Notizen zu einem Gespräch mit Erika und Ulrich Gregor
„Ich würde sagen, dass wir beide ein leidenschaftliches Verhältnis zum Film haben und das hat auch unser Leben ausgemacht, dass wir alles gemeinsam gemacht haben und gemeinsam begeistert waren. Wir sind eben sehr verschieden und es ist immer interessant, wenn wir beide einen Film gesehen haben. Wir können uns wunderbar unterhalten, weil wir manchmal einen völlig verschiedenen Film gesehen haben.“
Erika Gregor
Erika und Ulrich Gregor blicken auf ein langes gemeinsames Leben zurück, das sie beide dem Film gewidmet haben. Sie waren in der Filmclubbewegung aktiv und gehörten zu den jungen Filmkritikern und Kulturschaffenden, die sich nach dem Krieg für eine Erneuerung der Filmkultur in Deutschland engagiert haben. Als Mitgründer der Freunde der deutschen Kinemathek (heute: Arsenal – Institut für Film und Videokunst) und des Internationalen Forums des Jungen Films (heute eine Sektion der Berlinale) in Berlin prägten sie die filmkulturelle Landschaft – hierzulande und auch weltweit. Als Cinephile mit einer gesellschaftspolitischen Haltung haben sie eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung des Films in Deutschland gespielt.
Über diese Arbeit haben wir sie im Juni 2012 in ihrem Haus in einer idyllischen ehemaligen Arbeitersiedlung in Berlin-Charlottenburg befragt. Das Gespräch dauerte mehrere Stunden und erschloss uns einen Schatz an persönlich erlebten Geschichten, die etwas über Kino, Geschichte und deutsche Filmkultur erzählen. Wir möchten an dieser Stelle von den Aspekten berichten, die uns in Bezug zur Filmvermittlung besonders aufschlussreich erscheinen.
Unser erstes Interesse galt der Rolle des Films in der Kindheit und den Filmen, mit denen beide aufgewachsen sind – um etwas über die prägenden Erfahrungen ihrer Generation, aber auch über das Bildende von Filmen zu erfahren. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Ehepartner, auf die Erika Gregor im Eingangszitat schon verweist, zeigen sich in einem ganz unterschiedlichen Weg zum Kino. Beide haben die Kriegszeit als Kinder erlebt und sind als Jugendliche in der britischen Besatzungszone aufgewachsen, dennoch berichten sie von ganz verschiedenen ‚Kinokindheiten‘. Während Ulrich Gregor sich bereits früh zu einem jungen Cinephilen entwickelt hat, der Filme nicht nur schauen, sondern auch von ihnen lesen und über sie schreiben wollte, hat Erika Gregor erst in der Studienzeit Film für sich entdeckt.
Dementsprechend zögert Erika Gregor, uns von den ersten Filmen zu erzählen, an die sie sich erinnern kann. Es waren zuerst Bücher, zu denen sie sich geflüchtet hat, vor einem strengen Elternhaus und vor dem Druck von nationalsozialistischen Jugendgruppen. Dennoch gibt es eine frühe Erinnerung an Film, die hängen geblieben ist:
„Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, 3000 Einwohner bis 1945, alles sehr protestantisch und alles sehr eng und man ging nicht ins Kino als Kind, außer am Sonntag. Ich weiß nicht, wie viele Filme ich gesehen habe, es gibt nur zwei, an die ich mich erinnere, das eine ist JUNGE ADLER (R: Alfred Weidenmann, D 1944) und das andere ist DER EWIGE JUDE (R: Fritz Hippler, D 1946).1 Letzterer ist ein schreckliches Machwerk und es ist über die Maßen schlimm, was die Nazis mit diesem Film gemacht haben. Aber ich hatte diese wahnsinnig strenge Erziehung. Man durfte kein Wort sagen und bei Tisch hatte ich ein Lineal im Rücken, damit ich aufrecht sitze. Es war alles sehr reglementiert. Und in diesem Film tauchen zwei, drei kleine Szenen auf – ich vermute, aus einem jiddischen Stummfilm –, wo die Leute nicht starr am Tisch sitzen, sondern ununterbrochen aufstehen, herumrennen, sich umarmen und offensichtlich sehr fröhlich sind. Meine stärkste Erinnerung an den Film ist, dass ich das gesehen habe und gedacht habe, so etwas gibt es, und eine Sehnsucht gehabt habe nach diesem Leben und nach solchen Leuten. Das war natürlich gänzlich gegen die Intentionen dieses Films und ich kann es mir auch heute überhaupt nicht erklären, aber damals war es eben so. Das Material sollte zeigen, dass sie wahnsinnig unordentlich sind und keine Disziplin haben. Aber ich, die ich an einem Übermaß an Disziplin litt, habe sozusagen eine Sehnsucht danach entwickelt, so leben zu können.“
Uns erscheint diese Erzählung sehr interessant, da sie zeigt, wie sich die jiddischen Filme offenbar der propagandistischen Vereinnahmung widersetzen und ‚gegen den Strich’ gelesen werden können. Auf unsere Nachfrage hin ergänzt Ulrich Gregor, der DER EWIGE JUDE erst nach 1945 gesehen hat und ihn „derartig plump“ fand, dass er seine Propagandawirkung nicht nachvollziehen konnte: „Das Material – aus jiddischen Unterhaltungsfilmen – wurde von den Nazis eingesetzt, als Propagandamaterial, weil es für die offenbar klar war, dass es nur abstoßend wirken kann. Und wenn wir später mit einem anderem Blick darauf sehen, dann sind die gleichen Szenen für uns ganz anziehend. Durch den Kontext und die eigene Haltung des Zuschauers wird die Wahrnehmung des Materials fundamental geändert.“
