Protestfilmgeschichte(n) zwischen Reenactment und Medienaktivismus
Am 9. März 2016 rufen die linken Gewerkschaften in Frankreich landesweit zu Protesten gegen die neuen Arbeitsmarktreformen der Regierung von Präsident François Hollande auf. Bis Ende des Monats werden sich mehr als eine Millionen Menschen diesen Protesten gegen das ‚Loi Macron’ und das ‚Loi El Khomri’, benannt nach dem damaligen französischen Finanzminister und der Arbeitsministerin, anschließen. Neben den Gewerkschaften sowie den Arbeitnehmer*innen der französischen Bahn (SNCF) und dem Pariser Nahverkehr (RATP) wurden die Demonstrationen insbesondere von Schüler*innen und Studierenden unterstützt. Aus diesen Protesten formierte sich ‚Nuit Debout’, eine vielfältige zivilgesellschaftliche und soziale Bewegung, die den Pariser Place de la République besetzte und als ‚nächtlichen’ Austragungsort für öffentliche, basisdemokratische und aktivistische Formen der Diskussion und des Protests vereinnahmte. Mit einem starken Rückhalt durch Studierende, Intellektuelle wie Akademiker*innen wurden Plena, Arbeitsgemeinschaften und komplexe Strukturen der Mobilisierung in kürzester Zeit über das Internet organisiert (vgl. Syrvotka 2016: 322). Durch die Ablehnung der traditionellen französischen Parteien zunächst nicht eindeutig in ein politisches Lager einzuordnen, vertrat die Bewegung grundsätzlich linke Positionen. Es wurde Kritik an der EU-Austeritätspolitik geäußert und die Rücknahme der Arbeitsrechtreformen sowie ein Wandel in der französischen Migrationspolitik eingefordert.
In der Rezeption der Ereignisse um Nuit Debout wurden immer wieder die Proteste des Mai 1968 als Vergleich herangezogen. Sowohl im Feuilleton als auch in den späteren akademischen Analysen fragte man nach den Ähnlichkeiten, den Potentialen basisdemokratischer Politik, aber auch nach den historischen Bezugnahmen auf 1968 durch die neue Protestbewegung. Insbesondere die Aktivität einer jungen Generation von Studierenden und Schüler*innen bei Nuit Debout sowie die Versuche der neuen sozialen Bewegung, ihre Agenden wieder an die Bedürfnisse und Interessen der Arbeiternehmer*innen und des Prekariats heranzuführen, ließen eine Perspektive auf geteilte Problemstellungen der Proteste von 1968 und 2016 zu (vgl. Reynolds 2018: 148f.).1 Einerseits negierten einige Aktivist*innen von Nuit Debout einen Vergleich, wie etwa ein Demonstrant 2016 in einem Interview formuliert: „That’s 68 language. I don’t understand or give a fuck about all of that.“ (Russell 2018: 1867). Andererseits wurden in den vielfältigen Protestaktionen vereinzelt Bezüge zu historischen Demonstrationen in Frankreich hergestellt. Eine wichtige Rolle für Nuit Debout nahmen die verwendeten Kommunikationsmittel und medienaktivistischen Netzwerke ein, die wenig später als „Rhizom-Engagement“ (Nentwig 2017: 99) bezeichnet wurden. Die Mobilisierungsmöglichkeiten von sozialen Medien, ‚Clicktivism’ und ‚Hacktivism’, lassen im 21. Jahrhundert soziale Bewegungen zu schnellen, emotionalisierten aber auch losen und teils anonymen politischen Akteur*innen werden. Der mediale Online- und Offline-Aktivismus kann politischen Einfluss erzeugen und stellt eine „Gegenöffentlichkeit“ im Sinne von Oskar Negt und Alexander Kluge her (vgl. Kluge/Negt 1977). Medienaktivismus oder „Bewegungsbilder“ sind, wie zuletzt von Jens Eder, Britta Hartmann und Chris Tedjasukmana beschrieben, „zu einem entscheidenden Mittel der politischen Kommunikation geworden: weil sie Botschaften schnell und effektiv verbreiten, Zuschauer*innen emotional bewegen und sie zum Handeln motivieren.“ (Eder/Hartmann/Tedjasukmana 2020: 7).
Solche Bewegungsbilder entstanden auch im Frühjahr 2016 auf dem Place de la République. Am 9. Mai 2016 wird das Video FILM-TRACT N°2016 (LE FOND DE L’AIR EST… BLEU) (F 2016) auf dem YouTube-Kanal des eher unbekannten Videokollektivs ‚simpleappareil’ hochgeladen. 2 Im Abspann des fast 3-minütigen Videos erfährt man, dass es für Nuit Debout und für die Demonstrationen zum 1. Mai 2016 – dem Tag der Arbeit – produziert wurde. Das Video wird in der Beschreibung als ‚Ciné-tract’ bezeichnet und eröffnet damit eine filmhistorische Perspektive. Die CINÉ-TRACTS (F 1968) – im Deutschen mit Flugblattfilme zu übersetzen – waren eine unter anderen von Chris Marker, Alain Resnais und Jean-Luc Godard konzipierte Reaktion auf die Mai-Proteste von 1968. Die Filme sollten die Geschehnisse begleiten, kommentieren und dokumentieren sowie durch ihre Vorführung bei Versammlungen mobilisieren und aktivieren. Das FILM-TRACT N°2016 geht in seiner Bezugnahme zu den Ereignissen von 1968 jedoch weiter. Es stellt eine sehr genaue Kopie oder ein Reenactment des von Jean-Luc Godard und dem französischen Maler Gerard Fromanger produzierten FILM-TRACT N°1968 (F 1968) dar und nimmt dabei eine nicht unbedeutende Verschiebung vor.
Die hier skizzierte Beziehung zwischen dem Film von 1968 und dem YouTube-Video von 2016 sowie die in der Rezeption der Protestbewegungen dargestellten Ähnlichkeiten wie Unterschiede von Nuit Debout und dem Mai 1968 werfen einige Fragen zu der Bedeutung von Zitat, Wiederholung und Reenactment im Film auf. Inwiefern kann sich im Film auf historische Ereignisse bezogen werden, ohne diese einfach nur zu ‚wiederholen’? Ist diese Praxis ein Zitieren oder ein Wiederaufführen und worin besteht der Unterschied? Welche medienästhetischen Verschiebungen ergeben sich hierdurch? Was bedeutet dies für eine Analyse von „Bewegungsbildern“? Wie lassen sich an den Verschiebungen des Reenactment auch unterschiedlichen Konzepte eines medienpolitischen Aktivismus und verschiedene Epochen einer filmischen Gegenöffentlichkeit – verschiedene „Katalysatoren politischen Handelns“ (Ebd.: 13) – identifizieren?
