Autorenkino und Filmschauspiel
In einem seiner Filme, LA FEMME QUI PLEURE / DIE FRAU, DIE WEINT (F 1978), steht Jacques Doillon in der Küche seines Landhauses und blickt hinaus auf die vor ihm liegende Dachterrasse. Die Kamera hat die Szene von außen aufgenommen, die Zuschauerin sieht Jacques Doillon in der Rolle des Jacques hinter dem Glas, auf dem sich spiegelt, was Jacques sieht: seine Geliebte Haydée (gespielt von Haydée Politoff), sein Kind Lola (gespielt von Lola Doillon), seine Ehefrau Dominique (gespielt von Dominique Laffin) in wechselnden Konstellationen und Stimmungen. Jacques hatte Vorstellungen von einer offenen Zweierbeziehung, von Liebe nicht als Besitz, doch es sieht nicht gut aus, eine Dreiecksgeschichte löst sich auf, Jacques Gesicht verdunkelt sich. Das Bild der reflektierenden Glasscheibe im Breitwandformat, die den Regisseur in der Rolle des Voyeurs und Voyants zeigt, als einen, der eine Szene zugleich imaginiert und beobachtet, der in seinem Film ist und dessen Bilder sich ausdenkt, der in seinem Film sieht, wie seine Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche scheitern, resümiert die Anlage des ganzen Filmes und kann darüber hinaus für Doillons Art, Filme zu machen, stehen. Jacques Doillon, der Autor und Regisseur des Filmes hat in seinem Film eine Rolle übernommen, in der nur die Dialoge, die fiktive Situation und das Zusammenspiel mit zwei Schauspielerinnen vor einer Kamera eine Distanz zu seinem wirklichen Leben schaffen, ansonsten spielt Doillon ohne Charaktermaske in seinem eigenen Haus, mit seiner dreijährigen Tochter und redet, wie er auch in Interviews spricht. Er spielt Jacques, einen Mann der vage als Autor charakterisiert wird, er figuriert den von seinem eigenen Drama überraschten und besiegten Dramaturgen, einen Autor, der in seine Geschichte gerät und seinen Figuren begegnet, die von SchauspielerInnen gespielt werden, die ein Wörtchen mitzureden haben in seinen Dialogen, die ihm die Brocken hinwerfen und wütend davonstapfen oder ihn cool analysieren. Er ist Zuschauer in einem emotionalen Drama, das ihn angeht, dem er entgehen möchte, das er betrachten möchte, aber sein Gegenüber, seine Schauspielerin Dominique Laffin in der Rolle der Dominique, der Ehefrau, packt ihn am Hosenbund und fordert emotionale, leidenschaftliche Nähe, Zuwendung, Liebe, Sex. (Vgl. Streiter 2002)
Ganz ähnlich hat sich auch Philippe Garrel in LES BAISERS DE SECOURS / TRIADEN DER KÜSSE (F 1989; dt. eigentlich ‚Die rettenden Küsse‘) inszeniert. Er spielt hier zusammen mit seiner Frau Brigitte Sy und ihrem gemeinsamen vierjährigen Sohn Louis. Er spielt einen Filmemacher, Mathieu, der einen Film über seine Beziehung, seine Liebe drehen möchte, der aber die Rolle seiner Frau Jeanne, die eine unbekannte Schauspielerin ist, nicht mit seiner Frau besetzten will, sondern mit einer faszinierenden Starschauspielerin: Anémone. Er unterhält sich darüber auch mit seinem Vater, der vom Vater von Philippe Garrel gespielt wird, von Maurice Garrel, einem bekannten Schauspieler. In der Rolle des Vaters von Maurice rät er seinem Sohn, doch vielleicht endlich Filme mit Dialogen zu machen. Tatsächlich ist dieser Film der erste Film Garrels, der stark dialogisiert ist. Brigitte Sy geht im Film in der Rolle der Ehefrau Jeanne zu der Schauspielerin Anémone, die im Film im Film ihre Rolle spielen soll. Sie verlangt von ihr, ihr diese Rolle zurückzugeben. Außerdem bricht sie einen Ehekonflikt vom Zaun und zwingt ihren Mann so, sich mehr um sie und ihren Sohn zu kümmern, als um seinen Film. Sie fahren aufs Land, wo sie Maurices Mutter treffen, die von Garrels Mutter gespielt wird. So ist der Film, den man am Ende gesehen hat, der mit Garrel, seiner Frau, ihrem gemeinsamen Sohn und dessen Großeltern. Die Szenen einer Ehe mit Krise und Versöhnung haben den Platz des ‚fiktiven‘ Filmes über eine Liebe eingenommen.