Als Jugendliche sah Erika Gregor nach dem Krieg in der britischen Besatzungszone vor allem Unterhaltungsfilme aus der Nazizeit und englische Abenteuerfilme, die Gainsborough Gothics. Sie schwärmte für Johannes Heesters. In den englischen Gruselfilmen faszinierte sie aber stärker als die Helden, für die sich ihre Freundinnen begeisterten, die von James Mason verkörperten schillernden Bösewichte. Diese Filme, an die sich auch Ulrich Gregor erinnern kann, standen in keinem Bezug zu der Wirklichkeit, in der sie sich bewegte und von der ihr aus dem Krieg heimgekehrte Soldaten berichteten. Nachhaltig Eindruck hinterlassen hat schließlich ein ganz anderer Film, DIE ZEIT MIT MONIKA (R: Ingmar Bergman, S 1953) von Ingmar Bergman, der mit seiner modernen, selbstbewußten und freizügigen Frauenfigur in den 1950er Jahren die Filmkunst revolutionierte: „Ich ging manchmal in die Mittwochs-Nachmittagsvorstellung in Diepholz und da erinnere ich mich an einen Film, der anders war als alle anderen, die ich jemals gesehen hatte, und ich war tief beeindruckt und fand den Film ganz großartig, konnte aber mit niemandem darüber sprechen, weil den Film niemand gesehen hatte. Das war, wie ich später, als ich ihn wiedersah, herausfand, DIE ZEIT MIT MONIKA von Ingmar Bergman. Ich war aufs Äußerste fasziniert und abgestoßen von diesem Mädchen. Es war mir alles fremd. Das Fremde hat mich immer angezogen.“
Die Faszination des Fremden, die Erika Gregors Erinnerungen an die wenigen, prägenden Filmerlebnisse als Kind und Jugendliche kennzeichnete, liegt auf unterschiedlichen Ebenen: in den anderen Lebenswelten und rebellischen Figuren, die Filme möglicherweise zeigen; aber auch in dem filmischen Material, das diese Fremdartigkeit – auch gegen eine deutende Vereinnahmung aufzeichnen kann. Später, nachdem sie als Studentin ihre Vorliebe für das französische Kino entdeckt hat, zeigt sich dies auch in ihrer Vorliebe für Jean Cocteaus und Jean-Pierre Melvilles DIE SCHRECKLICHEN KINDER (R: Jean Cocteaus / Jean-Pierre Melvilles, F 1950), von dem ihr das anarchistische Geschwisterpaar ebenso in Erinnerung geblieben ist wie ein schachbrettartiger Fußbodenbelag und die von dem Dekor erzeugte Atmosphäre.
Anders als seine Frau, die als Kind und Jugendliche nur gelegentlich und meistens allein ins Kino ging, hat Ulrich Gregor schon früh eine Vielzahl an Filmen gesehen, mit der Familie oder mit Freunden: „Da war irgendwie ein Interesse am Kino, am bewegten Bild und an der Kinosituation, dahinzugehen und in eine andere Welt einzutauchen, das hat einen schon hochgradig fasziniert.“ Als Kind sah er amerikanische Western, die bis zur Kriegserklärung noch in Deutschland gezeigt wurden, ebenso wie nationalsozialistische Propagandafilme wie OHM KRÜGER (R: Hans Steinhoff, D 1941): „Ich kann mich auch erinnern, dass ich nach solchen Sachen ein Gefühl des Schreckens hatte. Bei den Indianern dachte ich, die kommen jetzt bei uns zu Hause womöglich auch noch vor und bringen uns in Bedrängnis. So habe ich als Kind reagiert, ohne das, wie später natürlich, intellektuell zu bewältigen.“
Nach dem historischen und biografischen Einschnitt des Kriegs liefen in den Hamburger Kinos neben den deutschen Unterhaltungsfilmen auch amerikanische Filme, die zu Kriegszeiten verboten waren. Vor allem Slapstickfilme faszinierten ihn. „Ich sah auch Filme mit Laurel und Hardy. Ich fand dieses Kino ganz großartig. Es war das Slapstick-Element, die Verfolgung, die Überraschung, die Komik eben, die mich faszinierte.“ Diese affektive Begeisterung ging schnell in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Filmen über: „Die Chaplin-Filme kamen ins Kino und wir – meine Mutter oder meine Klassenkameraden und ich – haben die gesehen. Wir waren begeistert und haben lange darüber diskutiert. Ich glaube DER GROßE DIKTATOR (R: Charles Chaplin, USA 1940) sah ich zu einem relativ frühen Zeitpunkt. Das war ein Alter, wo man dann begann aufzuwachen, um sich zu schauen und nachzudenken.“
Die frühe Kinoliebe wurde begleitet von verschiedenen passeurs,2 von Anregungen aus der Familie, aber auch seitens eines Französischlehrers, der im Unterricht über Filme sprach, die gerade im Kino liefen. Ihm verdankte Ulrich Gregor nach eigener Aussage, die „ersten Kinoerlebnisse der seriösen Art“. Er lernte das französische Kino des poetischen Realismus – insbesondere DIE KINDER DES OLYMP (R: Marcel Carné, F 1945) und ORPHÉE (R: Jean Cocteau, F 1959) – und den italienischen Neorealismus kennen. Letzterer weckte das Interesse an einer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und gesellschaftspolitischen Fragen, das auch später sein Engagement für das Kino prägen sollte.