Um diesen Fragen weiter nachzugehen, soll zunächst der Begriff des filmischen Zitats und des Reenactments präzisiert werden. Filmisches Zitieren, sich auf etwas Bestehendes beziehen und mit Referenzen arbeiten, ist eine grundlegende Operation des Filmemachens. Das kommt nicht nur im Medium selber zum Ausdruck, das auf dem Prinzip der technischen Reproduzierbarkeit bzw. der filmtechnischen Kopierbarkeit basiert, sondern auch in den zahlreichen filmtheoretischen Konzepten, die Film und Fotografie als Abdruck einer dagewesenen Realität oder als Spur einer vergangenen Wirklichkeit betrachten.3 Die Montage im Sinne eines Nebeneinanderstellens oder Collagierens ist dabei die entscheidende Arbeitsweise, die das Zitieren, Wiederholen und Aneignen strukturiert und so zwischen dem Filmbild als Abdruck (Film als Zitat der Wirklichkeit) und dem Filmbild als Fiktion (Film als Nachstellung der Wirklichkeit) vermittelt. Möchte man diese hier theoretisch nur sehr grob skizzierten Überlegungen präzisieren, muss man die ‚filmeigenen’ Praxen des Zitierens genauer untersuchen und an ästhetische Formen, Stilmittel und Kontexte binden. Das filmische Zitat muss man daher vielmehr in eine „Kultur der Aneignung“ eingebettet verstehen (vgl. Blümlinger 2009: 13f.). Diese Aneignungen sind immer von ihren montierten Umgebungen abhängig, wie Christa Blümlinger formuliert: „Das filmische Zitat verändert sich je nach Kontext. Es steht weder textuell noch figurativ fest, es ist daher immer als etwas Zusammengesetztes und innerhalb einer neuen Konfiguration zu denken.“ (Ebd.: 40). Der neue Kontext, in den das Zitat eingesetzt wird, aber auch der Ursprungskontext des Zitats entscheiden über dessen Bedeutung und Funktion. Blümlinger stellt insofern die Idee eines filmischen Zitierens in die Nähe des Arbeitens mit Found Footage, also in einen Zusammenhang mit der materiellen Aneignung eines Films für einen anderen, neuen Film. Beispiele dieser filmischen Zitate lassen sich im Experimental- und Avantgardefilm, in der Archivfilmkunst und ihren medienarchäologischen Dispositiven, aber auch in referenziellen Arbeiten der Video- und Medienkunst finden.4
Aufgrund dieser vorgeschlagenen Bedeutung des filmischen Zitats als etwas in einen neuen Kontext ‚Eingesetztes’ möchte ich hier in Bezug auf das Verhältnis der beiden FILM-TRACTS und ihren medienpolitischen Kontexten eher von einem filmischen Reenactment als von einem filmischen Zitat sprechen. Das FILM-TRACT N°2016 zitiert nicht aus dem bestehenden Film von 1968, stellt kein Originalmaterial in einen neuen Kontext, sondern betreibt eine sehr genaue Wiederaufführung. Das Reenactment steht daher viel näher an einer historiografischen Praxis, in der die Aneignung kein Sich-Nehmen, sondern ein Re-aktualisieren bedeutet. Ebenfalls muss man die hier zu besprechende Praxis der Nachstellung vom Begriff des Remakes abgrenzen. Dieser Begriff erscheint mir zu sehr an eine Re-inszenierung eines Narrativ im Genre- und Erzählkino gebunden.5 Die beiden hier zu behandelnden Filme sind hingegen in ihrer Übertragung eines künstlerischen Prozesses (der Malerei) in einen Film eher zwischen Dokumentar- und Experimentalfilm einzuordnen, weisen in ihrer agitatorischen Funktionalität aber auch Qualitäten des Gebrauchsfilms auf.
Der Begriff des Reenactment diente lange der Beschreibung von Unterhaltungs- und Freizeitkultur (vgl. Engelke 2017: 7). Historische Wiederaufführungen von Schlachten an Originalschauplätzen bieten Teilnehmer*innen wie Zuseher*innen ein kollektives Nachempfinden historischer Momente – sogenannte ‚Living History’. Sven Lütticken bezeichnete dies als „historical Happenings“ (Lütticken 2005: 27), die sich besonders um Authentizität und Teilhabe bemühen. Abseits der Freizeitkultur ist der Begriff zunächst als eine Praxis im Theater und der Performance-Kunst zu verorten. Doch die Grenzen zwischen künstlerischer Re-inszenierung und eines „performten Historismus“ (Muhle 2013: 114) sind nicht eindeutig, weswegen der Begriff auch als ein „Suchbegriff“ beschrieben wird (vgl. Otto 2014: 288). Als zentraler Aspekt, bei unterschiedlicher künstlerischer Komplexität und Ausführung, gilt jedoch der Rückgriff auf erinnerungswürdige historische Momente – auch wenn dabei sehr verschiedene Ansprüche an eine Kritikalität formuliert werden, wie Heike Engelke in Auseinandersetzung mit Beatrice von Bismarcks Diagnose des Reenactment6 in der Gegenwartskunst darlegt:
Gewissermaßen zielt der Rückgriff immer auf das ‚Image’ seiner historischen Vorlage und ist immer eine zweite rückwirkende Wertschätzung, die auf den Impuls des Wiedererkennens setzt und zu einer fast reflexartigen Suche nach Abweichungen von dem bekannten Original einlädt. Das heißt, Reenactment steht für einen künstlerischen Ansatz, der ohne die Geschichte(n), welche er wiederaufführt, nicht zu denken ist. Reenactment steht niemals für sich allein, sondern geht immer mit ‚einer Abgrenzung von’ einer vorangehenden ästhetischen Setzung einher, deren Re- zu sein es im Namen markiert. (Engelke 2017: 13).
Diese hier beschriebene „Abgrenzung von“ in der Wiederaufführung soll zunächst in Auseinandersetzung mit Maria Muhle behandelt werden, um genauer zu bestimmen inwiefern sich im Reenactment eine historiografische, aber auch eine künstlerische Praxis zeigt, die trotz ihrer mimetischen Wiederholung ein „schöpferisches Surplus“ in sich trägt (Muhle 2016: 121). Daraufhin soll diese Theorie des Reenactment auf die Beziehung zwischen dem FILM-TRACT N°1968 und dem FILM-TRACT N°2016 unter Berücksichtigung der ästhetischen Verschiebungen bezogen werden, um darüber hinaus ihre medienpolitische Bedeutung zu diskutieren. Reenactment im Film soll daher als Vergegenwärtigung von Geschichte sowie im Sinne einer potentiellen Aktualisierung verstanden werden, anstatt sich mit der „immersiven Erlebnis- oder Vergegenwärtigungsdimension“ (Muhle 2011: 267) zu beschäftigen.