Garrel entdeckt die Notwendigkeit, seinen Körper in den Film einzubringen. Gewiß, das hatten schon Godard und Doillon gemacht. Aber Garrel geht weiter. Er transferiert in den Film das unbezeichenbar Reale der Liebe: er setzt sich an der Seite seiner eigenen Frau, seines eigenen Sohnes, seines eigenen Vaters in Szene. Und wenn auch die Vornamen geändert sind, die Liebesbanden und die Blutsbanden sind, verschoben, intakt, im Film. (...) Das Kino Garrels bewegt sich und zittert, nicht weil es Körper bewegte und noch weniger durch irgendeine Hysterie; das Kino Garrels bewegt sich, weil es Grenzen setzt, weil es Plätze zuweist. Eben durch die Zuweisung der Rollen schafft er eine Dissymmetrie unter den Figuren, eine Dissymmetrie, die fähig ist, in Bewegung zu versetzen. Die Unterschiede zwischen den Figuren sind Bewegungsmittel. Dass Garrel „das Problem der drei Körper ausdrückt: Der Mann, die Frau und das Kind“ (Deleuze 1991:256) ist nicht neu. Die Neuheit ereignet sich durch die autobiographische Darstellung. ... die autobiographische Darstellung macht aus dem Film den Ort eines Unterschiedes zwischen dem Film und dem Leben. Es ist zwar Garrel in dem Film, aber Garrel, der eine Rolle spielt: er und nicht er. (...) Die Frage der Rollenverteilung des Filmes – das Casting – wird sichtbar als eine wesentliche Frage des Kinos. (...) Es sieht so aus, als ob die autobiographische Darstellung es ermöglicht, über das Kino zu sprechen, in dem man es mit einem Jenseits des Kinos verbindet. Der Film ist konstituiert als Grenze zwischen zwei Plätzen. (...) Ein Film lebendig wie dieses Kind, das zwischen den Erwachsenen sich bewegt, aber auch zwischen dem Film und dem Zuschauer. Der Sohn, der einzige, der seinen Vornamen behält, geht vom Film zum Leben über und ganz wie die Liebe (die vom Leben in den Film transportiert wird) funktioniert er als ein Fluchtpunkt, der die Öffnung auf die Wirklichkeit schafft. (...) Genese eines Blickes auf sich mit den anderen (denn das Neue an dem Film Garrels ist es, die Modalitäten eines Seins-mit-dem-Anderen zu betrachten).1
Als Sabine Nessel mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, im Rahmen der von ihr organisierten Reihe ‚Perspektiven der Filmwissenschaft‘ einen Vortrag zu halten, einigten wir uns gemeinsam auf den Körper als Kategorie, die diesen Vortrag strukturieren sollte. Dennoch würde ich, fragte man mich nach meinem filmwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt, nicht vom ‚Körper‘ oder vom ‚Körperkino‘ sprechen, im Wesentlichen wegen der irreführenden Assoziationen und Vorstellungen, die diese Vokabeln hervorrufen. Zwar geht es in den Texten, die ich bisher geschrieben habe immer wieder um den Körper, den geschlechtlichen, den begehrenden, den sprechenden, den unbeherrschbaren, den sterblichen Körper (s. Literatur). Ich komme tatsächlich immer wieder auch bei den Körper und die Körperlichkeit betreffenden Fragen an. Ausgangspunkt dieser Überlegungen und Texte ist aber zumeist die Zusammenarbeit von FilmautorInnen und FilmschauspielerInnen, das Verhältnis des Lebens zum Film und der Personen zu ihren Rollen sowie die daraus entstehenden Figuren. Mit Mazabrard kann ich es hier so formulieren: Zentrum meines Interesses ist die Betrachtung der „Modalitäten eines Seins-mit-dem-Anderen“; anders gesagt: das Kino, insofern es die Frage der Gemeinschaft stellt. Dass Deleuze in seinen Beschreibungen eines „Kinos der Körper“ (Deleuze 1991, Achtes Kapitel, 244-262) eben ein solches Kino meint und benennt, versuche ich im Folgenden zu zeigen.
