Das Spannungsfeld zwischen Film und Geschichte gewinnt seine Brisanz nicht nur durch die akademischen Gräben zwischen Filmwissenschaft und Geschichtswissenschaft, sondern auch durch die hybride Beschaffenheit der audiovisuellen Medien, in denen Form und Inhalt – Kunstwerk und Kommunikationsraum – untrennbar miteinander verschmolzen sind. Nur selten wurde hierbei die Ästhetik in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Überlegungen gestellt. In einem Aufsatz im Sammelband Film und Geschichte (González/Greiner/Pauleit 2015) unternimmt Winfried Pauleit genau diesen Versuch. Am Beispiel von THE THREE BURIALS OF MELQUIADES ESTRADA (2005) lotet er „das vielschichtige Verhältnis von Filmästhetik und Geschichte“ aus (2015: 62). Pauleit zerlegt „das Spiel mit Konstruktionen von Geschichte“ auf sieben Ebenen: (1) Plot; (2) „die Beschreibung eines Regimes der visuellen Kontrolle und der Bedingungen für die Möglichkeit einer Visual History“; (3) visuelle und klangliche Interventionen; (4) politische Ästhetik des Klangraums; (5) narrativer Raum; (6) intertextuelle Diskurse; (7) Etablierung eines „politischen Gemeinschaftsraum“. Vor allem das Konzept einer „politischen Ästhetik“ ist der integrale Bestandteil der Pauleit’schen Sichtweise, die er in jener Zeit in Gesprächen mit uns immer wieder betonte und schließlich in mehreren Vorträgen und Publikationen weiterentwickelte. In THE THREE BURIALS OF MELQUIADES ESTRADA sieht Pauleit (2015: 74) einen „ästhetisch innovativen und (. . .) dezidiert politischen Film“. Die politische Ästhetik zeige sich vor allem darin, so Pauleit (2015: 75),
wie [der Film] mit seinem Wissen von Filmen und von den unterschiedlichen Reisen und Reiserichtungen verfährt (Reise des Migranten, Reise des Westerners). […] Die komplexe Anordnung eines regional geprägten Klangraums wird im Film schließlich mit dem politischen Verständnis eines Gemeinschaftsraums verschränkt. Dieser wird als Gegenpol zu den visuellen Praktiken der Kontrolle gesetzt. Er unterscheidet sich aber auch von den Konstruktionen einer narrativen und visuellen Geschichte, die der Film ins Leere laufen lässt. Die politische Ästhetik des Klangraums in THE THREE BURIALS OF MELQUIADES ESTRADA ist von Polyphonie und Hybridität gezeichnet und bringt unterschiedliche Geräusche, Tierstimmen, Scores und Musiken in Verbindung. So entsteht auf der Klangebene ein offener Gemeinschaftsraum, der sich als kulturelle Praxis der Audio History zu erkennen gibt.
Auch wenn die formal-ästhetische Analyse eine ausschlaggebende Rolle bei Pauleit spielt, kann diese nie als reiner Formalismus verstanden werden. Im Gegensatz zu manchen aktuellen philosophischen Ansätzen (vgl. Nannicelli 2020) oder zur unkritischen ästhetischen Verherrlichung à la Cahiers du cinéma der 1960er (Delahaye 1965), die den Künstler strikt von der Kunst trennen wollte, bezieht Pauleit immer diverse sozialwissenschaftliche Ansätze in seine Texte mit ein: industrielle Herstellungsprozesse, historische und kulturelle Kontexte, machtpolitische Konstellationen. Der Pauleit’sche Ansatz zur (Film-)Geschichtsschreibung verwebt ideologische Botschaften und moralische Auswertungen mit ästhetischen Entscheidungen und Formen, um versteckte Zusammenhänge und die Gesamtheit der Lage zu erkennen. Diese sozialkritische Perspektive erinnert teilweise an Rancière (2000), fungiert jedoch auch als eine Umdeutung und Erneuerung einiger fundamentalen Aspekte und Akzente der Frankfurter Schule. Den Leitsatz von Siegfried Kracauer (1932: 11) – „der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar“ – überträgt Pauleit ins digitale Zeitalter. Wie Kracauer (1932: 11) geht es ihm auch darum, „jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen“.