Als medienhistoriografische Praxis stellt Maria Muhle das Reenactment in die Nähe des Dokumentarischen (vgl. Muhle 2013: 114). In Auseinandersetzung mit den Arbeiten des Theaterregisseurs Milo Rau aber auch Chris Markers Film LE TOMBEAU D’ALEXANDRE (F 1992) formuliert Muhle drei Strategien eines dokumentarischen und historiografischen Reenactment.7 Der erste Fall ist die Bildproduktion von Ereignissen, deren Bilder fehlen. Hier formuliert sich nicht nur eine Kritik des Bildes als Dokument und dessen zugeschriebener Authentizität, sondern es wird ebenfalls Geschichtsschreibung als Wirklichkeitskonstruktion hinterfragt. Die zweite Strategie des dokumentarischen Reenactment sind Nachstellungen allgemein bekannter medialer Ereignisse. Diese Nachstellungen dienen dazu, über die mediale Verfasstheit des wiederholten Ereignisses zu reflektieren. Es werden dabei keine Bilder produziert, sondern die vorhandenen Bilder „müssen aus ihrer tradierten ‚politisch-propagandistischen’ Funktion herausgelöst werden, um in eine andere ‚aufklärerische’ Funktion überführt zu werden.“ (Ebd.: 118). Die dritte Form des dokumentarischen Reenactment bezieht sich hingegen auf die Wiederholung einer Erfahrung „als eine therapeutische, ja geradezu kathartische Strategie.“ (Ebd.: 118). Dabei geht es um die Produktion einer anderen Perspektive auf ein historisches Ereignis, die eine Gegenwahrheit darstellt.
Die Produktion von ‚anderen’ Geschichtsbildern und der Rückgriff auf teilweise ‚fiktive’ oder ‚immersive’ Strategien lässt sich jedoch ganz allgemein für alle drei vorgestellten Formen des dokumentarischen Reenactment behaupten (vgl. ebd.: 119). Dokumentarische Reenactments argumentieren insofern epistemisch, als sie sich einer „trickreichen Ideologiekritik“ bemächtigen, die „darauf abzielt, unter der medial vermittelten Wirklichkeit eine andere Wirklichkeit offenzulegen und diese wiederum – jedoch auf verlässlichere Weise, nämlich durch Nachstellung und affektive Identifikation – zu vermitteln.“ (Ebd.: 120). Bei dieser Vermittlung zwischen historischer Wirklichkeit und ihrer Nachstellung muss jedoch unterschieden werden, ob man Geschichte wiederholt, um zu hinterfragen wie diese Geschichte geschrieben wurde, oder ob man nach der Möglichkeit einer Aktualisierung des vergangenen Ereignisses für die Gegenwart fragt. Bei Letzterem wird die Wiederholung vielmehr als ein Experiment begriffen, in dem „Vergangenheit sich erneut, anders ereignet.“ (Ebd.: 121)
Jenes Potential der Aktualisierung – Geschichte erneut anders zu erleben – sieht Muhle insbesondere in einer exzessiven Form des Reenactment verwirklicht, welche sie ‚mindere Mimesis’ nennt. Die Wiederholung des Reenactment als mindere Mimesis zu denken, bedeutet, jene Reenactments zu bevorzugen, die eine Nachahmung besonders akribisch betreiben. Diese „hyper-mimetischen“ Nachahmungen werden gerade dadurch, dass sie sich einer intentional ‚künstlerischen’ Abweichung in der Nachstellung verwehren, zu einer ‚minderen’ Form der Wiederholung (vgl. Muhle 2016: 130). Dieses Fehlen einer kritischen Intention ermöglicht, in der Nachstellung selber unvorhergesehene Bedeutungsverschiebungen zu erfahren:
Die Differenz, die diese Art von Reenactment einführt, ist folglich in einem viel stärkeren Sinne zu verstehen als diejenige der Kritikalität, die auf das kritische Heraustreiben von etwas bereits Gegebenen durch die Entwicklung oder Entfaltung der Handlung des Reenactments ausgelegt ist. (Ebd.: 132).
In den Reenactments der minderen Mimesis ereignen sich die Abweichungen selbstständig und werden nicht von Beginn an durch eine kritische Absicht vorausbestimmt. Inwiefern das Reenactment des FILM-TRACT N°1968 als eine künstlerisch-kritische Form oder im Sinne der minderen Mimesis zu verstehen ist, soll im Anschluss an die folgende Kontextualisierung der beiden FILM-TRACTS wieder aufgegriffen und diskutiert werden.