Meine Dissertation, die ich in der Zeit nach dem Vortrag und vor dem Verfassen dieses Textes beendet und verteidigt habe, trägt den Titel Jacques Doillon. Autorenkino und Filmschauspiel (erscheint voraussichtlich im Verlag Vorwerk8) und behandelt das Thema anhand von sechs Filmen Doillons, einigen Filmen des französischen Nachkriegskinos und einem Vergleich mit dem Kino des Iraners Abbas Kiarostami. Die Arbeit geht der Frage nach, was es eigentlich heißt, als Autor oder Autorin sich Geschichten, Verhältnisse zwischen Figuren auszudenken, Dialoge zu schreiben, DarstellerInnen (ob Laien oder Profis) auszuwählen, sie vor eine Kamera in eine sie umgebende Welt (Landschaft, Innenraum, Dekor) zu stellen und das Ganze zu filmen. Was ist ‚das Ganze‘ dann? In welchem Verhältnis steht das zuvor Geschriebene, Erdachte, zu dem, was die DarstellerInnen sind und tun und zu der Welt, innerhalb derer sie sind und handeln? Was filmt die Kamera, wenn sie Leute filmt, die für den Autor, an seiner Statt oder zumindest auf seinen Wunsch hin sich vor der Kamera bewegen, sprechen, miteinander in Kontakt treten? Die Filme, die mich begeistert haben, warfen in mir immer die sehr auf die Praxis bezogene Frage auf, was das eigentlich für ein Prozeß ist: das Erarbeiten von Szenen und Figuren, wie die Verhältnisse zwischen RegisseurIn, Rolle, SchauspielerIn zu beschreiben wären und wie sie im fertigen Film zum Tragen kommen. In welchem Sinne bedarf der Autor oder die Autorin der DarstellerInnen? Repräsentieren sie, befragt er sie? In welchem Sinne arbeiten sie gemeinsam und was kann es heißen, gegenüber anderen Menschen, gegenüber einem Gesicht oder gegenüber einer Landschaft, AutorIn zu sein? Wo ist der Platz des Autors in diesem Einander-Gegenüber-Sein? Wo ist der Platz des Einzelnen gegenüber den Anderen und der Welt?
In Einzelanalysen, deren Bewegung im Rahmen eines Artikels nicht darstellbar ist, habe ich versucht, sichtbar und nachvollziehbar zu machen, dass und wie ein Film eine Grenze sein kann, ein Ort zwischen dem Leben und der Fiktion, ein Transitraum, durchlässig für beide Seiten und keiner ganz zugehörig, sondern eben Grenze, der virtuelle Ort, an dem beide Seinsweisen der Wirklichkeit und Fiktion aufeinandertreffen. Wodurch möglich wird, dass auch die Einzelnen, AutorInnen und SchauspielerInnen, sich an ihren Grenzen begegnen, in einem virtuellen Möglichkeitsraum, in dem sie Andere werden können, wie Deleuze es formuliert.
Deleuze beschreibt in dem Kapitel über ‚Mächte des Falschen‘ oder die Kraft der Fälschung (Deleuze 1991, Sechstes Kapitel: 168-204), ein Kino des Werdens, ein „drittes Zeitbild“, welches „das Vorher und Nachher in einem Werden zusammenführt“ (204). Das „Kino der Körper“ ist eine Spielart dieses dritten Zeitbildes. In „Die Mächte des Falschen“ entwickelt Deleuze vor allem am Beispiel der Filme von Jean Rouch, Pierre Perrault, Shirley Clarke, John Cassavetes und Jean-Luc Godard eine Auffassung von Kino, von Filmschauspiel und Filmautorenschaft, in der das Spiel nicht repräsentativ ist, die SchauspielerInnen keine Erzählung beglaubigen müssen, sondern der Spielplan des Drehbuchs, seine Dialoge oder seine Struktur, dazu dient, die SchauspielerInnen zu provozieren, sie auf der Grenze zwischen sich als Person und ihrer Rolle, in einem schillernden Zwischenbereich der Virtualität spielen und sie so zu anderen werden zu lassen. In diesem Kino des Werdens, so Deleuze, wird auch der Autor ein Anderer, genauer gesagt, die Person des Filmemachers/der Filmemacherin wird zum Autor,
insofern er reale Personen als Vermittler nimmt, und seine Fiktionen durch ihre eigenen Fabulationen ersetzt, aber, umgekehrt, diesen Fabulationen die Gestalt von Legenden gibt, eine ‚mise en légende‘, ein ins Legendensetzen vollzieht. (Deleuze 1985:198f. Übersetzung von mir).