Auf die Frage nach dem, was ihn an diesen Filmen besonders fasziniert habe, antwortet er:
„Die soziale Komponente natürlich. Auf der einen Seite der Realismus, das Dokumentarische, das mich sofort begeistert hat. Irgendwie schien es mir, dass das Kino dazu da ist, einen dokumentarischen Blick auf die Welt zu werfen. Dann aber auch die soziale und politische Dimension. Denn man fing ja damals an nachzudenken und Fragen zu stellen: In was für einer Welt leben wir eigentlich, in was für einer Gesellschaft und was ist unsere deutsche Geschichte? Aber auch: Wie kann man die Welt in irgendeine Ordnung bringen, was für soziale Gegensätze gibt es? Und da war der italienische Realismus das, womit ich mich am ehesten identifizieren konnte.“
Das Interesse am Film, der Wunsch, sich mit und über Filme/n zu bilden, wurde zudem früh von einer Tante, die in der französischen Besatzungszone lebte, auch auf die Filmkritik gelenkt. Diese passeurin schickte ihm monatlich die Filmzeitschrift des Verbandes der deutschen Filmclubs, machte ihn mit Kritiken von André Bazin und mit George Sadouls Die Geschichte des Films bekannt: „Sadoul hat mich sehr beeindruckt, weil das der erste Versuch einer globalen Vision des Kinos war, bis hin zu entlegenen Territorien. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen, war das noch ziemlich lückenhaft, aber trotzdem – gemessen an dem, was ich damals kannte – hatte es zum ersten Mal jemand unternommen, in einem globalen Ansatz die ganze Kinematografie zu examinieren.“
Die Begeisterung für Filme und filmtheoretische Texte veranlasste Ulrich Gregor schon als Schüler dazu, selbst als Vermittler tätig zu werden. Er fing an, die nur in französischer Sprache vorliegenden Texte zu übersetzen und selbst zu schreiben. Seine Übersetzung von André Bazins Artikel „Das verfilmte Theater“ wurde im Filmforum abgedruckt. Es scheint nur folgerichtig, dass er mit seinem Studium in Hamburg auch begann, selbst Filme zu zeigen: „Als ich mit der Schule fertig und an der Uni war in Hamburg, da dachte ich, hier muss doch was mit Film geschehen. Und ich traf ein paar Leute, die hatten ähnliche Gedanken, und dann haben wir einen Filmclub gegründet an der Hamburger Universität. Ich weiß nicht mehr wie er hieß, aber ich weiß, dass ich damals mit einem 16mm-Projektor zu Gange war. Wir haben ihn in der Mensa aufgestellt und dort Veranstaltungen gemacht. Und die Filme haben wir von überall her zusammengeholt. Hamburg war britische Zone und die Engländer hatten eine Kulturorganisation, die auch mit Film operierte und da konnte man Filme kostenlos ausleihen.“
Ulrich Gregor schildert eine Bildungserfahrung durch und mit Filmen, die unseres Erachtens Ähnlichkeit mit Erfahrungen vieler männlicher Cinephiler seiner Generation, gerade im französischsprachigen Kontext, aufweist.3 Bemerkenswert ist insofern, dass für ihn, als Jugendlichen im Nachkriegsdeutschland der Einfluss der französischen Filmkritik und Cinephilie von zentraler Bedeutung war.
Wie andere deutsche Filmschaffende der Nachkriegsgenerationen – Enno Patalas, Wim Wenders oder Volker Schlöndorff – hat Ulrich Gregor seine cinephile Bildung in Frankreich und im Austausch mit der französischen Cinephilie erworben.Nicht die Universität mit dem gerade neugegründeten Institut de Filmologie – laut Gregor nur eine „virtuelle Konstruktion“– war das Ziel seiner Studienreise, sondern der Kinosaal der Cinémathèque Française, zu dieser Zeit eine Art alternative Hochschule der Pariser Cinephilen. Die Cinémathèque Française ermöglichte einen umfassendsten Einblick in die Vielfalt der Kinematografie. Ihr Leiter Henri Langlois war Pionier im Vermitteln des filmkulturellen Erbes: Dort wurden erstmals in großem Umfang Stummfilme, Retrospektiven, Kinematografien der verschiedensten Länder, aber auch zeitgenössische Filme nebeneinander gezeigt.
„Die Cinémathèque Française war ja so organisiert, dass man große Retrospektiven machte, die waren thematisch oder geografisch geordnet und ich weiß, dass z.B. das sowjetische Kino dort monatelang zelebriert wurde und es wurden alle wichtigen Filme gezeigt. Der erste Film, den ich überhaupt gesehen habe in der Cinémathèque française, damals noch in der Avenue de Messine, das war der Film DER MANTEL (R: Grigorij Kosinzew / Leonid Trauberg, UdSSR 1926) von Grigorij Kosinzew und Leonid Trauberg. Das war ein so starkes Erlebnis. Einmal, weil der Film an und für sich ja hochinteressant ist, es ist eine Gogol-Verfilmung mit sehr viel Atmosphäre, ein bisschen zauberhaft, aber auch satirisch. Aber es war auch ein starkes Erlebnis, überhaupt in dieses Gebäude zu gehen, in diesen Vorführsaal – ein ziemlich kleiner Saal – mit roten Plüschsesseln. Es waren auch eine Menge Leute drin.“
Wie viele andere junge Cinephile besuchte Ulrich Gregor mehrere Vorstellungen pro Tag, nachdem er mit Hilfe von Lotte Eisner einen Sondertarif von einem Centime pro Vorstellung ausgehandelt hatte. Die deutsch-jüdische Filmkritikerin und Historikerin Eisner, die nach ihrer Emigration nach Frankreich in der Cinémathèque Française arbeitete, spielte zu dieser Zeit eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung des deutschen Stummfilms in Frankreich, und auch für junge deutsche Filmschaffende, die oftmals erst über ihre Texte von einer deutschen Filmgeschichte vor 1933 erfuhren. Ulrich Gregor hatte die deutschen Stummfilme bereits zuvor in den Hamburger Filmclubs und über die Schriften Siegfried Kracauers kennengelernt.
