Der Vergleich von Filmausschnitten und Bildern als Vermittlungsmethode
„Bildung ist nichts anderes als die Fähigkeit, das Gemälde oder den Film, die man gerade sieht, oder das Buch, das man gerade liest, zu anderen Gemälden, Filmen und Büchern in Beziehung zu setzen.”1
Film ist ein audiovisuelles Medium, das aus Fragmenten zusammengesetzt ist: Einzelbilder verschmelzen durch eine Wahrnehmungstäuschung oder durch digitale Algorithmen zum Bewegungsbild. Einstellungen werden miteinander zu Szenen oder assoziativen Mustern montiert und Tonspuren klingen mit Bewegtbildern zusammen. Es liegt also nahe, sich dieses Medium vom Fragment her zu erschließen. Wie Malte Hagener in seinem Beitrag zu dieser Ausgabe aufzeigt, ist die Analyse und der Vergleich von Filmausschnitten eine seit der Frühzeit des Films praktizierte Vermittlungsmethode.2 Wenn Alain Bergala die Methode „Fragmente-in-Beziehung-setzen“ in Kino als Kunst für den Schulunterricht vorschlägt, dann schließt er an diese cinephile Praxis ebenso wie an ein intertextuelles Verständnis von Kultur und Bildung an, demzufolge jeder Text und jedes Bild nur in Bezug zu anderen Texten und Bildern verstanden werden kann. Diese Vorstellung von Kultur als einem intertextuellen Netzwerk, die bereits in den poststrukturalistischen Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts formuliert wurde, hat in den hypertextuellen Strukturen der neuen Medien DVD und Internet seine mediale Verwirklichung gefunden. Die Rezeption und das In-Beziehung-Setzen von Bildern, Text- und Filmfragmenten ist zu einer medialen Alltagspraxis geworden, die insbesondere die Medienerfahrung jüngerer Generationen prägt.
An anderer Stelle bin ich bereits ausführlich auf die theoretischen Grundlagen dieser Vermittlungsmethode eingegangen.3 Hier möchte ich nun ihr Potential am Beispiel von Stadtbildern in Film und Kunst veranschaulichen. Einerseits soll es darum gehen, wie diese Methode im Unterricht eingesetzt werden kann: Wie können Filmausschnitte, Bilder und Texte zusammengestellt werden? Welche Fragen können dabei verfolgt, welche Aspekte analysiert werden? Andererseits möchte ich exemplarisch aufzeigen, was diese Herangehensweise ‚leisten‘ kann: indem sie die enge Verzahnung von Form und Inhalt vermittelt, kulturgeschichtliche Zusammenhänge offenlegt oder als Einführung in den filmischen Produktionsprozess fungiert. Im Zentrum stehen Ausschnitte aus den Filmen MENSCHEN AM SONNTAG (R: Curt Siodmak, Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Fred Zinnemann, Deutschland 1929), GESCHWISTER - KARDESLER (R: Thomas Arslan, D 1997) und ABOUNA (R: Mahamet Saleh-Haroun, F / TSA / Nl 2002), die alle drei auf unterschiedliche Weise Fiktion und Realität ins Spiel bringen. Diese Wahl ist pragmatisch bedingt, da sie sich auf die Arbeit mit einer Schulklasse im Rahmen des Projekts Jugend filmt! – Le cinéma, cent ans de jeunesse 2011/2012 stützt.4 Zugleich hat die Frage, wie das Medium Film Wirklichkeit aufgreift, abbildet oder konstruiert, ihre Aktualität seit Beginn der Filmgeschichte nicht verloren und ist gerade für Bildungskontexte relevant.
Der Vergleich von Filmausschnitten kann unter inhaltlichen oder formalen Gesichtspunkten erfolgen. Besonders naheliegend ist es, Filmausschnitte zu wählen, die die gleichen Gegenstände, Situationen, Themen oder Motive zeigen, deren ‚Inhalte’ sich ähneln. Denn damit kann an konkrete Dinge und Handlungsräume angeknüpft werden, um von dort aus zu Fragen nach der formalen Gestaltung vorzustoßen. In dem genannten Projekt mit Berliner Schülern verglichen wir Filmausschnitte zum Thema „Stadt als Schauplatz“: unter anderem die Eingangssequenzen von MENSCHEN AM SONNTAG und GESCHWISTER.5 Mit dieser Wahl schlossen wir an die Erfahrungswelt der Neuköllner Schüler/innen an, die die in GESCHWISTER gezeigte S-Bahn-Station Berlin-Kottbusser Tor sofort als Teil ihrer alltäglichen Umgebung erkannten, und konfrontierten sie zugleich mit einem Berlin, das es nicht mehr gibt.
Die Erforschung der Filmausschnitte kann sich dabei auf das Thema und auf das Medium richten: Was zeigen uns die Filme von der Stadt und wie zeigen sie uns die Stadt, welche Bilder der Stadt und welches Gefühl großstädtischen Lebens vermitteln sie? Und wie korrespondiert dies möglicherweise mit meinen eigenen Stadterfahrungen und Bildern, oder mit den Stadtbildern in anderen Medien? Was erfahren wir dabei über das Medium Film: über verschiedene Möglichkeiten und ästhetischen Strategien eine Stadt zu zeigen, Figuren in einer großstädtischen Umgebung zu inszenieren? Gerade die zweite Frage wird durch die Wahl zweier Filmausschnitte begünstigt, die filmgeschichtlich weit auseinanderliegen und ästhetisch sehr unterschiedlich sind.