In dieser Arbeit der gegenseitigen Aneignung und Formung des Vorgeschlagenen, die Deleuze vor allem unter den Aspekten der freien indirekten Rede und der Fabulation entwickelt, wird das Autorenwort, die auktoriale Fiktion, und die von der Autorenrede geprägten Dialoge durch den Schauspieler interpretiert oder durch eine Fabulation ersetzt und umgekehrt, das Spiel der SchauspielerInnen durch die Operationen der Person des Filmemachers/der Filmmacherin interpretiert und geformt. Im performativen, nicht repräsentativen Prozeß der Erarbeitung der Figuren, zu der auch die Figur des Autors gehört, entsteht eine filmische Welt, die gekennzeichnet ist von der gegenseitigen Bezogenheit der ProduzentInnen, der SchauspielerInnen und der RegisseurInnen, ihrer gegenseitigen Erhellung und durch die nur in der gemeinsamen Arbeit mögliche Überschreitung dessen, was dem Einzelnen möglich ist. Die so in der gemeinsamen, nicht herrschaftlich organisierten, sondern dialogisch gestalteten Arbeit eroberte Dimension des Virtuellen, der noch unausgeschöpften Möglichkeit affiziert nicht nur die ProduzentInnen, sondern die Filme als solche, ihren Bildstatus. Die so erarbeiteten Filme sind, als ganze, fabulierende Filme, freie indirekte Rede, gemeinschaftliche Schöpfung von Wahrheit. Ausdrücklich bezieht Deleuze die Effekte des vor der Kamera stattfindenden Arbeitsprozesses auf „das ganze Kino“:
Es ist das ganze Kino, das, in der Wirklichkeit operierend, zu einer freien indirekten Rede wird. Der Fälscher und seine Mächtigkeit, der Cineast und seine Figur, oder umgekehrt, da sie nur durch diese Gemeinschaft existieren, die ihnen erlaubt zu sagen: „wir, Schöpfer der Wahrheit“. (Deleuze 1985:202, meine Übersetzung, vgl. Deleuze 1991:204)
Die wesentlichen Aspekte dieses entscheidend veränderten theoretischen wie praktischen Blickes auf das Zusammenspiel von FilmschauspielerInnen und FilmemacherInnen arbeitete Nicole Brenez in einem sehr erhellenden Aufsatz heraus (Brenez 1989). Ausgehend von den Arbeiten Godards erarbeitet sie eine Unterscheidung verschiedener Schauspielsysteme, wobei die Frage nach der Auffassung des Schauspiels für sie von zentraler Bedeutung für die Beschreibung der Veränderungen ist, die sich im französischen wie allgemein im europäischen Autorenfilm der Nachkriegszeit auf allen Ebenen (Realismusauffassung, Narration, Bildstatus) vollzogen. Brenez unterstreicht:
die Art, in der ein Dispositiv den Schauspieler integriert und plaziert (...), kann der Knotenpunkt sein, an dem alles, was ästhetisch auf dem Spiel steht, zusammenläuft. (Brenez 1989:72)2
Von diesen Überlegungen ausgehend unterscheidet Brenez zunächst einmal zwischen einem klassischen und einem modernen Schauspielsystem. Das klassische System zielt auf die Glaubwürdigkeit einer Fiktion. In ihm
geht man davon aus, daß man von Schauspiel spricht, wenn es eine Rolle gibt und daß das Schauspiel sich definiert als ein Dispositiv des Eintritts in die Rolle, also die Transformation eines Subjekts, des Schauspielers, in ein Objekt, das selbst Stütze für ein anderes Subjekt ist, die Figur. Das Schauspiel wird also als ein transitorisches, vektorisiertes, indizielles Dispositiv aufgefaßt. Es ist eine Überführung und der Schauspieler, um das schöne Bild Hegels aufzugreifen, eine ‚lebende Statue‘ (...). Alles zielt auf eine ‚Präsentifizierung‘, auf die Präsenz von Effekten der Fiktion. (Ebd.)3
In diesem System gibt es zwei Arten des Verhältnisses zwischen Schauspiel und Figur. Entweder das Schauspiel ist transparent und zielt allein auf die Produktion der fiktionalen Figur. Oder es ist opak und verweist auf sich selbst: das Schauspiel zeigt das Spiel. Das ergibt im klassischen System die Burleske.4
Vom klassischen Schauspielsystem unterscheidet Brenez ein modernes System, das sie auch System der Enthüllung oder der Offenbarung nennt. Dieses Schauspielsystem sucht in einer Überschreitung oder Unterschreitung der Fiktion den Weg zum Sein, zur Wahrheit.