Neben der Cinémathèque Française inspirierten ihn die Tagungen und die Publikationen der französischen Filmclubvereinigung, die sogenannten fiches analytiques, und die Filmkritik, bei der er von Anfang an mitarbeitete – als Auslandskorrespondent einer linksengagierten Zeitschrift Die andere Zeitung und als Redakteur der Zeitschrift Cinéma der französischen Filmclubbewegung. Ulrich Gregor schildert die zwei Lager, in die sich die französische Filmkritik damals teilte: „Im damaligen Paris war die Filmkultur ideologisch aufgespalten. Da gab es einen linken Flügel und das war die Zeitschrift Les lettres françaises, dazu gehörte auch der Filmhistoriker Georges Sadoul. Dort gab es viel über Film zu lesen, aber es war ziemlich ideologisch profiliert. Und dann gab es die Zeitschrift Arts und dort schrieb François Truffaut als junger Kritiker. Zwischen den beiden gab es eine ständige Auseinandersetzung und ich war mehr auf Seiten von Les lettres françaises.“
Die französische Kritik lieferte sich in den 1950er Jahren heftige Lagerkämpfe zwischen einer sehr einflussreichen linken Filmkritik, der Georges Sadoul angehörte, und einer ästhetischen, eher konservativ-katholischen Filmkritik, die André Bazin, später François Truffaut und die Redakteure der Cahiers du cinéma vertraten. Die Auseinandersetzungen betrafen die Deutungshoheit über die sowjetischen Filme der Stalinzeit und die amerikanischen Filme des klassischen Hollywoodkinos. Georges Sadoul setzte sich für das sowjetische Kino ein, insbesondere auch für die Filme der Stalin-Zeit, und polemisierte heftig gegen André Bazins Kritik, der den Stalinkult dieser Filme hervorragend scharf und mit schneidender Ironie analysierte.4
Sadouls Hymne auf DER FALL VON BERLIN (R: Michail Tschiaureli, UDSSR 1950) von Michail Tschiaureli weckte in Ulrich Gregor den dringenden Wunsch, diesen Film zu sehen, was nach der Stalin-Ära Jahrzehnte lang – selbst in Russland – nicht möglich war: „Dann waren dieser Film und auch DER SCHWUR (R: Michail Tschiaureli, UDSSR 1946), ein anderer berühmter Film von Tschiaureli, total von der Bildfläche verschwunden. Es gab eigentlich wenig Beispiele in der Weltkinematografie, wo Filme, die wie immer man sie beurteilen mag, doch wichtig sind, in der Weise total von der Bildfläche verschwinden und nirgendwo mehr gesehen werden können. Deswegen war ich immer begierig, den Film zu sehen, aber das dauerte tatsächlich bis zur Perestroika.“
Ein anderer Streitpunkt der französischen Filmkritik war das klassische Hollywoodkino, das von der kommunistischen Kritik aus ideologischen Gründen abgelehnt wurde und von der ästhetischen Kritik verteidigt wurde. Die Filme von Hitchcock, Hawks und anderen wurden von Truffaut und seinen Kollegen als Kunstwerke, ihre Regisseure als Autoren verehrt. Ulrich Gregor stand dieser Autorenpolitik eher skeptisch gegenüber: „Die Politik der Autoren, in dem Umfang, wie sie dort gepflegt wurde, konnte ich mir nicht wirklich zu eigen machen. Auch deswegen, weil es sich häufig um amerikanische Filme handelte und ich habe mich ehrlich gesagt damals nicht so stark für amerikanisches Kino interessiert. Gelegentlich habe ich auch solche Filme gesehen, ich hatte aber eine gewisse Distanz zu diesem Kino, die vielleicht politisch motiviert war, oder auch ästhetisch, weil ich mich schon damals stärker für Avantgarde, Experimental- und Dokumentarfilme, überhaupt alles Alternative und alles politisch Definierbare interessierte.“
Diesem Interesse für das unabhängige Kino, das sich der ideologischen Vereinnahmung entzieht, für das Politische, jenseits ideologischer Lagerbildungen, das sich hier bereits abzeichnet und quer zu den ideologischen Spaltungen der französischen Filmkritik stand, sollte die weitere Arbeit beider Gregors bestimmen.
Die Erfahrung der cinephilen Kultur in Frankreich inspirierte Ulrich Gregor, als er nach seiner Rückkehr in Deutschland die filmkulturelle Arbeit wiederaufnahm. Er engagierte sich für den Filmclub der FU Berlin und begann Filme, die er in Frankreich kennengelernt hatte, nach Deutschland zu holen: „DIE ERDE BEBT (R: Luchino Visconti, Italien 1948) und OSSESSIONE habe ich – wie PAISÀ (R: Roberto Rosselini, I 1946) – in Paris gesehen. Dann habe ich die Filme auch hierher gebracht. Damals hatten wir das Filmstudio an der Freien Universität. Sowie ich aus Paris zurück war, bin ich da eingestiegen und habe da alle meine Vorlieben eingebracht und die Kontakte, die ich hatte, ausgenutzt. Und dann haben wir uns für alles Osteuropäische interessiert, und insbesondere den sowjetischen Stummfilm.“ Gemeinsam mit Erika Gregor übersetzten sie Filmkultur im mehrfachem Sinne, indem sie die Filme ins Land holten, sie untertitelten, über sie schrieben – als Filmkritiker und -historiker.
Erika Gregor schildert die Anfänge dieser Arbeit: „Also am Filmstudio an der Freien Universität, da haben wir im Audimax gespielt. Da gingen 1.000 Leute rein und zwar jeden Mittwoch. Und da viel Geld einging – wir haben ja alle umsonst gearbeitet – konnte Ulrich eine komplette Jean Renoir-Retrospektive machen. Mit Kopien aus Frankreich, ohne Untertitel. Ulrich hat sie übersetzt. Wir hatten ja immer Zugriff auf den Schneidetisch der Publizisten. Ich habe die Nacht über Kaffee gekocht und ihn bei Kräften gehalten und er hat die ganze Nacht diesen Film auf dem Steenbeck immer wieder abgespielt, um jede Dialogzeile aufzuschreiben und sie zu übersetzen. BESTIE MENSCH (R: Jean Renoir, F 1938), das war unsere erste gemeinsame Arbeit. Ich glaube, sie dauerte bis 7 Uhr früh.“