Zum Einstieg können beide Filmausschnitte direkt hintereinander angeschaut und danach verglichen werden. Auffallen werden einerseits die inhaltlichen Parallelen:6 Beide Filme zeigen die Bewegung von Figuren durch die Stadt, die am Ende in die Begegnung eines Mannes und einer Frau mündet. Sie zeigen S-Bahnstationen, Kioske, Verkehr, Passanten. Andererseits springen die Unterschiede in der Darstellung ins Auge: Stadt, Gebäude, Fahrzeuge und Menschen sehen – zeitbedingt – anders aus. MENSCHEN AM SONNTAG ist s/w, GESCHWISTER in Farbe. Die Tonebene von MENSCHEN AM SONNTAG besteht nur aus einer asynchronen, euphorisch-beschwingten Orchestermusik, während in GESCHWISTER ein Rapsong am Anfang (asynchron über dem Vorspann) von einer ‚realistischen’ Tonspur aus Stadtgeräuschen und Gesprächen der Figuren abgelöst wird. Die Distanz, die die Stummfilmästhetik zu dem Berlin in MENSCHEN AM SONNTAG herstellt, wird dabei durch Kamera und Schnitt konterkariert. In schneller Folge zeigt der Ausschnitt verschiedene Perspektiven auf Stadt und Figuren, wobei sich die Kamera förmlich von der Bewegung des Verkehrs mitreißen läßt. GESCHWISTER verfolgt dagegen in langen Einstellungen den Weg der jugendlichen Hauptfigur durch die Stadt, die Kamera hält sich strikt an die Bewegungen der Figur oder wartet mit ihr. Der Eindruck von Statik und Langsamkeit in GESCHWISTER kontrastiert mit dem Eindruck von Dynamik und Beschleunigung in MENSCHEN AM SONNTAG. Im ersten Fall ist der Zuschauer ein Beobachter, der die Figur ‚auf Augenhöhe’ durch die Stadt zu begleiten scheint. Im zweiten Fall ist der Zuschauer überall und ‚mittendrin’ zugleich, er erfährt die Dynamik und Unübersichtlichkeit der Großstadt wie am eigenen Leib. Ein Schüler hat dazu geäußert, dass er MENSCHEN AM SONNTAG als den moderneren Film empfindet – offenbar weil dessen Schnitttechnik eher den heutigen Sehgewohnheiten entspricht. Dies ist ein schöner Beleg dafür, dass die Zuschauererfahrung weniger von der Aktualität des dargestellten Inhalts, als von der Art und Weise der Darstellung abhängt. Realität zeigt sich hier auf verschiedenen Ebenen: die Realität, die aufgezeichnet wird, und die Realität, die der Zuschauer empfindet.
Um die Analyse zu vertiefen, können gezielt Fragen verfolgt werden: Wie wird die Stadt dargestellt: Was sieht man von ihr und was nicht? Wie wird die Figur in der Stadt gezeigt: Wie wird ihr Weg durch die Stadt verfolgt? Was steht eigentlich im Zentrum der Szene: Was ist nah und was ist fern?
Wie bereits angesprochen, ist die Szene in GESCHWISTER auf die Figur fokussiert: Der Jugendliche im Rapper Outfit ist in jeder Einstellung (außer der ersten, die ein Panorama der Stadt zeigt) zu sehen. Seine lässigen Bewegungen charakterisieren ihn und erschließen den Stadtraum für unseren Blick: Wir sehen, wie er Straßen entlangläuft, in eine S-Bahn einsteigt, am Kiosk einkauft und schließlich im Schulhof auf seine Freundin trifft. Die Kamera nähert sich ihm bis zur Großaufnahme und auf der Tonebene teilen wir (zumindest kurzzeitig) seine akustische Wahrnehmung – wenn wir ihn in der S-Bahn dabei beobachten, wie er dem Dialog anderer Passagiere lauscht. Die Sprechenden selbst sehen wir nicht, sie bleiben im Off, ebenso wie die Stadt in dieser Szene zu einem großen Teil im Off bleibt: wir sehen immer nur den Raum, der den Jugendlichen unmittelbar umgibt und der doch charakteristisch ist: den Sockel der mit Graffiti besprühten Kreuzberger Hauswände, Ausschnitte von Autos, die vorbeifahren, Passanten, an denen er vorbeigeht oder die kaputte Glasscheibe der S-Bahnstation Kottbusser Tor, vor der er wartet.
Im Gegensatz dazu bleibt die Kamera in MENSCHEN AM SONNTAG auf Distanz zu den Figuren. Sie zeigt den jungen Mann in Knickerbockern und die junge Frau mit dem Bubikopf in flüchtigen, wie aus dem städtischen Treiben erhaschten Momentaufnahmen: meist in totalen und halbtotalen Einstellungen umgeben von Verkehr, in näheren Einstellungen schräg von hinten oder der Seite. Vielzählige Aufsichten suggerieren uns eine übergeordnete Perspektive, es geht nicht nur um das Individuum, sondern ums Ganze. Dem entspricht auch die größere Autonomie der Kamera gegenüber den Figuren: Immer wieder verlieren wir diese aus den Augen, entweder, weil andere Ausschnitte der Stadt gezeigt werden, oder weil sich Passanten und Fahrzeuge dazwischen schieben. Besonders deutlich wird dies in der Darstellung der Begegnung von Mann und Frau, auf die die Szene unaufhaltsam hinsteuert. Im Wechsel mit anderen Stadtansichten sehen wir aus verschiedenen Perspektiven, wie der Mann die Frau‚7 umkreist’ – eine alternierende Montage, die wie Raymond Bellour ausgeführt hat‚ zu einem „Anhalten der Zeit, innerhalb einer Welt der Bewegung“ führt.8 Der Moment des Kennenlernens selbst wird jedoch durch eine Straßenbahn verdeckt, die kurz zuvor ins Bild fährt – eine effektvolle dramaturgische Zäsur: Der fiktive Moment wird von einem realen Ereignis verdeckt. Wir sehen nur das Davor und das Danach, wenn die beiden Figuren gemeinsam weggehen.
Während GESCHWISTER die Perspektive also gezielt auf die Figur und ihr unmittelbares Umfeld richtet, scheint MENSCHEN AM SONNTAG die Stadt als Ganzes in den Blick zu nehmen. Zwar zeigt auch GESCHWISTER die Stadt zu Beginn in einer minutenlange fixen Einstellung, über die der Vorspann des Films läuft. Aber dieses seltsam in den Himmel verschobene Panorama hält uns auf Distanz zum Schauplatz des Geschehens, es bietet keinen Überblick (wie üblicherweise ein Establishing Shot). Der in deutsch und türkisch geschriebene Titel GESCHWISTER - KARDESLER und der unterlegte Rapsong grenzen die Perspektive bereits hier auf ein bestimmtes soziokulturelles Milieu ein. Wenn wir daraufhin in der zweiten Einstellung die Hauptfigur auf Augenhöhe mit links und rechts angeschnittenen Gebäuden sehen und der Blick nicht mehr auf ‚das Ganze’ freigegeben wird, verdeutlich dies, dass wir nur um den Preis einer Eingrenzung des Blicks ‚genauer’ Hinschauen können; dass wir hier ‚nur’ einen Ausschnitt der Wirklichkeit, eine individuelle Geschichte sehen werden. Die Montage von MENSCHEN AM SONNTAG erzeugt dagegen ein Spannungsverhältnis zwischen Distanz und Nähe, zwischen Dynamik und Stillstand, zwischen Dokument der Stadt und Fiktion: Die Vielperspektivik und die häufigen Aufsichten erwecken den Eindruck die Stadt ‚in allen ihren Facetten’ wahrzunehmen oder aus den Augen der Stadt auf die Protagonisten zu schauen. Die schnelle Schnittfolge und rasche, unvorhersehbaren Bewegungen vermitteln das Gefühl ‚mitten’ im Verkehr zu sein, den gewonnenen Überblick immer wieder zu verlieren. Zugleich umkreist die Kamera die Figuren, ähnlich wie der Mann die Frau umkreist, so als wolle sie zufällig Passanten aus der Menge herausgreifen, als wolle sie die Einzelnen als beliebige Stellvertreter des Ganzen verfolgen. Dem entspricht der Zwischentitel, der – nachdem zuvor bereits die fünf Hauptfiguren vorstellt wurden – in dieser Szene die Stadt selbst als Protagonisten einführt: Berlin. Ein Sonnabend.9
Im Vergleich dieser beiden Szenen vermitteln sich somit induktiv unterschiedliche Formen der Darstellung von Großstadt, der Beziehung von Fiktion und Realem im Film sowie der Einbindung der Zuschauer durch filmische Mittel. Diese Beobachtungen können weiterführend kontextualisiert werden: mit den ganzen Filmen, den Wirklichkeiten, die sie repräsentieren, der Film- und Kulturgeschichte.