In einem im Gegensatz dazu ‚modern‘ genannten Regime, das mit Renoir beginnt und ebensosehr mit VIAGGIO IN ITALIA / LIEBE IST STÄRKER (I/F 1954) wie mit der Lektüre dieses Films durch Rivette und Godard, zielt die Behauptung auf die Präsenz von etwas, das nicht der Ordnung der Fiktion angehört, sondern der des ‚Seins‘. Das ist die Formel des modernen Kinos: die Erzählung enthüllen, die in jedem Körper schlummert. (Ebd., 73)5
Was innerhalb dieses Schauspielsystems auf dem Spiel steht, sind, so Brenez, Fragen der Ontologie, d.h. Fragen nach dem Sein:
Die Stellung des Schauspielers ermöglicht es, die Verbindung herzustellen zwischen der Ästhetik (zu der das Spiel des Schauspielers gehört) und der Ontologie (der Art des Glaubens an das Sein, also der ‚Repräsentation des Seins‘, die im Film interveniert, als Mittel oder als Zweck). (Ebd.)6
Das Schauspielsystem der Offenbarung oder Enthüllung ist, so Brenez, von dem Glauben geprägt, durch Effekte von Präsenz im Schauspiel entweder die Wahrheit des Seins zu berühren oder den Zugang zur Frage nach dem, was das Sein ist, zu ermöglichen. Im ersten Fall spricht Brenez von einer „positiven Ontologie“, im zweiten Fall von der Auseinandersetzung mit dem „Problem an sich der Ontologie“. (Ebd.) Das moderne Schauspielsystem der Offenbarung geht in beiden Fällen davon aus, daß das Spiel Wahrheit enthält und produziert und nicht nur auf eine Wahrheit, die außerhalb des Spiels liegt, verweist. Zielt das Schauspielsystem in der „positiven Ontologie“ auf das „Sein“, dann zielt es auf etwas nicht Fiktives, etwas, das sich zumindest momentan in seiner Wahrheit enthüllt. Godard äußerte sich in diesem Sinne. Sein Film – er spricht von DEUX OU TROIS CHOSES QUE JE SAIS D'ELLE / 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHR WEISS (F 1966) – enthülle vielleicht „in manchen Momenten, in manchen Bildern, in manchen Geräuschen“ das, was „Merleau-Ponty die einzigartige Existenz einer Person nannte.“ (Ebd.,74)7
Dagegen geht es in der zweiten Variante des Schauspielsystems, das sich der Frage nach dem Sein stellt, um den Schauspieler nicht als Person (als dessen wahrem Kern), sondern als Subjekt, d.h. hier: als ein Sein, dessen Wesen die Möglichkeit ist.
Diese Haltung ist in dem Dispositiv, das den Schauspieler umgibt, zu lesen: dieser befindet sich im Zentrum einer Befragung, deren Objekt er ist, die ihm aber ein Feld eröffnet, wo er von sich aus das, wonach ihm ist, manifestieren kann. Es handelt sich also nicht um die Enthüllung eines nicht fiktiven, versteckten ‚Wesens‘, das Individuum unter dem Schauspieler; dem Schauspieler als Subjekt gilt Priorität. Etwas, das mit ihm zu tun hat, ist das Signifié des Dispositivs und vor ihm richtet man sich wartend ein, ohne zu versuchen, einen protokollarischen, ideologischen Inhalt einer schon etablierten Auffassung des Wesens zu überprüfen; sondern man hält sich den Schauspieler verfügbar, der als wesentliche Disponibilität aufgefaßt wird. Der Film geht in Wartestellung, in Erwartung einer Parousie; der Schauspieler ist, wenn man das so sagen kann, im ‚stand by‘ zwischen dem System einer fiktionalen Verkörperung und dem ‚Enthüllungssystem‘. Er ist, und wir sind mit ihm voller Erwartung einer Ankunft, die die Existenz der präsenten Kreaturen mit einer Hypothek belegt und sie zerbrechlich, anmutig und unbestreitbar macht. Wir sind im Virtuellen. (Ebd., 74)8
Auch Frieda Grafe hat in einem Artikel über Jean Renoir, einem der frühesten Protagonisten der Entwicklung eines Kinos des Werdens, darauf hingewiesen, dass die oft zu findende verharmlosende Beschreibung dieser Veränderung der Stellung des Filmschauspielers/der Filmschauspielerin als Improvisation „eine irreführende Verharmlosung ist von etwas, das in Wirklichkeit eine Strukturveränderung war, die tief in den Bildstatus eingriff.“ (Grafe 1996:10)