Im Filmstudio wurden die Filme persönlich begleitet und in Anschluss diskutiert, so Ulrich Gregor: „Da wurde nie nur ein Film gezeigt, sondern es war jeweils eine Person, die dahinter stand, und die den Film mindestens eingeführt hat.“ Und häufig schloss sich eine Diskussion an die Filmvorführung an. Bei einer solchen Debatte haben sich Ulrich und Erika Gregor kennengelernt. Erika Gregors Erzählung führt plastisch die damalige Debattenkultur vor Augen: „Ich studierte in Göttingen Germanistik auf Lehramt, danach bin ich nach London gegangen, dann nach München und dann nach Berlin, weil Berlin politisch interessant war. Dann bin ich an einem Mittwochabend in das Filmstudio an der Freien Universität gegangen, weil ich nichts zu tun hatte. Es lief ein Film über Berlin, von dem ich gehört hatte: MENSCHEN AM SONNTAG (R: Curt und Robert Siodmak u.a., D 1930). Es gab eine Einführung, dass es ein ganz großartiger Film sei. Dann lief der Film und ich fand ihn ganz schlimm. Ich fand ihn menschenfeindlich und besonders frauenfeindlich. Ich habe, seit ich fünf Jahre war, erst nur geahnt, aber später gewusst, dass ich als Frau diskriminiert werde und zwar immerzu, und dass ich mich dagegen wehren muss. Und hier war wieder ein frauenfeindlicher Film und ich habe damals nichts laut gesagt, aber ich bin zu dieser Diskussion gegangen, die angekündigt war. Alle sprachen darüber, wie großartig dieser Film sei. Irgendwann habe ich dann doch aufgezeigt und gesagt, dass ich den Film nicht gut finde und dass er vor allen Dingen frauenfeindlich sei. Alle waren entsetzt und haben dagegen gesprochen. Es gab eine Debatte und ich habe versucht, mich so gut es geht zu verteidigen. Dann hörte es irgendwann auf, wir gingen alle die Treppe runter und unten standen zwei Männer, die das Filmstudio machten. Sie sagten, na, wie war es denn, und ich sagte, es war furchtbar, alle waren gegen mich. Und dann kam der dritte die Treppe runtergerannt und sagte: Ach, kommen Sie doch bitte wieder, wir hatten so eine lange Diskussion, im allgemeinen sind wir nach 20 Minuten fertig. Und ich sagte, ich komme hier nie wieder, wenn Sie solche Filme zeigen. Und dann haben die drei mich stundenlang beredet, dass am nächsten Mittwoch ein humanistischer Film läuft, ich solle doch wiederkommen. Ich habe die ganze Woche gezögert, dann dachte ich, na ja, ich kann ja noch einmal hingehen, und das war dann TONI (R: Jean Renoir, F 1935)von Renoir, ein ganz, ganz wunderbarer, großartiger Film.“
Der Filmclub war für die Gregors ein Ort der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit und über Filme. Das betraf – wie Erika Gregor hier ausführt – die Diskriminierung von Frauen ebenso wie den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Haltung zu den Ostblockstaaten im Kalten Krieg. Erika Gregor verdeutlicht dieses Anliegen an einem Schlüsselerlebnis während ihres Lehramtsstudiums in Berlin, das ihre Entscheidung für eine politisch-bildende Arbeit mit Filmen nachhaltig beeinflusste:
„Ich war so voller Ablehnung, auch Hass gegen mein Land und gegen die alten Nationalsozialisten, deren politischer Einfluss noch weiter andauerte. Ich dachte, man muss etwas tun gegen Vorurteile, man muss etwas tun gegen Antisemitismus, man muss einfach erziehen. Ich habe eine Zeitlang beim Filmstudio gearbeitet, aber dann dachte ich doch, ich mache mein Studium fertig und werde Lehrerin. Und da war ein Mädchen in einem meiner Seminare, die kam aus Baden-Württemberg und die war sehr gut und fleißig. Irgendwann kommt sie zu mir und sagte, ich habe Sie gesehen am Eingang vom Filmstudio. Und ich sagte, ja, da arbeite ich mit. Und dann sagt sie, ich muss Ihnen etwas erzählen. Ich gehe ja sonst nicht ins Kino, aber am Mittwoch bin ich mal gegangen. Als ich sah, dass sie einen Film aus der Sowjetunion zeigen, wollte ich sofort wieder weggehen, weil ich da alles hasse. Aber ich saß in der Mitte der Reihe und wollte die anderen nicht alle aufstehen lassen, also ich bin drin geblieben und habe diesen Film gesehen. Dann habe ich plötzlich gedacht, mein Gott, was ist diesen sowjetischen Kriegsgefangenen bei uns passiert. Ich habe die Russen gehasst, denn mein Vater ist im Krieg in Russland umgekommen. Dann habe ich die ganze Nacht nicht schlafen können, und ich hab plötzlich gedacht, es gibt auch Mädchen in Russland, die uns hassen, für das, was wir ihren Vätern angetan haben. Es kann doch nicht immer so weiter gehen, das wollte ich Ihnen nur sagen. Dann ging sie weg und das war plötzlich der Punkt, wo ich dachte, wenn es mir in meinem Leben nur zwei, drei Mal gelingt, einen Menschen von so was runterzubringen, dass er plötzlich etwas anders sieht, dann hat sich meine ganze Arbeit gelohnt. Das war der eine Punkt, der andere Punkt war, dass wir DER SCHREI (R: Michelangelo Antonioni, I 1957) von Michelangelo Antonioni gesehen haben, der für mich einer der größten Filme ist, die je gemacht wurden. Das ist die Geschichte eines Menschen, dem plötzlich die Welt auseinanderfällt. Diese beiden Punkte haben mich dazu veranlasst, dass ich gedacht habe, ich werde Ulrich helfen, dass wir weitermachen können.“
Erika Gregor unterstellt mit dieser kleinen biografischen Szene, dass Filme das Potential haben, den Blick Ihrer Zuschauer zu verändern und ein anderes Sehen und Denken zu ermöglichen – dass Filme Zuschauer ‚erziehen‘ können. Diese Unterstellung war zugleich die Hoffnung und Motivation ihrer gemeinsamen filmkulturellen und politischen Arbeit, wie sie etwas später sagt. „Ja, ich hab das immer gehofft und das ist auch einer der Gründe gewesen, warum wir sehr viel politische Filme und auch sehr viele Filme über die Judenvernichtung und die Politik in Europa zeigten." Motiviert durch die Liebe zu Filmen und den Glauben an deren bildendes Potential, war das Engagement der Gregors für sehr unterschiedliche, in Deutschland zu dieser Zeit noch nahezu unbekannte Filmkulturen von Anfang an ein Bildungsprojekt. Dies bestätigt auch Ulrich Gregor: „Ja, wir haben systematisch versucht, die Kinematografie des Ostens noch zu Zeiten des Kalten Krieges immer wieder zu zeigen und da insbesondere Sowjetunion, Polen und Ungarn, aber auch DDR. Bloß die DDR war sehr zögerlich und wollte nicht so recht mitmachen. Wir versuchten, solche Filme hierher zu bringen, um eben die Vorurteile abzubauen, um hier zu erfahren, was in diesen Ländern eigentlich vor sich geht. Vor allen Dingen auch die möglichen Veränderungen, die sich dort vielleicht anbahnen zu einem etwas anderen Stil, das genau ins Auge zu fassen, das interessierte uns besonders."