Die herausgestellten ästhetischen Merkmale sind für die Anlage und Grundhaltung beider Filme charakteristisch. Der Spielfilm GESCHWISTER erzählt aus dem Alltag von Geschwistern einer deutsch-türkischen Familie in Berlin-Kreuzberg in den 1990er Jahren. Im Zentrum steht die Bewegung der Figuren, die einen Raum erschließt und zugleich auch eine innere Bewegung ist: „Gebannt schaut man Arslans Heldinnen und Helden zu, wie sie eigentlich nichts Besonderes tun. Tatsächlich bewegen sie sich nur von hier nach dort. Oft zu Fuß, manchmal mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf ihren Wegen und Gängen entsteht ganz nebenbei eine soziokulturelle Landkarte ihres Stadtteils – meist Berlin-Kreuzberg – und das aufschlussreiche Panorama einer Daseinsform, die sich aus Slangs, Codes, sowie kleinen, aber vielsagenden Verrichtungen und Gewohnheiten zusammensetzt. In Arslans Kino wird jeder Gang zum Ereignis, kommt man mit jedem Schritt den Figuren näher.“10
Der semidokumentarische Film MENSCHEN AM SONNTAG montiert dagegen die fiktiven Erlebnisse von fünf Berlinern – zwei Männern und drei Frauen – aus proletarisch-kleinbürgerlichem Milieu der 1920er Jahre, die einen Sommertag am See (bzw. im Bett) verbringen, mit dokumentarischen Aufnahmen ganz unterschiedlicher Teile und Bewohner der Stadt. Die Bewegung, um die es hier geht, ist die Bewegung der Stadt als Organismus, zu der auch die Figuren gehören: „Es ist die Stadt, die gefeiert wird, das hektische Berlin, das von so vielen Schriftstellern und Künstlern evoziert wurde, in seiner Modernität, seiner Simultaneität, seiner Geschwindigkeit, von dem das Durcheinander aller Fortbewegungsmittel das Wahrzeichen ist.“11
Damit wären wir bereits bei dem weiteren Kontext der Film- und Zeitgeschichte angelangt, für die die unterschiedlichen ästhetischen Positionen der Filme stehen. MENSCHEN AM SONNTAG ist, wie andere Filme und Kunstwerke seiner Zeit, Ausdruck der Großstadterfahrung und des Lebensgefühls der Moderne: des Verschwindens des (bürgerlichen) Individuums in der Massengesellschaft, der Beschleunigung und Fragmentarisierung des Alltags durch die technisch-medialen Entwicklungen. Er partizipiert an der Vorstellung, dass Film das privilegierte Medium ist, um diese Erfahrung zum Ausdruck zu bringen: Viele Theoretiker der Zeit haben dementsprechend die Analogie zwischen der Wahrnehmung der Großstadt und des Mediums Film beschrieben.12 Zudem zeugt die Montagetechnik, die an andere Stadtfilme wie Walter Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROßSTADT (R: Walter Ruttman, D 1927) oder Dziga Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA (R: Dziga Vertov, UDSSR 1929) erinnert, von der utopischen Vorstellung vom Film als neutralem Aufzeichnungsmedium, das die Wirklichkeit in allen Facetten wiedergeben und damit eine Art ‚subjektlose’ Totalität darstellen kann.13
GESCHWISTER kennzeichnet dagegen eher eine Skepsis gegenüber dem Versprechen der Objektivität: Thomas Arslan scheint uns von Beginn an deutlich zu machen, dass Filme immer nur einen Ausschnitt und nie das Ganze zeigen können, dass unser wie auch der Blick der Figuren notwendig beschränkt ist. Dies wiederum entspricht dem impliziten Vermittlungsanspruch vieler Regisseure der Berliner Schule, die gerade durch eine Begrenzung der Mittel, einen ‚anderen‘ unspektakulären Blick auf die Alltagswirklichkeit richten, die ästhetischen Möglichkeiten des Films erforschen und zu einem bewußten Schauen einladen. Wenke Wegner hat auf die diesem Ansatz zugrundeliegende implizite Didaktik hingewiesen.14 Die beiden Filme erschließen damit auch zwei unterschiedliche Konzepte des filmischen Realismus: die neue Sachlichkeit, die mit konkreten Objekten bzw. Ausschnitten der Wirklichkeit eine Realität konstruiert, und das moderne Kino, das in langen Einstellungen einen Realismus der individuellen Zeit- und Raumerfahrung, der genauen Beobachtung verfolgt.
Diese ausführliche Analyse hat gezeigt, dass der Vergleich von Filmausschnitten Zugang vermitteln kann:
Gerade wenn keine dramaturgischen Schlüsselszenen im Zentrum der Analyse stehen, kann die Aufmerksamkeit sich auf die Form richten. Das induktive Vorgehen hat zudem den Vorteil, dass es die Wahrnehmung zunächst einmal auf das konzentriert, was in den Filmausschnitten zu sehen und zu hören ist, ohne zu viele Vorannahmen auf das Gesehene zu projizieren. Aus der eigenen Anschauung kann sich ein Verständnis dafür entwickeln, dass die ästhetischen Gestaltung maßgeblich für unsere Wahrnehmung des Geschehens im Film ist und sich in ihr eine Haltung zum Gegenstand zeigt, die gleichermaßen individuell als auch film- und kulturgeschichtlich verortet werden kann.