Diese holistische Perspektive bildete die Grundlage für das von Pauleit konzipierte Forschungsprojekt ‚Audio History des Films’, dessen Hauptergebnis eine gleichnamige Monografie darstellt (Pauleit/Greiner/Frey 2018a). Das Ziel der Studie war es, sich der bisher vernachlässigten Bedeutung der auditiven Ebene des Films sowohl in der Filmwissenschaft als auch in der Geschichtsschreibung kritisch zu nähern. Um auszuloten „wie der Filmton Geschichte auditiv generiert, modelliert und erfahrbar macht“ (Pauleit/Greiner/Frey 2018b: 12) wurden drei unterschiedliche konzeptuelle Zugänge (Sonic Icons, Auditive Histosphäre, Authentizitätsgefühl) gewählt, die trotz aller Differenzen in ihrem Anliegen zusammenwirkten.
Angelehnt an den von Brian Currid geprägten musikwissenschaftlichen Begriff des ‚Sonic Icons’ geht es Pauleit (2018: 20) in seinem Kapitel darum, das Konzept auf den Film und die Filmwissenschaft zu übertragen. Die Aufgabe bestand weniger darin, ikonische (akustische) Momente des kollektiven Gedächtnisses hervorzuheben, sondern vielmehr die „Momente filmischer Selbstreflexion, in denen der Ton aus dem Fluss des Films hervortritt und dabei jeweils spezifische Bezüge zu Geschichte und Zeitgeschichte entfaltet“, kritisch zu erläutern (Ebd.).
In seiner Analyse verweist Pauleit (2018: 21-22) immer wieder auf die technologischen Spuren, die den Ton visualisieren (z.B. Mikrofone, Lautsprecher, Tonaufnahmegeräte), und deren Präsenz im Film ein selbstreflexives Potenzial darstelle, „das in der Filmrezeption auf die kulturelle Leistung des Produktionsprozesses zurückweist“. Diese Art der Selbstreflexion liefert, so Pauleit (22)
historische Zeugnisse und Modelle von den apparativen Anordnungen und Verfahren der Filmtonproduktion, die durch den Film selbst erfahrbar werden. Sie verbürgen zudem die kulturellen Handlungen, das heißt die Geschichte der performativen Prozesse der Arbeit mit Techniken und Apparaturen der Tonerzeugung. […] Das heißt, der Filmton wird in dieser Untersuchung sowohl im Hinblick auf die komplexe Ästhetik des Films befragt als auch im Hinblick auf eine Erschließung von Zeitgeschichte. In dieser doppelten Perspektive auf den Filmton wird eine Audio History des Films denkbar: Sie rückt das Verhältnis von Ästhetik und Geschichte in den Fokus und lässt sich ausgehend von exemplarischen Filmen und ihren Diskursen zwar nicht direkt ‚abhören’, aber sehr wohl studieren, erschließen und beschreiben.
Um diese Theorie empirisch zu belegen, sammelt Pauleit Beweise aus einem breit angelegten Korpus: z.B. MENSCHEN AM SONNTAG (1930), A SONG IS BORN (1948), SALUT LES CUBAINS (1963). Die Fallstudien überschreiten herkömmliche Genre- und Gattungsgrenzen und reichen vom Stummfilm („das Bild des Stummfilms war immer auf Verknüpfungen mit dem Ton ausgerichtet“, 30) und der Avantgarde über das Hollywood-Musical bis hin zum Essayfilm und THE KING’S SPEECH (2010). So etabliert Pauleit (25) ein belastbares Fundament für seine Studie:
Kriterium für die Auswahl ist das Auftreten von Grammophon, Phonograph und Schallplatten. Ins Zentrum gerückt werden jene Momente filmischer Selbstreflexion, die ihr ästhetisches Spiel als Spannungsverhältnis zwischen Ton, Bild und Text im Sinne des modernen Films ausstellen.
