Recht den Unterschied zwischen Farockis Praxis und entsprechenden algorithmischen Datenbanken: Farocki „schneide“ schließlich aus der Masse des Archivierten „heraus“, um das Material für eine neue Lesbarkeit zu öffnen (vgl. Didi-Huberman 2014: 129). Auch Volker Pantenburg unterstreicht, dass Farockis Praxis gerade im Kontrast zu den ausschließlich formalen Kriterien algorithmischer Bildvergleiche stehe, die frei von jeder historischen und sozialen Kontextualisierung seien (vgl. Pantenburg 2017: 53). Mehr denn je scheint daher zu gelten, was Tom Holert bereits 2003 konstatierte: Jede Praxis des Archivs ist politisch und eine Unschuld bildbasierter Suchmaschinen ist zunächst rein hypothetisch (vgl. Holert 2003: 143).
Im Anschluss an das Archiv filmischer Ausdrücke rücken somit weniger klassische Bildarchive als Bilddatenbanken in den Fokus, wobei Datenbanken als Schlüsseltechnologien der Gegenwart verstanden werden können (vgl. Manovich 2001). So betont beispielsweise Parikka, dass Datenbanken – wie Foucaults Archiv – keine Narrative, sondern von Computern ermöglichte Informationsrealitäten bilden (Parikka 2012: 113f.). Dass für diese post-kinematographischen Nachfolger des Archivs filmischer Ausdrücke operative Bilder eine besondere Rolle spielen, liegt auf der Hand. Jedes Bild dient hier einer technischen Operation.
Angelehnt an Bernhard Siegert kann für operative Medien außerdem festgestellt werden, dass sie nicht, wie darstellende Medien, Geschichte produzieren, sondern Datensammlungen generieren. Diese Datensammlungen seien nicht Gegenstand der Historiographie, sondern der Archive, so Siegert. Damit dienten sie dem, was im weitesten Sinne als Statistik zu verstehen sei (vgl. Siegert 2020: 202). Anders formuliert, operative Bilder zielen auf die Sammlung und Auswertung von Daten. Dadurch wird ihre elektronische Verarbeitbarkeit betont. Das operative Bild wird zunehmend zu einem verarbeiteten und verarbeitenden Bild. Es rückt dabei dem (Foucaultschen) Archiv näher; „[einer] Instanz, die eine Ordnung der Vergangenheit produziert, anstatt diese – wie die Geschichtswissenschaft – zu repräsentieren“ (Ebeling/Günzel 2009: 14).
Im Zuge dessen rückt die Frage in den Vordergrund, auf welche Weise die operativen Bilder auch dem Bild als Archiv strukturell ähneln. Dazu soll kurz hervorgehoben werden, inwiefern operative Bilder sich aus ‚Schichten‘ zusammensetzen. Zum einen können operative Bilder aus verschiedenen visuellen und nicht-visuellen (Meta)Daten synthetisiert werden, zum anderen dienen sie ihrerseits der Gewinnung von Daten. Somit bestehen sie in zwei Weisen aus ‚Daten-Schichten‘. Wie beim Bild als Archiv können die Schichten des operativen Bildes zwar ebenso aus anderen, zuvor gesehenen Bildern bestehen, der Schwerpunkt verlagert sich jedoch auf die Schichtung der (Meta)Daten und somit auf einen technischen und operativen Aspekt. Dadurch kann das (kinematographische) Bild ‚als‘ Archiv dem (post-kinematographischen) Bild ‚als‘ Datenbank gegenübergestellt werden.
Auf diese Weise bestehen beispielsweise Bilder von Google Street View nicht nur aus optischen Aufnahmen, sondern unter anderem auch aus Adress-, Nutzer*innen- und GPS-Daten (vgl. Hoelzl/Marie 2014). Immer öfter werden nicht-optische Daten bildgebend, womit allgemeine Fragen nach Sichtbarkeit aufgeworfen werden, wie sie für Farocki immer schon im Zentrum der Untersuchung operativer Bilder standen. Das Synthetic Aperture Radar, das unter anderem zu Überwachungszwecken eingesetzt wird, errechnet seine Bilder beispielsweise anhand elektromagnetischer Abtastung der Erdoberfläche, wodurch die Umwelt zum „konstitutiven Charakter der Bildproduktion“ (Siegert 2020: 207), also zur direkten ‚Schicht‘ des Bildes wird.
Beide, das Bild als Archiv und das Bild als Datenbank, stellen dabei im Sinne Foucaults ein Archiv dar; also das Gesetz dessen was gesagt, beziehungsweise, mit Farocki, insbesondere das Gesetz dessen, was gesehen werden kann. Dabei verschiebt sich das ‚Gesetz‘ mit den operativen Bildern jedoch. Auch der ‚Ort‘, an dem sich die zuvor gesehenen Bilder und nun auch zunehmend (Meta)Daten ‚sammeln‘, ändert sich. Dieser Umstand führt dazu, dass man dem Bild als Archiv das Bild als Datenbank gegenüberstellen kann. Hierdurch werden nicht nur andere ‚Schichten‘ des operativen Bildes impliziert, sondern auch andere Operationen des Navigierens in und mit Bildern sowie des (Aus)Lesens von Bildern und Daten evoziert.
Es gilt daher nicht nur den ‚Ort‘, also die Bildarchive oder Bilddatenbanken und deren Operationen, zu untersuchen, sondern direkt auf die Bildebene zu blicken und das Bild als Archiv und das Bild als Datenbank zu analysieren.17 Mit dem Bild als Datenbank wird besonders die Operationalisierbarkeit unterstrichen, die Farocki zwar potenziell jedem Bild zuschreibt, die bei diesem jedoch zum Hauptmerkmal wird. Daher muss gefragt werden, wie sich die Praxis mit Bildern und die Praxis der Bilder ändert, wenn dem Bild als Archiv das Bild als Datenbank gegenübergestellt wird und wie Bildlichkeit verhandelt werden muss, wenn sie zunehmend aus Operationen besteht und in diesen aufgeht.
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