Die Proteste gegen die Absetzung des Leiters der Cinémathèque Française, Henri Langlois, zu Beginn des Jahres 1968, hatten unter französischen Regisseur*innen und Kritiker*innen zu einer Solidarität im Filmwesen geführt. Auf dieser bauten auch die folgenden Proteste im Mai 1968 auf (vgl. Harvey 1978: 15). Um während der landesweiten Generalstreiks im Mai 1968 eine Gegeninstitution zum staatlichen Filmkomitee CNC (Centre National de la Cinématographique) zu gründen, formierten sich unter der Teilnahme zahlreicher Studierender, Schüler*innen, Regisseur*innen und Kritiker*innen am IDHEC (Institut des Hautes Études Cinématographiques) die États Généraux du Cinéma Français. Mit dem Ziel, eine Selbstverwaltung des Filmwesens durchzusetzen, riefen die Generalstände einen Streik der Beschäftigten der Filmindustrie aus und gründeten diverse Projektgruppen, welche sich mit der Erneuerung der Umverteilung von Produktions- wie Distributionsmitteln im Film und Fernsehen beschäftigten (vgl. Lommel 2001: 22). In Folge dieser Kollektivierung und Selbstorganisation der Filmemacher*innen durch die Etats généraux du Cinéma Français wurden Mitte Mai 1968 die Proteste und die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei von einer Reihe kurzer agitatorischer Filme – den CINÉ-TRACTS – begleitet. Flugblättern oder Pamphleten gleich gehen die Filme laut Alain Resnais auf eine Initiative von Chris Marker zurück (vgl. Kämper: 1997: 212), der mit der Filmgruppe SLON (Société pour le Lancement des Œuvres Nouvelles) schon vor dem Mai 1968 in dem Film À BIENTÔT, J’ESPÈRE (F 1968) mit neuen Formen kollektiven Filmemachens experimentierte und versucht hatte, die porträtierten Arbeiter*innen einer Textilfabrik in Besançon in den Produktionsprozess des Films mit einzubeziehen. Doch auch Alain Resnais und Jean-Luc Godard waren an den CINÉ-TRACTS beteiligt. Erschienen sind die Filme anonym, auch wenn man nachträglich Zuweisungen bezüglich der Autorschaft mancher Filme anstellen könnte. Die stummen Schwarz-Weiß-Filme in der Länge einer 30m langen 16mm Filmrolle à 2’44 min sollten knappe Illustrationen einer Tatsache oder eine Parole darstellen und wurden bei diversen Versammlungen vorgeführt (vgl. ebd.: 260). Im August 1968 unter anderem auch in Berlin, wobei die Filme laut dem damals anwesenden Harun Farocki eher Enttäuschung auslösten (vgl. Farocki 2017: 143).8
In dem von Marker und SLON geschriebenen Begleitmanifest CINETRACTEZ wird einer Laboranleitung gleich dem politischen Potential der Filme noch eine große Bedeutung zugesprochen. Neben der erwähnten definierten Länge findet sich die Vorgabe, dass möglichst eindeutig und schlagkräftig mit den Filmen politisch zu argumentieren sei. Die Filme zielen auf die konkrete Herstellung einer Diskussion und Aktion, wie es im Manifest heißt: „film muet à thème politique, social ou autre, destiné à susciter la discussion et l’action“. Es werden verschiedene formale Eigenschaften und Produktionsweisen wie die Arbeit mit dem „effet de zoom“, einem zu bedenkenden Rhythmus in der Montage, aber auch bezüglich der Bildauswahl sowie dem Verhältnis von Bild und Text vorgeschlagen. Diese Bild-Text Collagen sollten agitatorische Attribute der „information – commentaire – ponctuation – vibration“ annehmen. Interessant erscheint hierbei insbesondere eine sonst eher aus dem Gebrauchsfilm bekannte Fokussierung auf Effektivität und Nutzen der technisch eingesetzten Mittel. Denn die kollektiv organisierte Produktion der CINÉ-TRACTS wurde als „activité de cinéaste amateur, sans but lucratif“ nicht vergütet.
In den CINÉ-TRACTS wurden Standbilder – Fotografien der Proteste und situationistische Aneignungen von Werbung, Found Footage und Nachrichtenbildern – verwendet, die am Tricktisch meist ohne Schnitte montiert wurden. Ebenfalls charakteristisch sind die Eingriffe und Bedeutungsverschiebungen mittels handgeschriebener Slogans und Kommentare auf den Fotografien. Wortspiele, Silbentrennungen und ironische Anspielungen erzeugen ein ‚Détournement’, das Jean-Luc Godard weiterführt, wenn er die Bilder aus den von ihm produzierten CINÉ-TRACTS (bspw. CINÉ-TRACT N°23) in späteren Filmen wie LE GAI SAVOIR (F 1969) wiederverwendet.
Von den etwa 200 produzierten Filmen ist heute nur noch ein Teil erhalten, der zunächst von der SLON-Nachfolgeorganisation ISKRA (Images, Sons, Kinescope, Réalisations, Audiovisuelles) verliehen wurde und mittlerweile in der Cinémathèque Française archiviert ist (vgl. Kämper 1997: 260).9 Das von Gerard Fromanger und Jean-Luc Godard produzierte FILM-TRACT N°1968 ist eine Abwandlung der im Mai und Juni produzierten Flugblattfilme. Es weist einige ästhetische Veränderungen auf und ist auch zeitlich durch seine Produktion im Juli oder August 1968 schon als ein Nachtrag, als eine Notiz zu den Geschehnissen im Mai 1968 zu betrachten.10
Neben den Protesten an der Reformuniversität Nanterre und der traditionsreichen Sorbonne im Quartier Latin war auch die École nationale supérieure des Beaux Arts 1968 ein wichtiger Schauplatz für zahlreiche Protestformen. Im Anschluss einer Generalversammlung der Studierenden wurde die Kunsthochschule am 14. Mai besetzt und diente für die folgenden Wochen als zentraler Produktionsort für Plakate, Pamphlete und Lithografien der Bewegung. Der Maler Gerard Fromanger, welcher seit Mitte der 1960er der Pop-Art-Gruppe ‚Figuration narrative’ nahestand, war zwar kein Studierender der Kunsthochschule mehr, jedoch Gründungsmitglied des kollektiv organisierten und die Bewegung unterstützenden ‚Atelier Populaire’ (vgl. Drews 2017: 111). In den Zeitraum des Atelier Populaire fällt die Produktion einer Siebdruckserie Fromangers, die mit Le Rouge betitelt ist. Sie besteht aus mehreren Nationalflaggen ‚westlicher’ Länder, aus denen, beginnend mit der französischen Trikolore, das Rot über die anderen Flaggenfarben ausläuft.11 Zunächst konnte Fromanger diese Serie nicht vervielfältigen, da die Generalversammlung über die Verwendung aller Drucke und Plakate des Atelier Populaire abstimmte und sich nach längerer Diskussion gegen die ‚blutende’ Trikolore aussprach. Die Versammlung kritisierte die vermeintlich ästhetisierte Politik der Drucke und betrachtete die Entweihung des Nationalsymbols im Hinblick auf eine zu erwirkende Solidarität mit der Arbeiterschaft als kontrarevolutionär (vgl. Wilson 2010: 131). Die Gruppe ‚Bewegung des 22. März’ um Daniel Cohn-Bendit vervielfältigte etwas später jedoch einige Drucke und das Plakat wurde später zu einem ikonischen Zeichen der Proteste (vgl. Gervereau/Fromanger 1988: 184). Die Metaphorik der Serie ist in ihrer Botschaft ziemlich eindeutig: Eine rote ‚Welle’ des Protestes trifft den Westen, während gleichzeitig die Polizeigewalt an Studierenden und Arbeiter*innen blutige Spuren auf den staatstragenden Nationalsymbolen hinterlässt.