Nur wenige Beispiele aus den Fallstudien reichen, um die Pauleit’sche Sichtweise zu erkennen. THE CONVERSATION (1974) „formuliert eine ähnliche Kritik am naiven Abbildrealismus wie [Rick] Altman und entwickelt gleichzeitig das Konzept der Indexikalität weiter“ (23-24). Wiederum führt MENSCHEN AM SONNTAG „die Geschichte des Musikfilms unter avantgardistischen Vorzeichen fort, insofern er die Tonspur des Schlagers gerade nicht erfahrbar macht, sondern dokumentarisch (didaktisch) in Szene setzt und als etwas NichtZugängliches ausstellt“ (33). Pauleit interpretiert A SONG IS BORN als soundimagetext und Archiv im Foucault’schen Sinne, einen Film an dem sich „Musikgeschichte, Kulturgeschichte und die Geschichte der mit ihr verflochtenen Unterhaltungsindustrien ablesen lässt“ (46). Das Musical könne „schließlich weniger als ein Filmgenre, sondern eher als eine ästhetischmediale Hybridbildung der Medienindustrien“ verstanden werden (35). Biopics wie THE KING’S SPEECH würden wiederum in signifikanten selbstreflexiven Momenten durch Sonic Icons strukturiert (71-72):
Die biografisch verbürgte Männerfreundschaft zwischen dem Prinzen und seinem Sprachtherapeuten wird umgeschrieben zu einem Königsdrama des Medienzeitalters. Zeitgeschichte wird in diesem Film als Mediengeschichte gefasst und zu einer konfliktreichen Neuerfindung des Könighauses für die heutige Mediengesellschaft umstrukturiert. Das Erfolgskonzept dieser Neuerfindung basiert auf der Professionalisierung von Sprechakten und ihrer medialen Gestaltung und Verbreitung.
Im Allgemeinen entwickelt Pauleit den Sonic-Icon-Begriff – und auch das filmwissenschaftliche Verständnis der performativen, medialen Selbstreflexion – entscheidend weiter. Normalerweise werden Bezugnahmen von Film auf Fotografie (und Phonografie) unter der Rubrik ‚Intermedialität’ aufgegriffen. Pauleit versucht stattdessen, „solche und ähnliche Differenzverhältnisse als Teil einer Ästhetik des modernen Films zu fassen, in der sich unterschiedliche Differenzverhältnisse überlagern und in einem komplexen Wechselspiel miteinander in Beziehung treten“ (28). Auf diese Weise unterscheiden sich Sonic Icons als theoretisches Rahmenkonzept von der herkömmlichen Behandlung ikonischer Filmzitate. Die „Qualität der Sonic Icons besteht vielmehr aus einem Verweis auf etwas Vergangenes, aus einer Spur, die etwas Abwesendes kenntlich macht“, so Pauleit (25), der die Sonic Icons folglich als eine „vielgestaltige, ästhetische Figuration“ fasst, „der eine spezifische Funktion filmischer Selbstreflexion über Genre- und Gattungsgrenzen hinweg zukommt“ (26). Insgesamt können wir den Pauleit’schen Ansatz zu Sonic Icons in der Bandbreite einer Dialektik der politischen Ästhetik verstehen, die „von zeithistorischen Einschreibungen markiert beziehungsweise durchkreuzt“ ist (25)
Eine besondere Relevanz gewinnt das Konzept der Sonic Icons, wenn in Unterhaltungsfilmen die jeweiligen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge durch die Verwendung scheinbar unpolitischer audiovisueller Verfahren verschleiert werden. Beispielsweise sollte die Komödie im Nationalsozialismus frei von offensichtlichen Propagandaelementen sein. Stephen Lowry (1994: 58) hält dazu fest, dass die ideologische Ausrichtung der NS-Unterhaltungsfilme »ganz im Sinne von Goebbels’ ›unsichtbarer Propaganda‹ […] oft darin [bestand], auf unscheinbare Weise auf die Gefühle, Verhaltensweisen und Selbstbilder der Menschen einzuwirken, um sie zur Konformität und Unterordnung zu erziehen«. Insbesondere in den letzten Kriegsjahren wurde zudem die Verbindung zwischen ästhetischer Produktion und historischer Einschreibung weitestgehend gekappt – nicht nur um einen eskapistischen Imaginationsraum zu schaffen, sondern auch, um mit den Entwicklungen in Deutschland und der Welt nicht mehr schritthalten zu müssen. Einige Filme konnten nicht mehr fertiggestellt werden, wurden verboten oder waren schlichtweg aus der Zeit gefallen. Erst nach Kriegsende vollendet und uraufgeführt, sind diese Überläuferfilme ein Produkt des Übergangs. Dem Filmton wurden indes handlungstragende Narrative zugeordnet: Es wird telefoniert und belauscht, es werden Schlager geschmettert und es wird getanzt bis zum Rausch. Fast wirken die Filme wie eine Fortsetzung des Taumels, der einst in den späten 1920er Jahren einsetzte und jäh durch den Nationalsozialismus eingebremst und in geordnete Bahnen umgelenkt wurde. Im Folgenden möchten wir anhand von drei Beispielen zeigen, inwiefern die Sonic Icons als ein Analyseverfahren fungieren können, mit dem das Verhältnis zwischen audiovisueller Ästhetik und zeithistorischen Verknüpfungen auch in einem historisch schwer greifbaren Filmkorpus wie den Überläuferfilmen neu bestimmbar wird.