Die ideologiekritische Auseinandersetzung mit der deutschen Filmkultur ging Hand in Hand mit dem sichtbar Machen anderer Filmkulturen, die die von Heimat- und Unterhaltungsfilmen suggerierte Normalität im Nachkriegsdeutschland in Frage stellten. Es galt dabei auch gegen (Selbst-)Zensur und Denkverbote anzugehen, die sich besonders deutlich in dem offiziellen Protest Deutschlands gegen die Aufführung von NACHT UND NEBEL (R: Alain Resnai, F 1956), Alain Resnais Film über die Konzentrationslager, in Cannes 1956 zeigte. Bildungsarbeit hieß in diesem Sinne, ideologische, kulturelle oder auch sprachliche Grenzen zu überschreiten, durch Filmprojektionen das Fremde ‚heranzuholen’, was in Bezug auf die Arbeit mit den Filmkopien auch eine ganz konkrete, materielle Dimension hatte.
„In Deutschland herrschte im politischen Rahmen eine Kirchhofsruhe bis zu den 1960er Jahren; da passierte zu unserer Empörung überhaupt nichts. Nehmen wir zum Beispiel den Fall von Roberto Rossellinis ROM, OFFENE STADT (R: Roberto Rossellini, I 1945) über die deutsche Besetzung Roms. Das war ein wichtiger Film, der in Deutschland zunächst nicht herauskam, und dann schließlich – erst sehr viel später – mit einem entschuldigenden Vorspann und in einer gekürzten Version. Das empfand ich als ein unglaubliches Manko in unserer ganzen Kultur- und Filmsphäre. Man musste unbedingt dagegen protestieren und etwas tun, um das zu verändern.
Mit ROM, OFFENE STADT haben wir unglaubliche Dinge erlebt. Unsere Recherchen haben uns so weit geführt, dass wir aus Italien zu hören bekamen, das Negativ des Films sei nach Deutschland gegangen. Irgendeine deutsche Firma hätte das angekauft. Und daraufhin ist das ganze Ausgangsmaterial dieses wichtigen Films nach Deutschland gebracht worden. Dann haben wir schließlich in Berlin eine ganz kleine Filmfirma aufgespürt, die aus unbekannten Gründen im Besitz dieses Negativs war. Wir haben von diesem Negativ eine 35mm-Kopie herstellen lassen, in der Überzeugung, nun endlich den authentischen Film zu haben. Und was sehen wir: auch in dieser Kopie sind alle Schnitte wieder drin, d.h. dass im Negativ geschnitten wurde. Ein anderes Negativ war nicht zu finden. Wir waren perplex und wollten zumindest dieses Negativ irgendwie retten.“ Was ihnen dann auch mit Hilfe aus Hamburg gelang. Doch bis heute ist es nach Ulrich Gregor so, „dass es von ROM, OFFENE STADT in technischer Hinsicht keine richtig gute Kopie gibt, sondern es ist alles zusammengeflickt und der Ton ist schlecht.“
Neben dem Transportieren, Bewahren und Zeigen von Filmen war auch das Schreiben über Filme ein wichtiger Bestandteil ihrer gemeinsamen Arbeit. Ulrich Gregor war als Filmkritiker tätig, insbesondere in der 1957 gegründeten Zeitschrift Filmkritik. Die Filmkritik, für die u.a. Enno Patalas, Frieda Grafe, Hartmut Bitomsky, Wim Wenders, Harun Farocki schrieben, widmete sich der theoretischen Reflexion von Filmen in ihren historischen und gesellschaftlichen Kontexten und übersetzte wichtige filmtheoretische Texte, beispielsweise aus den Cahiers du cinéma. Ähnlich wie die französischen Filmzeitschriften nahm sie – zu einer Zeit, als die Filmwissenschaft noch nicht etabliert war –, die Rolle, Film als Medium der Erkenntnis zu reflektieren. Die internationale Vermittlung von Filmkultur über Sprachgrenzen hinweg fand zudem ihren Niederschlag in Ulrich Gregors Arbeit für ausländische Zeitschriften, wie Cinema Nuovo (Italien) oder Cinéma (Frankreich).
Wie bereits oben erwähnt, war dieses Schreiben über Film aber weniger durch eine radikale Autorenpolitik bestimmt – die die französische Kritik dieser Zeit dominierte –, sondern vielmehr von einer ideologiekritischen Perspektive. Beeinflusst von Siegfried Kracauers Filmtheorie bemühte er sich um eine gesellschaftliche, historische und ökonomische Kontextualisierung der Filme. Nicht die Bewertung von Filmen, sondern ihre Verteidigung war das Anliegen, wie es Ulrich Gregor in Bezug auf ein Gespräch mit Alain Resnais beschreibt: „Alain Resnais sagte, ich verteidige diesen Film. Und das fand ich sehr schön, wie er das vorsichtig sagte: Ich verteidige diesen Film. Das kann man nämlich häufig sagen. Wenn man einen Film nicht so einfach als ‚gut oder schlecht‘ bestimmen kann, sondern seine Haltung ein bisschen begründen muss.“
Dieser schriftlich-publizierenden Form der Filmvermittlung war dann auch eine intensive Zeit Anfang der 1960er Jahre gewidmet. Ein wichtiges Projekt war das Verfassen einer Geschichte des Films gemeinsam mit Enno Patalas, in dem Gregor unter anderem über das ‚verschwundene’ sowjetische Kino schrieb. Erika und Ulrich Gregor unterbrachen dafür ihre Arbeit im Filmstudio, um sie ab 1963 in größerer Dimension wiederaufzunehmen.