Die Wahl eines alltäglichen ‚Gegenstandes’, wie die Großstadt, ermöglicht, Bezüge zur eigenen Erfahrungswelt, aber auch zu anderen Kunstformen und Medien herzustellen. Es könnten weitere Großstadtfilme aus unterschiedlichen Zeiten und kulturellen Kontexten hinzugezogen werden, wie die Fernsehdokumentation 24 STUNDEN BERLIN – EIN TAG IM LEBEN (R: u.a. Volker Heise, D 2009) oder utopische / dystopische Stadtentwürfe in Science Fiction-Filmen. Man kann sich auch mit einer spezifischen Epoche befassen: MENSCHEN AM SONNTAG läßt sich beispielsweise mit Fotografien, Bildern und Texten der Neuen Sachlichkeit, des Dadaismus, Futurismus oder Expressionismus in Verbindung bringen, um über das Thema der Großstadt die Zeit der Moderne zu erschließen. Dabei könnte die Frage im Vordergrund stehen, welche ähnlichen oder anderen formalen Strategien eingesetzt werden, um Effekte der Simultanität, Fragmentierung und Vielperspektivik zu erzielen – wie beispielsweise in dem Montageroman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin (1929) oder in den Stadt-Collagen von Paul Citroën (1923).
Oder es wird die Frage weiterverfolgt, wie das Verhältnis von Individuum und Großstadt dargestellt wird, beispielsweise in dem Gedicht Augen in der Großstadt von Tucholsky (1932) oder dem Bild Ich und die Stadt von Ludwig Meidner (1913), in dem die Stadt aus der Imagination des Subjekts hervorzugehen und dieses zugleich zu beherrschen scheint.15
Neben den naheliegenden thematischen Vergleichsmomenten, bieten sich auch formale Merkmale des Films zum Vergleich an. Die bisherige Analyse brachte beispielsweise das narrative Element der Begegnung von zwei Figuren16 oder die visuelle Grundform Figur / Umgebung ins Spiel. Bei letzterem handelt es sich um ein Gestaltungselement, das sich in Malerei, Fotografie und Film findet. Dennoch möchte ich behaupten, dass es sich dabei – wenn die Technik der Kamera und damit die Kontingenz des filmischen und fotografischen Bildes voraussetzt wird – um ein spezifisch filmisches Prinzip handelt. Die Kamera zeichnet mit einer Figur oder einem Gegenstand notwendig auch (ein Stück von) deren Umgebung auf, und die Konventionen des Spiel- und Dokumentarfilms wollen es, dass wir selbst in der Großaufnahme diese Umgebung mitdenken.
Mit der Frage nach dem Verhältnis von Figur und Umgebung lässt sich tiefergehend die Figureninszenierung und Raumgestaltung im Film erforschen. Zugleich bereitet sie auch auf den Prozess des Filmens vor: Denn beim Drehen von Einstellungen stellt sich häufig die Frage, wie filme ich eine Figur in ihrer Umgebung? Diesmal wähle ich zum Vergleich einen Ausschnitt des Films ABOUNA, der auf den ersten Blick ähnliche ästhetische Strategien wie GESCHWISTER aufweist, aber etwas anderes erzählt und eine vollkommen andere Lebenswelt zeigt: Zwei Jungen bewegen sich durch eine Stadtlandschaft im Tschad, warten an einem Grenzübergang und ziehen schließlich unverrichteter Dinge wieder ab. Wie GESCHWISTER fokussiert sich die Kamera in teilweise langen Einstellungen auf die beiden Protagonisten und nähert sich ihnen sukzessive an. In der Gegenüberstellung treten jedoch auch hier signifikante Unterschiede zutage.
Diesmal soll der Vergleich zunächst von ausgewählten Filmstandbildern ausgehen. Dies ermöglicht, den Blick auf die Konstruktion der Einstellungen, gerade in Hinblick auf das Verhältnis von Figur und Umgebung, zu lenken. Ich habe je drei Einstellungen gewählt, die sich im Grundaufbau (Einstellungsgröße und Positionierung der Figuren) ähneln. Dadurch kann eine Sensibilisierung dafür stattfinden, was eine Einstellung jenseits ihrer Größe und ihres Motivs noch ausmacht und was in der Filmvermittlung häufig zu kurz kommt. Der Vorteil der Arbeit mit Filmstills liegt nicht nur darin, dass die visuelle Gestaltung stärker in den Vordergrund tritt, die sonst über der Wahrnehmung der bewegten Handlung leichter übersehen wird. Sie eignen sich auch gut für Gruppenarbeiten – insbesondere, wenn die Filmstills ausgedruckt vorliegen.
Die vorgeschlagene Anordnung der Filmstills verdeutlicht auf den ersten Blick, dass das Verhältnis von Figur und Umgebung wesentlich von der Einstellungsgröße bestimmt ist: die Totale und Panoramaaufnahme umfasst die Umgebung, während Nah- und Großaufnahmen die Umgebung des menschlichen Gesichts weitgehend ins Off verbannen (auch wenn wir sie mitdenken). Der Vergleich der gleichartigen Einstellungen ermöglicht eine weitergehende Differenzierung.
An der Panoramaaufnahme und der Totalen fällt beispielsweise auf, dass in ABOUNA die Landschaft und der Himmel weit und offen wirkt, während in GESCHWISTER eine Eingrenzung des Wegs durch die Architektur vorgegeben ist, die nur wenig Himmel freilässt. In ABOUNA gewinnen wir einen Überblick über das müllbesäte Feld mit den Häusern im Hintergrund, während in GESCHWISTER der Blick links und rechts verstellt ist durch Häuserfronten, Autos und Straßenbahnlinien. Dieser Eindruck entsteht nicht nur aufgrund der verschiedenen Schauplätze. Auch die Bildkomposition trägt dazu bei. In ABOUNA sind die Figuren im Mittelgrund des ansonsten freien Feldes positioniert. Es dominiert die Horizontlinie, die auch der Bewegungsrichtung der Figuren entspricht und unserem Blick keinen Fokus vorvorgibt. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch das Breitwandformat (1:1,85), dessen Bildfeld im Verhältnis zur Höhe breiter ist als in GESCHWISTER (1:1,66). In GESCHWISTER wird der Blick dagegen durch die zentralperspektivische Anordnung des Bildes gelenkt, die die Bewegungsrichtung der Figur in die Tiefe vorgibt. Die Figur ist größer im Vordergrund zu sehen, der Raum, in den sie geht, wirkt verschlossen: Dieser Eindruck wird durch die dominierenden vertikalen Linien der Häuserfronten, der Maste und Bäume, die das Bild in der Mitte teilen, verstärkt. Hier scheint die Umgebung gerade wegen ihrer Unübersichtlichkeit bestimmend, sie gibt eine Struktur vor, in die sich die Figur einfügt.