Laut Gerard Fromanger waren es jene Siebdrucke, die Jean-Luc Godard zu einem Treffen mit ihm bewogen. Godard interessierte sich für Fromangers Arbeitsweise und kam schon bei der ersten Begegnung auf die Idee zu sprechen, die rot auslaufende Flagge für einen Film zu benutzen, wie Fromanger illustrativ beschreibt: „He said: ’It’s great, great – but I want to know, haven’t you ever wanted to make films?’ I wasn’t opposed to the idea, but I didn’t even know how to work a movie camera. Jean-Luc said he would take care of it and help me. He wanted to start the very next day, making a film with my posters“.12 Der Film selbst muss dann, zumindest in Teilen, zwischen Juli und August des Jahres 1968 entstanden sein. Er beginnt mit einer Titelsequenz, die eine Ausgabe der französischen Tageszeitung Le Monde zeigt auf der in roter Farbe ‚FILM-TRACT N°1968’ geschrieben steht. Bei genauer Betrachtung der Artikelüberschriften kann man die Ausgabe der Zeitung auf den 31.7.1968 datieren.13 Aus dieser Titeleinstellung wird in ein das Bild ausfüllendes Rot geschnitten und langsam, auf der Länge von 2’44 min – wiederum eine 30m fassende 16mm Filmrolle –, aus dem Rot herausgezoomt. Das Rot zerläuft langsam über der erst nach einer Minute zu erkennenden französischen Trikolore. Nach dem Ablaufen der Filmrolle gibt es noch eine kurze Creditsequenz, welche die Kooperation – „Realisation: Gerard Fromanger“ und „Technique: Jean-Luc Godard“ – ausweist.
Das FILM-TRACT N°1968 muss als ein Nebenprodukt der CINÉ-TRACTS bewertet werden. Zunächst weicht es durch die genannte Autorschaft von der anonymen Kollektivform ab und bricht auch ästhetisch mit dem hier zitierten Manifest der CINÉ-TRACTS. Es wird nicht mit Standbildern und Fotografien gearbeitet, sondern in Farbe ein One-Roll-Film gedreht. Der Produktionsprozess unterscheidet sich damit auch filmtechnisch, da im Gegensatz zu den am Trickfilmtisch entstandenen ‚collagierten’ CINÉ-TRACTS ein Film ‚gedreht’ wird. Das Filmen der rotüberlaufenden Trikolore dokumentiert den malerischen Prozess und stellt selber einen experimentellen Prozess als Film dar. Diese Verdoppelung des Prozessualen ist insofern interessant, da es auf eine Beziehung zwischen Malerei und Film verweist. Der Film ist die Dokumentation einer künstlerischen Handlung und gleichzeitig die Inszenierung einer politischen Aussage. Hierin liegt die performative Verdopplung: der Produktionsprozess kann nachvollzogen werden, während eine politische Metaphorik durch den Film als Film entsteht. Die Kamera antizipiert das Prozessuale der Malerei, wenn sie langsam von rechts nach links schwenkt, leicht herauszoomt und dem Fluss des Farbverlaufs folgt. So wird ein künstlerisches Medium in einer anderes übertragen. Fromangers Serie wird im Sinne der von Blümlinger formulierten „Kultur der Aneignung“ filmisch zitiert und in einen neuen Kontext – jenen des Films – gesetzt.14
Godard und Fromanger zitieren das FILM-TRACT N°1968 wiederum mehrfach in eigenen Arbeiten.15 1970 zeigte Fromanger auf dem militanten Festival ‚La Peinture qui bouge’ einen weiteren auf der Plakatserie basierenden Film, der ebenfalls mit LE ROUGE (F 1968-1970) betitelt ist (vgl. Wilson 2010: 132). Auch auf 16mm gedreht, diesmal aber mit Ton, diente der Film als eine Art ‚Trailer’ für den Film CAMARADES (F 1970) von Marin Karmitz.16 Doch auch Jean-Luc Godard nutzte die 1968 entstandenen Flugblattfilme. Denn neben den Standfotografien aus den CINÉ-TRACTS finden sich im schon erwähnten LE GAI SAVOIR einige Skizzen des FILM-TRACT N°1968.
Nach dem Mai 1968 tritt Godard in jene politische Phase ein, für die der Filmkritiker Serge Daney 1976 den Begriff der ‚Godard’schen Pädagogik’ fand. Das Kino fungiert in dieser Periode als Tableaux. Das Heraustreten aus dem Kinosaal wird zum Besuch einer Schule – ähnlich eines Brecht’schen Lehrstücks. Die Arbeit mit Bildern durch Aneignungen und Umdeutungen ist dabei genau so bedeutend wie das referenzielle Aufgreifen eigener Arbeiten. Zu dieser Godard‘schen Pädagogik gehört für Daney ganz zentral:
Daß [sic!] er – Godard – sich nur mit dem befaßt [sic!], was bereits von anderen gesagt wurde, was bereits gesagt und bereits zur Aussage erhoben wurde. Unterschiedslos: Zitate, Slogans, Plakate, Scherze, lustige Geschichten, Vorlesungen, Zeitungsbanderolen usw. Aussage-Objekte, kleine Monumente, Bedeutungs-Lager, Wörter wie Dinge: Zur freien Entnahme. (Daney 2000: 87)
Mit der Produktion der CINÉ-TRACTS und des FILM-TRACT N°1968 beginnt diese Phase einer politischen Pädagogik, die darauf beharrt, keine neuen Bilder zu produzieren, sondern sich Bestehendes – hier Fromangers Druck Le Rouge – anzueignen und politische Metaphern in die Schule des Kinos zu tragen. Eine ähnliche Interpretation dieser Periode in Godards Werk nehmen auch Kaja Silverman und Harun Farocki vor. Sie stellen neben der Eigenschaft des Films als skizzenhafte Materialsammlung insbesondere die „Praxis des Auf-Bilder-Schreibens“ heraus, so dass die Leinwand zu einer Wandtafel wird – „eine Praxis, von der er [Godard] ein Jahr später sagen wird, sie sei Ausdruck militanten Filmeschaffens.“ (Farocki/Silverman 2018: 130).
Diese Praxis einer Aneignung von Bildern bei gleichzeitiger politischer Anrufung zeigt sich auch 2016 in den Protesten von Nuit Debout. Das FILM-TRACT N°2016 wurde Anfang Mai auf die Video-Plattform der Gruppe ‚simple appareil’ hochgeladen. Realisiert wurde es vom Filmemacher und Autor Arnaud Lambert – auch wenn es zunächst anonym erschien.17 Die Länge des Videos beträgt 2’40 min und der Aufbau des Films ist mit dem des Originals identisch. Die Titelsequenz zeigt ebenfalls eine beschriebene Ausgabe der Le Monde, diesmal vom 8.12.2015. Der Titel ‚FILM-TRACT N°’ ist in Rot geschrieben während die Jahreszahl ‚2016’ blau ist. Auf der Titelseite der Le Monde kann man die tagesaktuelle Schlagzeile erkennen: „Régionales: Poussée historique du FN“. Unterhalb der Schlagzeile sieht man eine blau eingefärbte Karte Frankreichs, auf der die starken Zugewinne des Front National bei den kurz zuvor abgehaltenen französischen Regionalwahlen dargestellt sind. Auf diese Titeleinstellung folgt ein Schnitt in ein das Bild ausfüllende Blau, das daraufhin langsam über die erst nach einiger Zeit zu erkennende Fahne Frankreichs verläuft. Auffällig ist im Gegensatz zum stummen Original der Ton des Reenactment. Die Hintergrundgeräusche fahrender Autos und eines sich langsam annähernden Hubschraubers ermöglichen Rückschlüsse auf eine improvisierte und wohlmöglich direkt am oder in der Nähe des Protestort Place de la République umgesetzte Produktion des Videos.