Umgekehrt möchte ich an dieser Stelle unterstreichen, dass der Bildstatus des ‚Kino der Körper‘ nicht vom Körper als Sujet aus zu begreifen ist, sondern von der Produktionsweise her. Das ‚Kino der Körper‘ ist kein Kino der Kreatürlichkeit und der Unmittelbarkeit, sondern ein Kino des Spiels, der Theatralisierung, der in der Erarbeitung der Figuren stattfindenden Begegnung von Personen, die zu AutorInnen und FilmschauspielerInnen werden und, in zeitweiliger Ununterscheidbarkeit dieser Positionen, Figuren schaffen. AutorInnen werden zu Figuren in ihren eigenen Filmen und die FilmschauspielerInnen schaffen in den Filmen sich selbst inszenierende, sich selbst entwerfende, sich ihre eigenen Reden schreibende Figuren. Ich denke hier neben den eingangs erwähnten Filmen u.a. an Godard in PRÉNOM CARMEN / VORNAME CARMEN (F 1982), an Chantal Akerman in JE, TU, IL, ELLE / ICH, DU, ER, SIE (B 1974), Cassavetes in LOVE STREAMS (USA 1984), an die von Jean-Pierre Léaud gespielte Figur in LA MAMAN ET LA PUTAIN / DIE MAMA UND DIE HURE (F 1973) von Jean Eustache sowie an all die Autoren- und Regisseursfiguren in den Filmen Doillons. Deleuzes Beschreibungen der Filme von Cassavetes, Carmelo Bene, Andy Warhol, Godard, Jacques Rivette, Patrice Chéreau, Akerman, Eustache, Garrel, Doillon u.a. betonen keine neue Fleischlichkeit, Unmittelbarkeit, oder Natürlichkeit, sondern die „Zeremonie“, die Mittel der Inszenierung, die aus den Körpern der DarstellerInnen, genauer aus deren Rollenspiel, aus deren Haltungen, Gesten, aus der Inszenierung des Auftretens und Verschwindens „eine Theatralisierung oder Dramatisierung“ hervorbringen, „die jede Intrige aufwiegt“ (Deleuze 1991:248). Deleuze beschreibt kein Kino, das in das stumme Fleisch des Körpers vordränge, kein orgiastisches Kino der freien Körperkultur oder ein Panoptikum der Abnormitäten, sondern ein Kino, das sich in immer verschiedener Weise, jedoch immer auf der Ebene der Zusammenarbeit von FilmautorIn und FilmschauspielerInnen die Frage der Gemeinschaft stellt. „Wie kann man existieren, persönlich, wenn man es nicht allein kann?“ so formuliert Deleuze das Problem der von Gena Rowlands in Love Streams gespielten Hauptfigur und diese Formulierung des Problems scheint mir die gemeinsame Fragestellung des ‚Kino der Körper‘ ganz gut zu fassen.
Deleuze beschreibt die Konstruktion der Szenen, die Hervorbringung von Figuren im Verhältnis zum Raum, zur Geschichte, zur Handlung, und das Verhältnis der Figuren zu ihren „Zeremonienmeistern“ (ebd.:246), die sie erwecken, beleben, sich unter sie mischen. Sein Augenmerk gilt der Inszenierung: Wie entstehen die Figuren? Sind sie an eine Geschichte gebunden oder entstehen sie aus den Haltungen, Gesten, aus den Stimmen der DarstellerInnen? Sind sie von vorneherein gesetzt oder entwickeln sie sich im Laufe des Filmes „von Wort zu Wort“, von „Geste zu Geste“ (ebd:249)? Wie halten es die AutorInnen mit ihren DarstellerInnen: ziehen sie ihnen einfach Bilder ab, mit denen sie dann ihre Geschichten erzählen, oder geben sie die Bilder den DarstellerInnen zurück? Diese von Deleuze als „Politik des Bildes“ (ebd.:250) bezeichnete Haltung der AutorInnen denen gegenüber, die in ihren Filmen agieren, führt zu einer Sichtbarmachung der schauspielerischen Arbeit. Die Filme zeigen die Loslösung des Schauspiels von den Rollen, das Spiel als Spiel für sich, mit sich, mit dem Gegenüber, in einem Überschuß der Darstellung, der Performance, gegenüber der Handlungslogik.