Zudem gestaltet die Farbgebung das Verhältnis von Figur und Umgebung mit: Die komplementären Farben orange-blau der beiden Jungen in ABOUNA heben diese deutlich vom Hintergrund ab, selbst wenn sie nur klein im Umfeld zu sehen sind. In GESCHWISTER entspricht die grau-blaue Kleidung des Protagonisten dagegen den gedeckten, unbunten Tönen seiner Umgebung. Dadurch mutet ABOUNA, trotz der offensichtlichen Armut der Umgebung, deutlich optimistischer, „strahlender“ an, als GESCHWISTER.17
Die skizzierten Eigenarten lassen sich in modifizierter Form auch in den anderen Filmstills feststellen. In den näheren Einstellungen von ABOUNA ist die Umgebung der Figuren ebenfalls zugleich prominenter und durchlässiger. Die Figuren sind nie allein im Bild zu sehen, sie scheinen Teil eines Ganzen. In GESCHWISTER liegt der Fokus dagegen stärker auf der Hauptfigur, deren Horizont von Architektur oder Kader eingegrenzt ist. Dem entspricht, dass die Kamera in GESCHWISTER den Figuren meist etwas näher ist als in ABOUNA.
In den beiden amerikanischen Aufnahmen ist der Blick auf den Vordergrund gerichtet, sie haben deutlich geringere Tiefenräumlichkeit als die Landschaftsaufnahmen. In GESCHWISTER wird dieser Effekt dadurch verstärkt, dass die Figur vor einer planparallelen Wand steht, die den Blick auf den Hintergrund versperrt und deren rechteckiges Muster Eingeschlossensein suggeriert. In der entsprechenden Aufnahme aus ABOUNA ist die ‚Wand’ der Menschen im Vordergrund dagegen durchlässig für Blicke in die Tiefe. Die beiden Jungen sind hier – wie bereits in der Panoramaaufnahme – nicht ‚vor’ ihre Umgebung, sondern mitten in der Menschenmenge platziert. Ähnlich ist auch die Nahaufnahme konzipiert, die die beiden Jungen im Profil gemeinsam mit einem Statisten am Rand des Bildes zeigt. In GESCHWISTER zentriert die frontale Großaufnahme dagegen auf die Hauptfigur, nur eine angeschnittene Schulter lässt einen ‚Nebenmann’ erahnen. Indem in den nahen Einstellungen der Blick der Protagonisten ins Off geht, verweisen sie – stärker als die übrigen Einstellungen – auf das, was jenseits des Kaders liegt. Sie zeigen zwar nur wenig von der Umgebung, bringen sie aber über diesen Appell an das Off ins Spiel.
Diese Analyse der Filmstills hat eine Vielzahl von ästhetischen Strategien erschlossen, die das Verhältnis von Figur und Hintergrund gestalten:
Dabei wurden erneut charakteristische Differenzen zwischen den Filmen deutlich: Während die Filmstills aus GESCHWISTER stärker auf den Jugendlichen fokussiert sind, zeigen die Filmstills aus ABOUNA die beiden Jungen eher als Teil eines größeren Ganzen. Da in GESCHWISTER vertikale Strukturen dominieren und die Kadrierung den Blick auf den Horizont kaum frei gibt, wirkt die Figur in ihrer Umgebung eingesperrt; während in ABOUNA eher der Eindruck der Weite, des klein und allein Seins in einer umfassenderen Umgebung dominiert.
In Anschluss an die Analyse der Filmstills sollte die (erneute) Sichtung der beiden Filmausschnitte erfolgen. Dadurch kann überprüft werden, ob sich diese Beobachtungen auch auf die ganze Sequenz übertragen lassen und wie Bewegung und Montage die Beziehung von Figur und Umgebung gestaltet.
Möglicherweise fällt dabei zunächst auf, dass die Wahl der Filmstills die Aufmerksamkeit gelenkt und eingeschränkt hat. So gibt es auch in ABOUNA Einstellungen, die die Figuren alleine im Bild zeigen (vor allem bevor sie an den Grenzübergang treten und am Ende, als sie alleine übrig bleiben). Und auch in GESCHWISTER zeigen manche Aufnahmen die Figur inmitten von Passanten (wenn sie die Treppe herunterkommt oder am Kiosk steht). Im Gesamteindruck der Sequenzen bestätigt sich jedoch die Beobachtung, dass die Figuren in ABOUNA eher als Teil einer Landschaft oder Menge gezeigt werden, während in GESCHWISTER eine leblose Architektur und die Zentrierung auf die Figur dominiert. Die Auswahl von Filmstills erweist sich damit als eine analytische (oder didaktische) Geste. Sie kann den Blick auf bestimmte Aspekte lenken, und damit auch ein bewussteres Sehen der Szene initiieren. Die Sichtung der bewegten Bilder selbst kann sie nicht ersetzen.
Im Vergleich der Filmausschnitte wird die Aufmerksamkeit auf weitere Aspekte oder bestimmte Teile der Sequenzen gerichtet. Beispielsweise stellt sich die Frage nach der Art und Weise, wie im ersten Teil die Bewegung der Figuren durch den Raum inszeniert wird. In ABOUNA erschließt eine einzige Panoramaaufnahme mit einer Halbkreisbewegung den Raum, den die Figuren durchqueren. In GESCHWISTER wird der Weg dagegen in mehrere Einstellungen aufgelöst, die die Figur aus unterschiedlicher Entfernung und Perspektive zeigen. Die Kamera orientiert sich dabei strikt am Tempo der Figur, sie setzt sich nicht ‚selbstständig’ in Bewegung – was der bereits oben ausgeführten Zentrierung aller Einstellungen auf den Protagonisten entspricht. Auch in ABOUNA korrespondiert die Kamerabewegung der Bewegung der Figuren, hat aber einen eigenen Rhythmus und erweist sich als unabhängiger: Sie beginnt bereits bevor die Figuren ins Bild treten; ‚überholt diese‘, um einen größeren Ausschnitt der Landschaft rechts zu kadrieren, und ‚entlässt‘ sie am Ende aus dem Bild. Der Kreisschwenk dient offenbar nicht nur dazu, den Weg der Figuren zu zeigen, sondern auch die Umgebung möglichst umfassend, in verschiedene Richtungen zu erschließen. Da nicht geschnitten wird, glauben wir die Landschaft umfassend wahrzunehmen.