Die identische Form, Länge und Betitelung ist eine offensichtliche Re-inszenierung des Films von 1968.18 Die vorgenommenen Veränderungen betreffen die Farbsymbolik. Die blaue Jahreszahl, die Le Monde-Schlagzeile über das Erstarken des Front National und der Titelzusatz „Le fond de l’air est… bleu“ verweisen auf eine „blaue“, rechts-populistische Stimmung in Frankreich. In der Video-Beschreibung wird daher im Widerspruch zu dieser Entwicklung zur Unterstützung der Bewegung Nuit Debout aufgerufen: „Ne laissons pas le fond de l'air virer totalement au bleu! Ciné-tract en soutien au mouvement Nuit Debout - place de la République, mai 2016“. Doch im Titelzusatz ist noch ein weiterer Bezug auf die französische Filmgeschichte versteckt. In seinem Film LE FOND DE L’AIR EST ROUGE (F 1977) greift Chris Marker das französische Sprichwort ‚Le fond de l’air est frais’ auf, was unter anderem bedeuten kann, dass etwas in der Luft liegt.19 Markers Film ist eine Rekapitulation der Ereignisse nach 1968 und versammelt in Interviews und Rückblicken die Kämpfe und Konflikte der entstandenen neuen linken Bewegungen. Während in den Jahren nach 1968 das ‚rot’ in der Luft lag, gewinnen 2016 neue rechtspolitische Strömungen in Europa an Zustimmung. Das Reenactment reiht sich so durch die Re-Inszenierung des Films von 1968 in die Geschichte emanzipatorischer sozialer Bewegungen ein und behauptet, dass auch in den Mai-Protesten von Nuit Debout Potentiale politischen Wandels liegen. Im Wechsel von ‚Rot’ zu ‚Blau’ findet in der Metaphorik eine Aktualisierung im Hinblick auf die gegenwärtigen Herausforderungen der französischen Gesellschaft statt. Das Video verweist dem entsprechend auf den für das Nachdenken über medienhistoriografische Reenactments wichtigen Aspekt eines ‚noch nicht abgeschlossenen’ politischen Projekts linker Politik.
Beim FILM-TRACT N°2016 handelt es sich um ein Mobilisierungsvideo, welches zur Partizipation an den Demonstrationen auf dem Place de la République bewegen möchte. Als ein Aufruf zur Mobilisierung lässt sich das Video auch als medienaktivistische Unterstützungskampagne von Nuit Debout verstehen. Aufgrund ihrer ikonischen Bedeutung für eine französische Protestkultur wurden Gerard Fromangers Plakatserie ‚Le Rouge‘ und das FILM-TRACT N°1968 als Vorlagen ausgewählt. Durch diese Referenz wird einerseits der schon diskutierte historische Bezug zwischen den Bewegungen dargestellt und andererseits versucht, kollektive Affekte des Protestes hervorzurufen. Das Reenactment zitiert damit nicht nur ein medienaktivistisches Format des militanten Films, sondern wiederholt ebenfalls eine Mobilisierungsstrategie, die im Fall des FILM-TRACT N°2016 – bedenkt man die geringen Aufrufe des Videos auf YouTube – eher unbeachtet blieb. Das Video von 2016 sagt insofern mehr über die Prominenz des Mai 1968 als historischer Bezugspunkt für linke Proteste in Frankreich aus, als dass es versucht eine eigene Aufmerksamkeitsstrategie zu entwickeln. In dieser historischen Bezugnahme liegt jedoch die medienpolitische Qualität des Reenactment. Denn die Aneignung historischer Protestformen für gegenwärtige politische Äußerungen erscheint in Anbetracht eines beschleunigten Zitierens im Internet von Interesse für ein film- und medienwissenschaftliches Verständnis des zeitgenössischen Umgangs mit Bildern. Praxen des Zitats, der Re-Inszenierung und der Wiederholung sind im Netz zu einem wichtigen Aspekt gegenwärtiger remediatisierter und remediatisierender Bildkulturen geworden. Auch wenn anzunehmen ist, dass das Reenactment des FILM-TRACT N°1968 nur eine sehr überschaubare Öffentlichkeit erreicht hat, verweist es auf die Möglichkeit, inwiefern durch die Wiederholung historischer Filmformate und ihrer politischen Mobilisierungsstrategien in den Sozialen Medien neue Distributionskanäle erschlossen und neue Rezipient*innen für medienaktivistische Vorhaben gewonnen werden können. Denn trotz der inhaltlichen Bedeutungsverschiebung ähneln sich die FILM-TRACTS in ihrer medienaktivistischen Vorstellung eines Handelns mit Film bzw. mit Video. Dies soll nun abschließend und ein weiteres Mal in Auseinandersetzung mit Maria Muhles Theorien zum Reenactment diskutiert werden.