Dieses „Kino der Haltungen“(„ce cinéma des attitudes“, Deleuze 1985:251) ist ein Kino, in dem die Frage der Art der Arbeit von und mit SchauspielerInnen, die Frage nach dem, was es heißt, die Kamera auf eine Person, ein Paar, eine Gruppe von DarstellerInnen zu richten, im Vordergrund steht, und diese Frage des Verhältnisses zwischen Regie und Schauspiel in unmittelbarem Verhältnis steht zu dem, was die Filme inhaltlich inszenieren: Liebesbeziehungen, Begehrensverhältnisse, Gruppenprozesse, die Einsamkeit und die Gemeinschaft. Charakteristischer Weise kommt es in den Filmen des ‚Kinos der Körper‘ zu einer Durchdringung von Szenen des Alltagslebens, der Intimität und Häuslichkeit, der Szenen einer Ehe, mit dem Szenischen, dem Theatralen, dem Filmischen an sich. Die Figuren treten auf den Bühnen ihrer Leben auf, sie zeigen sich als schlechte Schauspieler ihrer Phantasien, als miserable RegisseurInnen ihrer Liebesträume, sie zeigen sich als liebesbedürftige SchauspielerInnen und tyrannische RegisseurInnen. Die Beschränkung auf die intime Welt und die Konzentration auf den Prozeß der Zusammenarbeit vor der Kamera bedingen einander. Auf beiden Ebenen (der Produktionsseite und der Darstellungsebene) gibt es eine Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, und mit der Frage nach dem, was Menschen verbindet und was sie trennt, nach der Möglichkeit von Gemeinschaft. In diesem Kino schrumpft die Welt auf die Welt der Beziehungen, oder vielmehr, sie geht daraus hervor. Es ist ein Kino der Paare, der Randgruppen, der ‚Bands à part‘, außerhalb der Gesellschaft, am Rande, isoliert, zurückgezogen, asozial.
Das ist so, weil die Gemeinschaft der Einzelnen außerhalb der Gesellschaft liegt. Diese Diagnose begründet die aktuellen philosophischen und soziologischen Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, wie sie u.a. von Jean-Luc Nancy, Giorgio Agamben und Niklas Luhmann formuliert wurden (Vgl. Nancy 1986, Agamben 1990, Luhmann 1997). Diese Autoren konstatieren alle das Ende der Gesellschaft als einer Heimat des Individuums, als Ort der Verwirklichung des Menschseins. Die Realisierung der eigenen Potenz, des Wesens des Einzelnen gelingt in der Moderne nicht mehr innerhalb des gesellschaftlichen Raumes. An die Stelle dieser Form der Allgemeinheit muß das treten, was zunächst als Rückzug ins Private erscheint: der Bezug der Einzelnen als Einzelner aufeinander, ohne legitimierenden oder tranzendentalen Rahmen übergreifender Konzepte, von Volk oder Klasse, von Gott oder Kommunismus. Nancys Analyse zufolge ist eine Form, die Gemeinschaft zu denken, spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts und allerspätestens 1968 zu Ende gegangen: die, in der die Gemeinschaft gedacht wurde als das Ganze, in dem die Einzelnen, bis in ihren Tod hinein, aufgehen könnten. Das Grundproblem eines Denkens der Gemeinschaft ist dieses Verhältnis von Einzelnen, den Individuen, zu einem größeren Ganzen, z.B. der Gesellschaft. (Vgl. hierzu Eberlein 2000) Wie ist dieses Verhältnis zu denken: als Unterordnung, Beiordnung, als Aufgehen, als Addition? Welcher Art ist die Bindung, die die Einzelnen miteinander verknüpfen soll? Was ist das Maß des Lebens eines Einzelnen? Endet es mit dem Tod oder findet sich dieser Tod aufgehoben in einem höheren, gemeinschaftlich geteilten Sinn?