Anknüpfend an den großen Publikumserfolg QUAX, DER BRUCHPILOT (1941) wechselte Heinz Rühmann in QUAX IN AFRIKA (1943-44/47) die Seiten. Der undisziplinierte Flugschüler Otto Groschenbügel ist zum strengen Fluglehrer aufgestiegen. Als er sich dann noch für den „Europaflug“ – einen wichtigen internationalen Wettbewerb – mit einigen Fliegerinnen zusammentun muss, sind die Konflikte vorprogrammiert. Nach einem Absturz in Afrika liegen alle Hoffnungen auf dem ehemals aufmüpfigen Flugschüler Fips. Groschenbügel und seine Copilotin Renate Scholl (Hertha Feiler) lauschen an einem improvisierten Radioempfänger einer Liveübertragung des Zieleinlaufs.
Es stellt sich heraus, dass sich Fips dank der wertvollen Ratschläge und technischen Ideen Groschenbügels letztlich durchsetzen konnte. In einer Parallelmontage sehen wir den siegreichen Piloten, wie er umringt von Fans vor ein großes Rundfunkmikrofon tritt. Der nun folgende Sprechakt richtet sich an die Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb des Films: „In der Fliegerei muss etwas über allem stehen – und das ist gar nichts Stures oder Paukerhaftes, sondern etwas Schönes und Großartiges – und das heißt: Disziplin, Disziplin, Disziplin!“ Die Kamera fährt dabei in einer stark untersichtigen Großaufnahme an Fips heran und unterstreicht die Bedeutung der Worte. Parallel dazu sehen wir das Paar in Afrika andächtig lauschen, bis Rühmann das Wort „Disziplin“ bei seiner dritten Nennung bestätigend mitspricht. Durch die Zuschaustellung der Aufnahme- und Wiedergabetechnik, die im Nationalsozialismus ein entscheidendes Mittel der Machtausübung war, – aber auch durch die zelebrierende Art, wie der Sprechakt die Filmzuschauer adressiert, handelt es sich zweifelsohne um einen hervortretenden Moment der filmischen Selbstreflexion. Wir werden Zeugen, wie sich Heinz Rühmann in den Dienst des ideologisch durchwirkten NSUnterhaltungsfilms stellt. Die Ernsthaftigkeit, mit der er hier den unbedingten Willen zur Disziplin ausdrückt, lässt auch auf die prekäre Lage seiner Frau Hertha Feiler schließen, die hier als Renate gute Miene zum bösen Spiel macht. In Auslegung der Nürnberger Rassegesetze konnte die Sondergenehmigung für die „Vierteljüdin“ jederzeit zurückgenommen werden. Indes wird die NS-Ideologie in QUAX IN AFRIKA nicht etwa mit Zeichen und Symbolen wie Uniformen oder Hakenkreuzbannern abgebildet, sondern ist ganz in die ästhetische Produktion des Spielfilms eingeschrieben. Rühmann, der in seinen Rollen den ewigen Querulanten gab, beugte sich vor einer höheren Instanz, die sich zwar in die preußische Tugend der Disziplin kleidete, aber zweifelsohne in Diensten der Durchhaltepropaganda stand.