Der Regisseur Gerhard Lamprecht verkaufte zu dieser Zeit seine private Filmsammlung nach längeren Verhandlungen an das Land Berlin und es wurde die Deutsche Kinemathek in Berlin gegründet. Ulrich Gregor erinnert sich an die euphorische Stimmung, die mit der Gründung der Kinemathek verbunden war:
„Wir fanden das alle ganz toll und dachten, vielleicht wird jetzt in Deutschland, in Berlin etwas sehr Wichtiges losgehen. Mit diesen vielen Filmen kann man ja wunderbare Dinge machen. Und so sind wir damals zu Lamprecht gegangen, ich zusammen mit Gero Gandert, und haben ihm vorgeschlagen, ob er nicht mit unserer Hilfe ein Programm der öffentlichen Arbeit mit diesen Filmen entwickeln könne. Und er hat gesagt, das kann er nicht und will er nicht, weil er kein Personal dazu hat und es seine Aufgabe ist, die Filmkopien zu pflegen und zu erhalten. Daraufhin haben wir beschlossen, diese Arbeit selber zu machen. Wir haben einen Verein gegründet mit dem Namen Freunde der deutschen Kinemathek, damit die Filmbestände, die dort vorhanden waren, zusammen mit anderen Filmen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Wir haben begonnen, als Verein Abendveranstaltungen in der Akademie der Künste zu machen, zunächst im monatlichen Rhythmus und das war ganz erfolgreich.“
Von den ersten Veranstaltungen wurde ein weites Programmspektrum aufgespannt von klassischem Film, zeitgenössischem deutschen Kino über das Weltkino bis hin zu sogenannten Underground- und Experimentalfilmen, so Ulrich Gregor: „Die erste Vorstellung, die war am 25. Mai 1963, bestand im ersten Teil aus DAS WACHSFIGURENKABINETT (R: Paul Leni / Leo Birinski, D 1924), also Filmgeschichte aus den 1920er Jahren, und im zweiten Teil liefen die Oberhausener Filme. Die zweite Vorstellung, das war schon der Film eines Emigranten, ein Film von Wilhelm Dieterle über Juarez. In der dritten Veranstaltung lief ein Film aus der so genannten Dritten Welt. Und in der vierten bis elften Vorstellung zeigten wir unabhängiges Kino aus den USA.“
Nach circa sieben Jahren regelmäßiger Film- und Diskussionsveranstaltungen an verschiedenen Orten Berlins eröffneten die Freunde der deutschen Kinemathek e.V. dann am 3. Januar 1970 mit dem Kino Arsenal – damals noch in der Welserstr. 25 – ihre eigenes Lichtspielhaus. Das Arsenal-Programm orientierte sich an den filmhistorischen Programmen der bestehenden Kinematheken in Paris, Brüssel oder London, legte aber gleichzeitig größten Wert auf einen hohen Anteil an zeitgenössischen, unabhängigen oder politischen Filmen, Filmen von Frauen und experimentellen Arbeiten. Ulrich Gregor fasst das Programmkonzept des Arsenal-Kinos folgendermaßen zusammen:
„Ja, das war unsere Formel: dass wir das Alte mit dem Neuen kombinieren oder kontrastieren. Von Anfang an haben wir die Programme so aufgezogen, dass da ein Klassiker war und etwas anderes, meistens zeitgenössisches, modernes, experimentelles oder politisches. Diese Doppelgleisigkeit war von Anfang an unsere Intention und die haben wir dann auch ab 1970, da gab es das Arsenal-Kino, fortgeführt. Nicht in einer einzigen Vorstellung natürlich, aber wenn man das Programm als Gesamtheit sah, dann war das schon so, dass eben die Bildungsarbeit – eigentlich verstehen wir uns durchaus als Bildungsinstitution – parallel lief zur Reflexion des aktuellen Kinos. Zudem war uns die Herstellung von Kontakten zwischen Filmemachern und Zuschauern wichtig, um ein Gespräch, einen Diskurs zu führen.“5
Mit diesem Konzept und einigen sich wiederholenden Filmprogrammen hat sich das Arsenal über die Jahre ein ganz bestimmtes Stammpublikum gebildet, das auch von weit anreist: „Wir zeigen beispielweise seit Jahren im August immer Tarkowski-Filme und inzwischen hat sich das so herumgesprochen, dass man sagt: ‚Im Arsenal läuft Tarkowski, also muss es August sein‘. Oder, dass Leute auch aus weit entfernten Orten schreiben, ob es auch wirklich wieder stattfindet, sie würden speziell dafür nach Berlin kommen.“
Die oben schon angesprochene historische und politische Kontextualisierung der Filme und ihre Diskussion spielen in ihrer Arbeit bis heute eine wichtige Rolle. Es ist für beide von großer Bedeutung, dass die Filme bzw. Programme von einer Person verantwortet und begleitet werden, „die einführt, in einen Kontext bringt, diskutiert“. Das Filmgespräch wird dabei von den Gregors nicht als eine ‚Distanzwaffe‘ gegen die Filmerfahrung eingesetzt, sondern wird ganz im Gegenteil als Ergänzung oder Erweiterung eines leidenschaftlichen Verhältnisses zu den Filmen verstanden, die soziokulturell und individuell-biografisch gerahmt je anders erfahren werden. Gerade individuelle Differenzen, die in der persönlichen Erfahrung der Filme hervortreten, regen zum Gespräch, zum Austausch an.