Wie in MENSCHEN AM SONNTAG entsteht also ein Eindruck von Vollständigkeit, der hier durch die Kontingenz der Einstellung statt durch die Vielperspektivik der Montage erzeugt wird. Anders als in MENSCHEN AM SONNTAG wird dabei der Blick weniger stark gelenkt, denn gerade die Länge der Einstellung – darauf hat bereits André Bazin verwiesen18 – erlaubt es dem Zuschauer, den Blick schweifen zu lassen und selbst zu entscheiden, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet (spielende Kinder, Menschen, Autos, Natur, Häuser usw.).19 Zugleich findet in ABOUNA über die Tonspur eine stärkere Fokussierung auf die Figuren statt. Sie holt am Anfang die Stimmen der Jungen nah heran und unterlegt am Ende den Rhythmus ihrer Bewegungen mit einer ermunternden Gitarrenmusik.
Weiterhin ist der Moment des Wartens in der Mitte der beiden Sequenzen von Interesse. Anknüpfend an die Überlegungen zu den Nah- und Großaufnahmen der Filmstills kann hier die Frage nach dem Off aufgegriffen werden: Zeigen uns die Filme das, was die Figuren sehen? In ABOUNA werden Einstellungen mit den wartenden Jungen (in verschiedenen Entfernungen) mit Einstellungen der Menschenmenge montiert. Es ist zwar nicht eindeutig auszumachen, ob die Aufnahmen der Menge tatsächlich ihrer Perspektive entsprechen. Aber die Kamera zeigt uns offenbar ihre unmittelbare Umgebung in Detailaufnahmen und erzeugt dadurch eine Nähe zur Figur. Wir glauben, mit ihnen in der Menschenmenge zu sitzen. In GESCHWISTER wird uns dagegen – wie bereits erwähnt – der Blick ins Off verweigert. Der Zug, der im Hintergrund der Großaufnahme einfährt, ist unscharf und die Passagiere, deren Unterhaltung der Protagonist lauscht, sind nur durch die angeschnittene Schulter im Bild vertreten. Arslan frustriert unseren Wunsch, das zu sehen, was die Figur sieht; er engt unseren Blick ein, so wie Blick und Bewegung der Figur durch die Architektur eingeengt scheinen. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt des Films: die Tonebene, die uns das Off vergegenwärtigen kann. Diese Szene eignet sich somit sehr gut dazu, das Verhältnis von On / Off im Film zu erörtern und die Konvention des ‚unsichtbaren‘ Schnitts zu verdeutlichen. Denn diese würde – unseren Erwartungen entsprechend – einen Anschluss an den Blick verlangen.20
Neben solchen Vergleichen im Detail kann auch die Dramaturgie der Szenen thematisiert werden. Wie die Auswahl und Anordnung der Filmstills bereits suggeriert haben, sind die beiden Szenen aus ABOUNA und GESCHWISTER ähnlich strukturiert. Schauplatz und Figuren werden zunächst aus der Distanz gezeigt, die Kamera nähert sich in sukzessiven Einstellungen bis zur Nah- bzw. Großaufnahme, um sich gegen Ende wieder zu entfernen. In ABOUNA ist dies als eine Art Kreisbewegung inszeniert. Am Ende steht wie am Anfang die Panoramaaufnahme eines weiten Feldes. Die Kamera scheint den zwischenzeitlich unterbrochenen Kreisschwenk fortzusetzen, mit dem sie der Bewegung der Jungen von links nach rechts folgt. Es ist eine Wiederholung und ein Weitergehen zugleich. Diese formale Dramaturgie entspricht dem Inhalt der Szene und des Films. Die beiden Jungen sind auf der Suche nach ihrem Vater, der sie eines Morgens verlassen hat und den sie bis zum Ende des Films nicht wiederfinden werden. Sie begeben sich in dieser Szene voller Hoffnung an den Grenzübergang, den viele Arbeitsmigranten täglich passieren, und bleiben am Ende auf sich allein gestellt zurück. Ihre Suche wird weitergehen. Aber ihr Überleben wird davon abhängen, ob sie sich dieser Schleife des erfolglosen Suchens entziehen und etwas Neues beginnen können.
Im Gegensatz dazu scheint die formale Anlage der Szene aus GESCHWISTER auf den ersten Blick nicht ihrem narrativen Gehalt zu entsprechen. Die beiden Großaufnahmen zeigen eher belanglose Situationen: das Warten auf die einfahrende U-Bahn, das Belauschen von Mitfahrern. Das im Sinne einer klassischen Dramaturgie wesentlichere Moment, als der Junge auf seine Freundin trifft und damit eine weitere Hauptfigur eingeführt wird, ist dagegen distanzierter gefilmt – allerdings mit Dialog unterlegt. Die Szene funktioniert gewissermaßen visuell antidramaturgisch. Ins Zentrum rückt hier ein alltägliches Moment. Dies ist programmatisch für den Film, der – wie bereits erörtert – über den Gang des Protagonisten den Stadtraum erschließt und die Beobachtung des Alltags in der Großstadt in den Mittelpunkt rückt.
Abschließend können die analysierten Szenen zusammenfassend gegenüber gestellt werden. Alle drei Filmausschnitte widerstreben – je auf andere Weise – einer geschlossenen Dramaturgie: In ABOUNA wird – ohne Dramatisierung – das Nichtereignen einer (erhofften) Begegnung erzählt; in MENSCHEN AM SONNTAG wird zwar eine Begegnung inszeniert, aber im entscheidenden Moment wird sie ‚verschluckt‘ vom umgebenden Stadtverkehr; in GESCHWISTER wiederum ist auf Bildebene die alltägliche Straßenbahnfahrt prominenter in Szene gesetzt, als die Begegnung mit der Freundin. Alle Filmausschnitte weichen damit – mehr oder weniger stark – von Konventionen filmischen Erzählens ab. Zugleich verfolgen sie ganz unterschiedliche Strategien, um die Figuren innerhalb einer Umgebung darzustellen.
GESCHWISTER konzentriert sich auf den Protagonisten, den wir in jeder Einstellung im Bild sehen. Die Stadt ist vor allem als architektonische Struktur präsent, die aufgrund der Konstruktion der Einstellungen eingrenzend wirkt. Ebenso wichtig wie das, was wir im Bild sehen, ist jedoch das Off, das durch die teilweise enge Kadrierung und die Tonebene vergegenwärtigt wird. Die Stadt befindet sich bei Arslan zu wesentlichen Teilen im Off. Statt sie im Überblicks zu zeigen wird der Eindruck vermittelt, nur einen (subjektiven) Ausschnitt zu sehen.