Der Vergleich der beiden Filme ermöglicht zunächst einmal mehrere Praxen der Aneignung hervorzuheben, die alle auf ihre Art mit Film ‚handeln’. Wie zu Beginn in Auseinandersetzung mit Christa Blümlinger besprochen, sind jene filmischen Praxen der Aneignung durch Zitat von einem wechselhaften Verhältnis zwischen alten und neuen Bedeutungen, von textuellen, formalen und inhaltlichen Verschiebungen geprägt. Zunächst finden wir in beiden FILM-TRACTS durch die dargestellte Übertragung eines Prozesses der Malerei in einen Film eine medienästhetische Transformation, die man dem filmischen Zitat und einer Praxis ‚klassischer’ künstlerischer Appropriation zuordnen könnte. Mit dem FILM-TRACT N°1968 begann für Godard und Fromanger eine künstlerische Arbeitsweise, die durch das Spiel mit intermedialen ‚Zitaten’ und ‚Übertragungen’ von verschiedenen Medien geprägt ist. Die in beiden Filmen praktizierte Remediatisierung wird im Reenactment des FILM-TRACT N°2016 schlichtweg verdoppelt.20
Neben dieser formalen Appropriation gibt es in dem Verhältnis der beiden Filme von 1968 und 2016 zueinander einen weiteren Aspekt zu diskutieren: die Wiederholung, die das Reenactment als ‚dokumentarisch-künstlerische’ Praxis anstellt. Um welche Form des Reenactment nach Muhle handelt es sich beim FILM-TRACT N°2016? Und inwiefern ist diese Nachstellung an dem Versuch eines erneuten aber anderen Wirksamwerdens von Geschichte beteiligt? Wie schon zu Beginn des Textes erwähnt, stellt Maria Muhle insbesondere jene Reenactments heraus, die sich als Experimente oder Versuchsanordnungen verstehen. Diesen spricht sie das Potential der Vergegenwärtigung des Vergangenen zu:
Diese Vergegenwärtigung ist keine Veranschaulichung, sondern das Arbeiten der Vergangenheit in der Gegenwart – ihre Re-Aktualisierung. Ziel eines solchen Reenactments ist es auch nicht, die Vergangenheit ins rechte Licht zu rücken. Vielmehr geht es darum, im immersiven Modus des Reenactments eine Aktualität zu produzieren, die sich in einem kritischen Bezug zur wiederholten Vergangenheit verortet und auf die Differenzen oder Singularitäten abzielt, die jede Wiederholung notwendigerweise produziert. (Muhle 2013: 131)
In Folge dessen kann man das Reenactment von 2016 durchaus als Versuch verstehen, die Erfahrung der Vergangenheit mit der Erfahrung der Gegenwart zu konfrontieren. Die eingangs erwähnten Diskussionen über die Ähnlichkeiten der Ereignisse von 1968 und 2016, durch die im FILM-TRACT N°2016 inszenierte Bezugnahme, lassen diesen Schluss einer Befragung des Vergangenen für die Proteste von 2016 zu. Mit Muhle gesprochen könnte man sagen, das FILM-TRACT N°2016 „zielt darauf ab, das Wirken des Vergangenen im Gegenwärtigen spürbar [zu] machen, es ist ein Wieder-, aber Auf-eine-andere-Weise-wirksam-werden-Lassen dessen, was uns die ganze Zeit umgibt.“ (Ebd.: 133)
Das Video von 2016 stellt jedoch kein Reenactment im Sinne der minderen Mimesis dar. Zwar ist die Nachstellung des FILM-TRACT N°2016 sehr detailgetreu und in Bezug auf Form und Struktur durchaus mimetisch, doch sind die Abweichungen vom Original in der Konzeption des Videos von Beginn angelegt und intendiert. Dies jedoch nicht (und das gilt es zu unterscheiden), um die Unmöglichkeit einer Wiederholung zu negieren oder eine Medienreflexivität einzuführen (wie es Muhle für das künstlerische Reenactment behauptet), sondern um aus einer veränderten Mimesis des Vergangenen heraus eine Lesart der Gegenwart anzubieten. Die eindeutig intendierte metaphorische Verschiebung im FILM-TRACT N°2016 ist daher trotzdem als historiografische Praxis zu betrachten, die durch ihren Anspruch auf eine Re-Aktualisierung und ihre Bezugnahme auf die politische Herausforderung eines erstarkenden Rechtspopulismus auch eine eigene Politik in sich trägt, welche „die Anordnungen von Wirklichkeiten und ihrer Normen“ (Ebd.: 134) gerade durch das Reenactment als Arbeit an der Geschichte verunsichert. Diese Politik der Wiederholung im FILM-TRACT N°2016 könnte man demnach mit dem Rancièr’schen Verständnis von Politik als Dissens verstehen. Der Dissens erzeugt „gegenseitige Bezugnahmen von heterogenen Ordnungen des Sinnlichen“ (Rancière 2008: 89) und schließt damit auch eine kritische Kunst ein, die „Formen der Neugestaltung von Erfahrung“ (Ebd.: 90) erzeugt. Die Re-inszenierung des FILM-TRACT N°1968 im Jahr 2016 könnte man als den Versuch einer solchen affektiven Neugestaltung von Erfahrung verstehen. Das Video zielt auf jene affektiven Qualitäten der mittlerweile historisch gewordenen Erfahrung des Mai 1968 und dessen politischer Subjektwerdung ab, die es im Sinne eines „Wirkens des Vergangenen im Gegenwärtigen“ zu wiederholen gilt.
Abschließend bleibt noch die Frage eines in den Filmen angelegten politischen und filmischen Handelns zu thematisieren. Die Problematik dieser Frage liegt offensichtlich darin, wo man ein Handeln mit Film bzw. durch Film verorten möchte. Ist dieses Innerhalb oder Außerhalb des Films zu finden und geschieht die Handlung ‚vor dem Film’ (in der Produktion) oder doch eher ‚nach dem Film’ (liegt also bei den Zuseher*innen und ihren möglichen Reaktionen)?
Zunächst einmal stellt die Remediatisierung der Malerei in einen Film eine konzeptuelle ästhetisch-künstlerische Handlung im Produktionsprozess dar. Weiterhin könnte das FILM-TRACT N°2016 durch die angestrebte Nachstellung und Re-Aktualisierung zwischen Mimikry und Differenz als eine historiografische ‚Meta’-Handlung betrachtet werden. Und zuletzt sind beide Filme in den Handlungen tatsächlicher politischer Bewegungen eingebettet, die ganz konkrete Wirkungen in der außerfilmischen sozialen Realität erzielen möchten und eine Veränderbarkeit derselben anstreben. Im Sinne medienaktivistischer „Bewegungsbilder“ zeigt sich hier im militanten Film von 1968 und in seiner netzaktivistischen Nachstellung 2016 ein recht ähnliches Verständnis von Film als Instrument politischer Mobilisierung. Beide Filme sind appellativ im Sinne einer Anrufung zur Teilhabe an einer politischen Situation, aber wirken durch die Dekonstruktion eines Nationalsymbols auch affektiv. Unterschiede bestehen eher in der Deutung ihrer außerfilmischen Gegenwart: Während 1968 eine rote ‚Welle’ über Europa zieht mit der es sich zu solidarisieren gilt und gleichzeitig eine Empörung über die gewalttätigen Reaktionen des Staates ausgedrückt wird, liegt der appellative Charakter des FILM-TRACT N°2016 eher in einer ‚Warnung vor’ und legt eine daraus resultierende weitere Unterstützung von Nuit Debout nahe.