2. Ein stummes Streitgespräch
Zwei Fremde haben es auf dieselbe Wohnung zur Untermiete bei einem älteren Herrn abgesehen. Da weder Jürgen (Paul Klinger) noch Marianne (Karin Hardt) kleinbeigeben wollen, behaupten sie kurzerhand, ein Ehepaar zu sein und ziehen beide ein – so die Ausgangssituation in VIER TREPPEN RECHTS (1944-45/50). Auf einige komödiantische Kämpfe folgen zuerst die große Liebe, später Streit und Trennung. Doch Marianne vergisst ihr Geld und muss noch einmal zurück in die gemeinsame Wohnung. An der Gegensprechanlage lässt sich Jürgen durch den alten Vermieter verleugnen, um Marianne nicht zu verschrecken.
Die visuelle Inszenierung der Tonübertragung – das Sonic Icon – macht die Finte für uns Zuschauer verständlich. Jürgen nutzt die erschwindelte Zeit und stürmt nach unten, wo er Marianne im Fahrstuhl zur Rede stellt. Stockwerk für Stockwerk können wir das streitende Paar durch die Glastüren beobachten. Die Vorbeifahrt nimmt Züge einer episodischen Bildergeschichte an, während der Dialog akustisch ausgeblendet und von der orchestralen Filmmusik überlagert wird. Der Sprechakt wird von sich wiederholenden Streichervariationen ersetzt, während sich die Figuren – er heftig gestikulierend, sie ihm immer zugewandter – beständig näherkommen. Die Bild-Ton-Choreographie kulminiert in einem Kuss, inklusive dramatischer Zufahrt und großem orchestralen Finale. Das Sonic Icon verweist auf filmgeschichtliche Bezüge, die zur Produktionszeit im Nationalsozialismus zwar an der Tageordnung, offiziell aber nicht opportun waren. So bedient sich VIER TREPPEN RECHTS audiovisueller Techniken des Melodrams, wie sie etwa von Hans Detlef Sierck in seinen Filmen ZU NEUEN UFERN (1937) und LA HABANERA (1937) eingesetzt wurden, bevor er als Douglas Sirk ins amerikanische Exil floh. Die beschriebene Sequenz zeigt, dass sich das Medium Film seiner genuinen Gestaltungstechniken nicht verweigern kann. Wahrscheinlich wäre es zu viel, hier von einer wie auch immer gearteten ästhetischen Opposition zu sprechen, und dennoch sind es derartige ästhetische Figurationen, die das komplexe Verhältnis von filmgeschichtlichen und zeitgeschichtlichen Brüchen und Kontinuitäten markieren. Unter Berücksichtigung der Produktionsbedingungen stellt das Ausblenden des Dialogs eine politische Pragmatik dar. Das im Drehbuch geschriebene – oder später im Film dann gesprochene – Wort war der Zensur schutzlos ausgeliefert. Es erscheint konsequent, die – oft im vorauseilenden Gehorsam – ideologisch geglätteten, sinnentleerten Dialoge gleich wegzulassen. Stattdessen bleibt das Gesagte der Imagination der Zuschauer überlassen. Die dramatische orchestrale Musik ersetzt auch das, was im Nationalsozialismus besser nicht ausgesprochen wurde. Warum sind die Wohnungen überhaupt so knapp? Ist es der von der Politik verschuldete Bombenkrieg, der die prekäre Situation des späteren Paars erst verursacht hat? Lässt sich darauf eine Partnerschaft, ein gemeinsames Leben aufbauen? Diese Fragen waren auch 1950 noch von Bedeutung, als der Film seine verspätete Premiere feierte. Das Sonic Icon in VIER TREPPEN RECHTS blieb auch in der Gegenwart des Wirtschaftswunderlandes anschlussfähig. Mehr noch, der Film entwickelt auch hier einen zeithistorischen Bezug: Während Kriegsfolgen wie der Wohnungsmangel noch immer präsent waren, wurde der Diskurs darüber mit vielen Geigen und Zuckerguss überspielt.