Anstelle für das Abwesende zu sensiblisieren, konfrontiert MENSCHEN AM SONNTAG mit einer Fülle an Eindrücken, an Präsenz. Hier scheinen die Protagonisten nur zufällig ausgewählte Passanten der Stadt. Wir verlieren sie immer wieder aus den Augen, die Stadt selbst scheint Hauptfigur zu sein. In der Montage einer Vielzahl von Perspektiven und Ausschnitten setzt sich ihr Bild wie in einem Mosaik zusammen, zugleich reproduziert der Film die Dynamik und Simultaneität der Großstadterfahrung in der Moderne. ABOUNA verbindet beide Strategien miteinander. Auch hier erlangt die Umgebung eine Eigendynamik gegenüber den Figuren, durch die lange Panoramaaufnahme am Anfang und durch die Montage von Einstellungen der Menschenmenge an der Grenze, in denen die Hauptfiguren nicht zu sehen sind. Im Zuschauer wird der Eindruck geweckt, Teil der Menge zu sein und den Überblick zu verlieren. Dennoch ist die Szene stärker zentriert auf die Protagonisten, einerseits durch die kindliche Erzählerstimme, die der Panoramaaufnahme eine subjektive Dimension verleiht, andererseits, da die Aufnahmen der Umgebung immer gegengeschnitten sind mit den Aufnahmen der Protagonisten und ihrer Wahrnehmung zu entsprechen scheinen.
Bei der hier skizzierten Analyse der Filmausschnitte in Hinblick auf das Verhältnis von Figur und Umgebung standen formale Beobachtungen im Vordergrund, der thematische oder narrative Inhalt der Ausschnitte wurde zunächst ausgeklammert. Denn bereits das Nacherzählen einer filmischen Handlung ist ein Akt der Deutung dessen, was uns die Bilder zeigen. Diese Herangehensweise kann zunächst dafür sensibilisieren, wie sich in der formalen Gestaltung Handlung, Wissen, Atmosphäre vermitteln. Zugleich kristallisierten sich im Vergleich grundlegende Eigenschaften der filmischen Ästhetik, der Darstellung von Wirklichkeit und der Einbindung des Zuschauers heraus, die auch in der Filmtheorie reflektiert wurden:
Je nach Zielgruppe können auch diese theoretischen Kontexte hinzugezogen werden, möglicherweise durch die gemeinsame Lektüre von Auszügen aus frühen filmtheoretischen Texten, die oftmals den Vorzug der Anschaulichkeit und einer grundlegenden Betrachtung des Mediums haben.
Der Vergleich unterschiedlicher ästhetischer Strategien ist aber auch als Einstieg in die Filmpraxis gut geeignet. Denn er stößt die Schülerinnen und Schüler auf grundlegende Fragen, die auch im Drehprozess wesentlich sind: Wie filme ich eine Figur in einer Umgebung ? Welchen Schauplatz wähle ich? Wie positioniere und kadriere ich eine Figur? Wie verfolge ich ihre Bewegungen? Was zeige ich innerhalb einer Einstellung, was konstruiere ich im Schnitt? Insbesondere ermöglicht eine solche vergleichende Sichtung von ganz verschiedenen, auch ungewohnten Filmausschnitten, das Denk- und Handlungsspektrum zu erweitern, sodass beim eigenen Drehen nicht nur die intuitiv geläufigen, standardisierten Erzählformen reproduziert werden.
Die Möglichkeiten der Darstellung von Figur und Umgebung oder anderer formeller Grundfiguren des Films können von den Schüler/innen dann auch im Medium Film, also mit der Kamera weiter erforscht werden. Es empfiehlt sich zunächst mit einfachen Kameraübungen die Gestaltungsmöglichkeiten des Mediums zu erproben, anstatt direkt mit der Verfilmung eines eigenen Drehbuchs zu beginnen.22 In dem Projekt Jugend filmt! – Le cinéma, cent ans de jeunesse haben die Schüler/innen einer 7. Klasse aus Neukölln den Stadtraum um ihre Schule mit folgenden Übungen erschlossen:
Vorbereitet wurden diese Kameraübungen durch das Sichten einer Reihe von Filmausschnitten zu den Themen „Stadt als Schauplatz“, „Mensch und Welt“ – darunter auch die hier vorgestellten. Die von den Schüler/innen gefilmten Szenen offenbarten eine Lust am Experimentieren und eine bemerkenswerte Sensibilität für ihre Umgebung – der sie in der Regel eine größere Aufmerksamkeit schenkten, als den von ihnen selbst gespielten Figuren.24 Eine Schülergruppe beobachteten einen Dealer am S-Bahnhof Neukölln, andere filmten das Treffen zweier Schüler an einer Ampel, das – ähnlich wie in MENSCHEN AM SONNTAG – gerade zu dem Zeitpunkt stattfindet, als ein Auto sich zwischen Figur und Kamera schiebt. Eine weitere Schülergruppe filmte die Umgebung einer Baustelle in einem 360°-Schwenk, bevor die beiden Figuren, winzig vor riesigen Werbeplakaten, sich treffen und gemeinsam weggehen. Diese Übungen dienten als Vorarbeiten zu einem Kurzfilm VON DIR NICHT, mit dem die Schüler/innen ausgehend von einem selbst entwickelten Drehbuch das Zusammenspiel von Fiktion und Realität, Inszenierung und Dokumentation erforschten.
Die exemplarische Analyse von MENSCHEN AM SONNTAG, ABOUNA und GESCHWISTER hat verdeutlicht, wie Filmausschnitte miteinander in Beziehung gesetzt werden können und was die Methode des Vergleichs leisten kann. Sie sensibilisiert dafür, wie die ästhetische Form den Inhalt bedingt und eine Haltung zum Gefilmten vermittelt. Sie ermöglicht, sich in kurzer Zeit mit verschiedenen Strategien der filmischen Darstellungsweise auseinanderzusetzen und dabei auch auf die Filmpraxis vorzubereiten. Nicht zuletzt erschließt sie induktiv film- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge und kann zu einer Reflexion dessen anregen, was Film ist.