Es wird deutlich, dass das Verhältnis von Reenactment und Appropriation, in dem sich beide Filme befinden, einige Probleme bei der Theoretisierung von filmischen Handeln aufwirft. Lassen sich die beiden Filme zunächst einem klassisch-aktivistischen Verständnis von politischem Film zuordnen, wird bei genauerer Betrachtung insbesondere durch die Verdoppelungen des Reenactments deutlich, dass dieses militante (teils auch pädagogisch-paternalistische) Verständnis der Beziehung von Politik und Film komplexer ist. Ein Handeln mit Film müsste daher neben einer intendierten handlungsauslösenden Agitation ebenfalls als Filmwahrnehmung und Filmdenken verstanden werden, um zu verstehen wer, wie und wodurch mit Film handelt. Eine Betrachtung dieser „multiperspektivischen Dispositionen“ des Films, wie sie Chris Tedjasukmana über den Begriff der „ästhetischen Öffentlichkeit“ zu beschreiben versucht, wäre ein Ansatz, um die Frage nach Filmen und ihrer inner- und außerfilmischen Handlungen weiter zu verfolgen (vgl. Tedjasukmana 2014: 31). Hier wurden vorerst nur die Intentionen und Handlungen der Filmemacher thematisiert, inwiefern diese durch eine historiografisch-reflexive Nachstellung an eine politische Filmästhetik anknüpfen und in neue aktivistische Medienkontexte übertragen werden. Die dargestellten Verbindungen zweier unterschiedlicher filmhistorischer Momente eines politischen Handelns mit Film verweisen so auch auf eine Beziehungsgeschichte teils vergessener filmästhetischer wie filmpolitischer Ideen und Konzepte der 1960er und 1970er Jahre, die es zukünftig für ein Nachdenken über Medienpolitik weiter zu erarbeiten gilt.
Bismarck von, Beatrice (2015) Der Teufel trägt Geschichtlichkeit oder Im Look der Provokation. When Attitudes Become Form – Bern 1969/Venice 2013, in: Kernbauer, Eva (Hg.) Kunstgeschichtlichkeit, Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn: Fink, 2015, 233-248.
Blümlinger, Christa (2009) Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst. Berlin: Vorwerk 8.
Daney, Serge (2000) Von der Welt ins Bild: Augenzeugenberichte eines Cinephilen. Texte zum Dokumentarfilm. Berlin: Vorwerk 8.
Deleuze, Gilles (2003) Das Kalte und das Warme, in: Ders. Die einsame Insel – Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt am Main Suhrkamp, 359-365.
Drews, Ann-Cathrin (2017) Kalt, warm, hybrid, in: Drews, Ann-Cathrin/Martin, Katharina (Hg.) Innen - Außen – Anders, Bielefeld: Transcript Verlag, 2017, 111-136.
Eder, Jens/Hartmann, Britta/Tedjasukmana, Chris (2020) Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozialen Medien. Berlin: Bertz+Fischer.
Engelke, Heike (2017) Geschichte wiederholen. Bielefeld: Transcript Verlag.
Farocki, Harun (2017) Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig. Fragmente einer Autobiographie – Schriften Band 1. Berlin: nbk.
Farocki, Harun/Silverman, Kaja (2018) Von Godard sprechen – Schriften Band 2. Berlin: nbk.
Foucault, Michel (2002) Schriften in vier Bänden. Band 2 1970 - 1975 (1. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gervereau Laurent, Fromanger Gérard (1988) L'atelier populaire de l'ex-Ecole des Beaux-Arts. Entretien avec Gérard Fromanger, in: Matériaux pour l'histoire de notre temps, Mai-68. Les mouvements étudiants en France et dans le monde, Nr 11-13, 1988.
Graw, Isabel (2008) Mit den besten Empfehlungen. Ein Roundtablegespräch über Referenzialismus in der zeitgenössischen Kunst mit Dirk von Lowtzow, Pauline Olowska, Stephen Prina und Adam Szymyck, moderiert von Isabelle Graw, in: Texte zur Kunst 71, September 2008, 48–67.
Harvey, Sylvia (1978) May 68 and Film Culture. London: BFI.
Heinze, Rüdiger/Krämer, Lucia (2015) Remakes and Remaking. Bielefeld: Transcript Verlag.
Kämper, Birgit (1997) Chris Marker. Filmessayist. München: CICIM.
Lommel, Michael (2001) Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien. Tübingen: Stauffenburg-Verlag.
Lütticken, Sven (2005) An Arena in which to reenact, in: Ders. (Hg.) Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam: Witte de With, 17-60.
Muhle, Maria (2016) Reenactment als mindere Mimesis, in: Hohenberger, Eva/Mundt, Katrin (Hg.) Ortsbestimmungen. Das Dokumentarische zwischen Kino und Kunst, Berlin: Vorwerk 8, 2016, 120-134.
Muhle, Maria (2013) History will repeat itself, in: Engell, Lorenz/Hartmann, Frank/Voss, Christine (Hg.) Körper des Denkens. Neue Positionen in der Medienphilosophie, Leiden, Niederlande: Wilhelm Fink, 2013, 113-134.
Muhle, Maria (2011) Reenactments der Macht, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Nr. 56 (2), 101-112.
Nentwig, Teresa (2017) Vom Hype in die Bedeutungslosigkeit?, Indes, Nr. 6 (4), 92-99.
Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1977) Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Otto, Ulf (2014) Reenactment, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.) Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 2014, 287-290.
Rancière, Jacques (2008) Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books.
Reynolds, Chris (2018) From mai–juin’68 to Nuit Debout. Shifting perspectives on France’s anti-police, Modern & Contemporary France, Nr. 26 (2), 145-163.
Russell, Adrienne (2018) Nuit Debout: Representations, Affect, and Prototyping Change. International Journal of Communication (Online), Nr. 12, 1864-1871.
Seier, Andrea (2007) Remediatisierung. Performative Konstitution von Gender und Medien. Münster: Lit Verlag.
Soussloff, Catherine (2017) Foucault on Painting. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Syrovatka, Felix (2016) Nuit Debout: Frankreich gerät in Bewegung. Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Band 46 (Nr. 183), 317-323.
Tedjasukmana, Chris (2014) Die Öffentlichkeit des Kinos. Politische Ästhetik in Zeiten des Aufruhrs, Montage AV, Nr. 23 (2), 13-34.
Tröhler, Margrit (2019) Experimentelles Reenactment im Dokumentarfilm – von der Überblendung historischer, medialer und imaginärer Dynamiken, Medialität. Historische Perspektiven, Newsletter, Nr. 19, 3-15.
Wilson, Sarah (2010) The visual world of french theory figurations. New Haven/London: Yale University Press.