Eine junge Frau (Margot Hielscher) und ihre Begleiter – darunter der junge Architekt Robert (Albert Matterstock) – suchen in einem alten Gemäuer Schutz vor einem Gewitter und erleben allerlei Geistererscheinungen. Doch der SPUK IM SCHLOSS (1943-45/47) erweist sich als technische Konstruktion. Der vermeintliche Schlossherr ist ein geschickter Illusionist, der mithilfe von Infrarotstrahlen hologrammartige Bilder erzeugt, die gleichzeitig vertont werden. Am Ende des Films wird der Prozess der Ton-Bewegtbild-Produktion im Rahmen einer Theaterrevue vorgeführt. Der Film bedient sich hierbei verschiedener Überblendungseffekte aus der Frühzeit des Kinos und kombiniert sie mit Toneffekten, deren Erzeugung mithilfe der Darstellung eines Technikers am Mischpult sichtbar gemacht wird.
Das Sonic Icon führt nicht ohne Ironie den Versuch des Einhegens und des Kontrollierens der filmischen Affektproduktion vor Augen, wie ihn die nationalsozialistische Filmpolitik unternahm. Die Überblendungseffekte verweisen jedoch gleichzeitig auf die Magie und die Attraktion des frühen Kinos. Der zeithistorische Zugriff des Sonic Icons lässt sich noch weiterdenken: Der Regisseur Hans H. Zerlett verkörperte ganz die Ambivalenzen des Filmschaffens im Nationalsozialismus. Durch den antisemitischen Musikfilm ROBERT UND BERTRAM selbst nicht unbefleckt, machte er ab 1942 nur noch Unterhaltungsfilme, die – ästhetisch betrachtet – auch auf offiziell gemiedene Strömungen wie den Deutschen Expressionismus und den amerikanischen Slapstick zurückgriffen. So auch SPUK IM SCHLOSS, in dem überdies die audiovisuell konstruierten Geister der Vergangenheit mit einem unangenehmen Pfeifton belegt werden – eine akustische Störung, die hier gleichsam die Widersprüchlichkeit des Überläuferfilms markiert.
Die Kurzanalysen zeigen, dass Winfried Pauleits Konzept der Sonic Icons auch als Intervention, als strukturbildendes Werkzeug einer revisionistischen Filmgeschichtsschreibung genutzt werden kann. Die Beschäftigung mit den Sonic Icons macht die unsichtbaren Verflechtungen zwischen der Phänomenologie einzelner FilmErfahrungen und den in die filmische Ästhetik eingeschriebenen zeithistorischen Zusammenhängen sichtbar. Es gilt somit, nicht nur genau hinzusehen, sondern gleichzeitig auch genau hinzuhören, um den historischen Spuren des Tons folgen zu können.
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Lowry, Stephen (1994) Der Ort meiner Träume. Zur ideologischen Funktion des NSUnterhaltungsfilms. in: montage AV 3/2/1994, S. 55–72.
Nannicelli, Ted (2020) Artistic Creation and Ethical Criticism, Oxford: Oxford University Press.
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Pauleit, Winfried (2018) Sonic Icons. Hervortretende Momente der filmischen Selbstreflexion, in: Pauleit, Winfried/Greiner, Rasmus/Frey, Mattias. Audio History des Films. Sonic Icons – Auditive Histosphäre – Authentizitätsgefühl, Berlin: Bertz + Fischer, S. 20–85.
Pauleit, Winfried/Greiner, Rasmus/Frey, Mattias (2018a) Audio History des Films. Sonic Icons – Auditive Histosphäre – Authentizitätsgefühl, Berlin: Bertz + Fischer.
Pauleit, Winfried/Greiner, Rasmus/Frey, Mattias (2018b) Einleitung, in: Pauleit, Winfried/Greiner, Rasmus/Frey, Mattias. Audio History des Films. Sonic Icons – Auditive Histosphäre – Authentizitätsgefühl, Berlin: Bertz + Fischer, S. 9–19.
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