Der Vergleich von Filmausschnitten kann als ästhetische Bildung und als Vermittlung des Mediums Film in seinen kulturgeschichtlichen und intertextuellen Zusammenhängen fungieren. Es handelt sich dabei um eine Praxis des vergleichenden Sehens, die bei der genauen Wahrnehmung des Materials und einfachen Fragen ansetzt und von dort ausgehend zunehmend komplexere Zusammenhänge erschließt. Im Vergleich wird das Spezifische des einzelnen Films greifbar und die Wahrnehmung differenziert sich. Fachbegriffe können im Zuge der Analyse eingeführt werden, sie sind jedoch keine Voraussetzung, da die vergleichende Beobachtung und Beschreibung zunächst auch mit der Alltagssprache erfolgen kann. Letzteres hat den Vorteil, möglicherweise noch etwas freier, weniger von bestimmten Wahrnehmungsschemata gelenkt zu sein. Ein Beispiel dafür sind die Begriffe der Einstellungsgrößen, deren Kenntnis oftmals als erste Voraussetzung für die Filmanalyse begriffen wird. Dies täuscht allerdings leicht darüber hinweg, dass eine Einstellung als ‚Bewegungsbild’ eine komplexe Form ist, für deren vielfältige Merkmale (Farbe, Format, Kader, Raum, Zeit, Bewegung) es größtenteils kein differenziertes Fachvokabular gibt und die nicht durch eine Benennung der Einstellungsgröße definiert ist.
Die induktive Methode hat darüber hinaus den Vorteil, dass sie Personen mit ganz unterschiedlichem Vorwissen und unterschiedlichen Altersstufen ansprechen kann. Je nachdem, was die einzelnen Teilnehmer/innen in den Ausschnitten beobachten, können weiterführende Kontexte eingebracht und sprachlich an das jeweilige Verständnis angepasst werden. Die Kunst ist es dabei, komplexe Zusammenhänge, mit einfachen Worten zu formulieren. Die Entwicklung der Schlussfolgerungen am Material hat zudem den Vorzug der Anschaulichkeit und der Überzeugungskraft: Schüler/inne/n, die selbst festgestellt haben, dass ihnen die Panoramaaufnahme in ABOUNA mehr Spielraum läßt, selbst zu schauen, wird Bazins These, dass lange Einstellungen ein individuelles Sehen ermöglichen, einleuchten. Sie werden möglicherweise auch die Vorzüge eines solchen ‚unspektakulären’ Erzählens erkennen.
Eine solche Praxis des gemeinsamen Sehens fördert eine Art des Vertraut- und Bewusstwerdens mit dem Mediums Film, seiner Ästhetik, Ausdruck- und Wirkungsmöglichkeiten und damit die Erweiterung der ästhetischen Sensibilität und Reflexionsfähigkeit. Wie bereits mehrfach erwähnt erschließt der Vergleich zudem film- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Dabei geht es weniger um den Erwerb eines systematischen Wissens über filmgeschichtliche Epochen oder Stile, als vielmehr um stichprobenartige Zugänge, die je nach Kontext, individuell andere ‚Lesarten’ der Filmgeschichte beinhalten. Diese Lesarten können durch die Auswahl des Lehrenden vorgegeben werden, oder auch durch eigene Filmausschnitte der Lernenden ergänzt werden. Bildung – meint demnach dem Eingangszitat folgend – nicht eine Ansammlung von Wissen und Kompetenzen rund um das Medium Film, sondern vielmehr das Praktizieren eines vergleichenden Sehens, in dem die eigenen Seherfahrungen mit fremden, anderen Filmen konfrontiert und reflexiv bearbeitet werden.
In diesem Sinne möchte ich abschließend eine Verbindung meiner Filmanalysen zu dem von Alejandro Bachmann vorgestellten filmischen Motiv des Zuges herstellen.25
Das Motiv des Zuges taucht auch in den Ausschnitten aus GESCHWISTER und MENSCHEN AM SONNTAG in Form von fahrenden S-Bahnen als Teil der Großstadtwirklichkeit auf. An ihnen kann die unterschiedliche Darstellung von Bewegung im Film untersucht werden: Effekte der Beschleunigung durch Zusammenprall in der Montage oder Effekte der Verlangsamung durch eine längere Einstellung aus großer Distanz. Wie Bellour anmerkt, hat das zweimal wiederkehrende Motiv der aufeinanderprallenden Züge in MENSCHEN AM SONNTAG zudem eine symbolische Funktion, da sie das Zusammentreffen der Protagonisten vorwegnimmt.
Vor allem aber weist das Motiv der fahrenden Züge über die konkreten Filme hinaus auf die Filmgeschichte: Auf einen der berühmtesten frühen Filme DIE EINFAHRT EINES ZUGES IN LA CIOTAT (R: Louis & Auguste Lumière, F 1895) der Brüder Lumière und eine Vielzahl seither entstandener variierender filmischer Darstellungen dieses Motivs. Wie Bachmann ausführt wurde der Zug von Beginn der Filmgeschichte an als Analogie zum Film gedacht: Die Erfahrung des Zugfahrens veränderte die Zeitempfindung und den Bezug zur Wirklichkeit in ähnlicher Weise wie das Kino. Filme ermöglichen es nicht nur, Züge in Bewegung aufzuzeichnen, sondern uns vielmehr selbst den Eindruck zu vermitteln, im Zug zu fahren. Die Einfahrt des Zuges in GESCHWISTER kann vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund als Zitat des Lumière-Films und als eine selbstreflexive Geste interpretiert werden. Arslan stellt diesen Film gewissermaßen nach, indem er einen auf die Kamera zufahrenden Zug aufzeichnet, und zugleich die Kadrierung so ändert, dass die Wirkung eine völlig andere ist. Am Anfang ist er in extremer Distanz der Panoramaaufnahme, später als unscharfer Hintergrund in der Großaufnahme des Protagonisten zu sehen. Der Zug als Sinnbild der Beschleunigung wird hier zu einem Bild der Verlangsamung und der Subjektivierung – so wie der Film eine entschleunigte, alltagsnahe ‚Großaufnahme‘ der Stadt und ihrer Bewohner bietet.
Das In-Beziehung-Setzen von Fragmenten erweist sich hier auch als eine imaginäre Geste der Regie: Über das Detail vermittelt sich eine individuelle Haltung zu anderen Filmen und der Zusammenhang Filmgeschichte.
Das Herstellen von Verbindungen wurde seit der Frühzeit des Films immer wieder als grundlegendes Prinzip des Films und des menschlichen Denkens begriffen:
„Wenn wir die Montage im allgemeinsten Aspekt als Aufdeckung innerer Zusammenhänge definieren, die in der realen Wirklichkeit existieren, dann setzten wir gewissermaßen ein Gleichheitszeichen zwischen sie und jeden Denkprozess in einem beliebigen Gebiet.“26
Diese Äußerung des russischen Filmschaffenden und Theoretikers Wsewolod Pudowkin gilt, wie am Beispiel GESCHWISTER gezeigt, nicht nur für die Zusammenhänge innerhalb eines Films, sondern auch über ihn hinaus. Die Methode des Fragmente-in-Beziehung-setzens macht somit ein filmisches Prinzip für Prozesse der Bildung mit Filmen fruchtbar.
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