Dieser Haltung gegenüber dem Film mag es auch geschuldet sein, dass die Gregors und ihre Mitarbeiter im Arsenal-Kino immer wieder solche Filme zeigten, die das konventionalisierte Sehen von Film herausfordern, Filme, die keine Gebrauchsanweisungen für das Sehen und Verketten ihrer Bilder und Töne mitliefern oder gar auf andere filmische Formen reflektieren. Diese Entscheidung ist nicht immer ohne Zweifel geblieben, schildert Ulrich Gregor:
„Wir haben manchmal auch gedacht, dass wir eigentlich nur Filme für unsere Freunde zeigen, die sich z.B. für Experimentalfilme interessieren. Denn manchmal sind diese Filme sehr schwierig und sie sprechen auch nur einen relativ kleinen Interessentenkreis an. Wir haben es aber trotzdem gemacht und haben solche Filme gezeigt wie beispielsweise Ken Jacobs’ TOM TOM, THE PIPER'S SON (R: Ken Jacobs, USA 1969), einen Film, der die Leute möglicherweise aus dem Kino treibt.“ Doch die eigene Begeisterung für die filmischen Experimente mit dem Film selbst und seiner Erfahrung überwog und so ergänzt er: „Wir sind aber dabei geblieben, solche extremen Filme, wo es im Wesentlichen um die filmische Form, um die ‚Natur des Kinos‘ geht, zu zeigen, auch wenn nur ganz wenige Leute kommen.“
Wie Ulrich Gregor schon betonte, hat sich das Arsenal-Kino als eine Bildungsinstitution verstanden und so wundert es nicht, dass es immer wieder konkrete Kooperationen mit anderen Bildungsinstitutionen gab. Erika Gregor erinnert sich, dass sie in den 1970er Jahren mit Freunden und Kollegen aus der Museumspädagogik oft darüber sprach, wie man Kinder stärker in die Filmvermittlung einbeziehen könnte:
„Meine beste Freundin in Ostberlin, die in den 1970er Jahren die Museumspädagogik bei den Staatlichen Museen aufbaute, und ich haben oft über Vermittlungsfragen diskutiert, insbesondere darüber, wie man die Kinder einbezieht. Und ich kann nur sagen, das Beste ist immer ein persönliches Beispiel. Man sollte sich als Vermittler seinen Lieblingsfilm aussuchen und darüber sprechen: warum ist dieser Film mein Lieblingsfilm? Es eben ganz persönlich machen und dann hoffen, dass es bei den Kindern Spuren hinterlässt, dass die hinterher sagen: ‚Ja, das könnte auch mein Lieblingsfilm werden‘.“
Dieser persönliche, biografische Bezug zu Filmen ist den Gregors sehr wichtig und er ist nicht nur in die generelle Ausrichtung des Arsenal-Programms eingeflossen, sondern er zeigte sich auch in Kooperationen mit Schulen und Lehrern. Erika Gregor berichtet von einem regen Kontakt mit Berliner Schulen, der ebenfalls in den 1970er Jahren begann:
„Wir wurden sehr oft von Schulen angesprochen, dass die kommen wollen. Und wir hatten ja eine Grundschule bei uns gegenüber, da hatten wir Kontakt zu den Lehrern, die mit ihren Klassen ab und an zu uns kamen. Und irgendwann las ich mal im Tagesspiegel, dass der Bildungsstadtrat von Charlottenburg beschlossen hat, dass die Kinder in den Schulen jetzt alle drei Strophen des Deutschlandliedes lernen müssen. Ich war so empört, dass ich gesagt habe, wir machen ein kritisches Filmprogramm zur deutschen Geschichte. Und wir haben dann auch ein großes Programm gemacht: Wir haben alle möglichen Filme gezeigt über die Verbrechen der Nazis und wir hatten oben ganz groß auf dem Programm dieses berühmte Bild, wo ein deutscher Soldat eine Frau mit einem Kind auf dem Arm erschießt. Und einige Leute sagten uns, dass das Ärger geben wird. Und was passierte stattdessen? Viele Lehrer kamen zu uns ins Büro und sagten, sie möchten mit ihrer Schulklasse kommen.
Das war eines meiner größten Erlebnisse, diese vielen Leute. Und ich habe daraus gelernt: Man muss das tun, was man für richtig hält und plötzlich kommen die Leute, die zu einem stehen.“
Auch in dieser biografischen Erzählung zeigt sich wieder die die Filmvermittlung der Gregors auszeichnende Geste: Ausgehend von einer persönlichen Erfahrung werden Filme programmiert und gezeigt, um darüber eine politische Haltung zu vermitteln und über die gezeigten Filme mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Filmvermittlung ist ein soziales Geschehen, das von einer Begegnung mit Filmen in je unterschiedlichen Kontexten (biographisch, film/geschichtlich, politisch, etc.) öffentlich berichtet, in der Hoffnung, dass diese Filme auch andere Menschen berühren, begeistern – sie vielleicht sogar zum Nach- und Umdenken bewegen.6 Filme lassen sich in dieser Perspektive – egal welchem Genre man sie zuordnen will – als Dokumente verstehen, die gesellschaftliche Erfahrung in verdichteter Form zur Darstellung bringen. Diese Erfahrungen lassen sich im Kino teilen, oft auf sehr leidenschaftliche Art und Weise. Nach den Filmen kann man über die geteilten Film-Erfahrungen im Kino sprechen oder schreiben – und das geht am besten, vielleicht sogar am fruchtbarsten, wie wir von Erika und Ulrich Gregor wissen, wenn man nicht einer Meinung ist.
Noch etwas wurde für uns im Gespräch mit Erika und Ulrich Gregor deutlich: die Praxen der Filmvermittlung sind umfangreich – und sie führen weit über das spezifische film- bzw. medienpädagogische Handlungsfeld hinaus. Sie reichen von der Sammlung, Instandhaltung über den Vertrieb, die Programmierung und Aufführung von Filmen bis hin zum Schreiben über sie.
All das als filmvermittelnde Tätigkeiten zu beschreiben, ist möglicherweise nicht für jeden unmittelbar einleuchtend, da dieses weite Verständnis von Vermittlung bereits etablierte disziplinäre Grenzen durchkreuzt. Aber es provoziert gleichsam neue und genauere Beschreibungen der jeweiligen Praxen der Filmvermittlung und ihrer impliziten Bildungskonzeptionen. In dieser performativen Perspektive auf Vermittlung ist die Qualität von filmvermittelnden Praxen und Institutionen nicht abhängig von einer fachdisziplinären Zugehörigkeit oder von bildungspolitischen Labels wie beispielsweise „Medienkompetenz“ oder „Nachhaltigkeit“, sondern vielmehr von deren je singulären pädagogischen und/oder politischen Ausrichtungen und Kontextualisierungen. So können dann auch Kinobetreiber, wie wir am Beispiel der Gregors sehen, zu eminent wichtigen Filmvermittlern werden, sofern all ihre Tätigkeiten auf ein gemeinsames politisches Ziel ausgerichtet sind: mit und durch Film ein Bewusstsein für die unterschiedlichsten, vor allem die marginalisierten oder verdrängten Filmkulturen zu schaffen, das diese wahrnimmt, kritisch diskutiert und vor dem Hintergrund der Film/Geschichte einordnet. Um diese nun schon weit über ein halbes Jahrhundert andauernde Arbeit mit einem immer noch spürbaren Enthusiasmus durchführen zu können, bedarf es sicherlich großer Ausdauer, guter und vieler Freunde und Helfer, aber vor allem einer Neugier und Offenheit gegenüber dem Fremden und Unbekannten, das sich möglicherweise im nächsten Film, einer Diskussion oder einer Begegnung zeigen kann.
de Baecque, Antione (2003) La cinéphilie. Invention d’un regard, histoire d’une culture 1944-1968. Paris: Hachette.
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