Generationen von Bürgern und von politischen Kämpfern, von Arbeitern und von Staatsdienern haben sich ihren Tod vorgestellt als absorbiert oder aufgehoben in einer Zukunft, einer noch zu kommenden Gemeinschaft, die zu ihrer Immanenz gelangt. Von nun an haben wir nur noch das bittere Bewußtsein der wachsenden Entfernung einer solchen Gemeinschaft, sei sie das ‚Volk‘, die ‚Nation‘, oder die ‚Gemeinschaft der Produzenten‘. Aber dieses Bewußtsein ist, wie das des 'Verlustes' der Gemeinschaft, oberflächlich. In Wirklichkeit läßt sich der Tod nicht aufheben. Die Gemeinschaft, die kommen muß, entfernt sich nicht, wird nicht aufgeschoben: sie war nie eine, die kommen mußte, sie wird nicht kommen und auch keine Zukunft bilden können. Was eine Zukunft bildet, und was daher wirklich kommt, ist immer der einzelne Tod. (Nancy 1986:38)9
Daraus folgt für Nancy jedoch nicht die unausweichliche Einsamkeit eines jeden, der Tod ist nicht das, was die Gemeinschaft zerstört und auflöst, sondern umgekehrt: die Gemeinschaft realisiert sich als Anerkennung der Unmöglichkeit, aus dem Tod einen Sinn zu schlagen, aus ihm ein „Werk“ zu machen. Daher der Titel des Buches. Die ‚entwerkte‘ Gemeinschaft ist die Gemeinschaft, die kein Werk ist, keine höhere Funktion hat, kein Ziel. Der Einzelne realisiert sich nicht in der Arbeit, noch verschmelzen die vielen ‚Ich‘ in einem ‚Wir‘, vielmehr besteht die Gemeinschaft aus der Anerkennung der Unmöglichkeit einer solchen Kommunion:
Die Gemeinschaft nimmt in gewisser Weise die Unmöglichkeit der Gemeinschaft auf sich und schreibt sie in sich ein – darin liegt ihre Geste und der ihr eigene Weg. Eine Gemeinschaft ist kein fusionelles Projekt und generell kein produktives oder zu bewerkstelligendes Projekt – sie ist überhaupt kein Projekt (...). Eine Gemeinschaft besteht darin, ihren Mitgliedern ihre sterbliche Wahrheit zu präsentieren. (Ebd., 42)10
Eine solche Gemeinschaft realisiert sich nicht in dem Aufgehen des Einzelnen in einem Paar, einer Gruppe, einer Gesellschaft, sondern, auch hier, an den Grenzen der Einzelnen, insofern sie hier miteinander die Unmöglichkeit einer fusionellen, ihr Einzelsein aufhebende Gemeinschaft teilen. Das ist die utopische Dimension dieser zumeist als narzisstisch und bürgerlich-intimistisch kritisierten Filme, deren Ansatz der Filmhistoriker und -kritiker Michel Frodon, Philippe Garrel zitierend so zusammenfasste:
eine Auffassung von Kino als fähig, das Universum ausgehend von den intimsten, den elementarsten Situationen einzufangen und wiederzugeben: ‚Mit einem Mann und einer Frau in einem Zimmer kann man alles über die Welt sagen‘. (Frodon 1995:365)11
Agamben, Giorgio (1990) La communauté qui vient. Théorie de la singularité quelconque, (Die Gemeinschaft die kommt. Theorie der beliebigen Singularität) Paris. Übersetzt aus dem Italienischen: Turin 1990.
Brenez, Nicole (1989) Le rôle de Godard, in: Admiranda. Cahiers d'Analyse du Film et de l'Image, n.4: Le jeu de l'acteur, Aix-en-Provence 1989, S. 68-76.
Deleuze, Gilles (1985) L'Image-Temps, Paris: Minuit.
Deleuze, Gilles (1991) Das Zeit-Bild, Frankfurt/Main: Suhrkamp, Übersetzung Klaus Englert.
Eberlein, Undine (2000) Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne, Frankfurt/New York: Campus.
Felix, Jürgen, Hg. (1998) Vorwort zum Sammelband.
Frodon, Jean-Michel (1995) L'âge moderne du cinéma francais. De la Nouvelle Vague à nos jours, Paris.
Godard, Jean Luc (1967) Ma démarche en quatre mouvements. DEUX OU TROIS CHOSES QUE JE SAIS D'ELLE, in L'Avant-scène Cinéma, n.70, März 1967.
Grafe, Frieda (1996) Eine Rückwärtsbewegung mit gewissen Tendenzen nach vorn, in: Nouvelle Vague. Ein Projekt von Hundertjahrekino, Viennale und Filmcasino, Wien 1996, S. 7-14.
Mazabrard, Colette (1989), L'amour, le cinéma, in : Cahiers du Cinéma, Nr. 424, Oktober 89, S.26-27.
Nancy, Jean Luc (1986) La communauté désoeuvrée (Die entwerkte Gemeinschaft), Mesnil-sur-L'Estrée (Verlag Christian Bourgeois) 1999.
Streiter, Anja (2004) Aber das Paradies ist verriegelt. Gesten und der Glaube an das Kino, in: Tanja Widmann, Hemma Schmutz (Hg.) Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem. Ausstellungskatalog der Generali Foundation, Wien.
Dies.(2003) Feel the Feelings – Dermatologie des Filmes. Zur Hautkrise und Krise des Autors, in: Christine Hanke und Regina Nössler (Hg.), Konkursbuch 41:Haut, Tübingen.
Dies.(2003) Musik in den Bildern, in: Andrea Pollach, Tanja Widmann und Isabella Reicher (Hg.) Vom Singen und Tanzen im Film, Wien: Zsolnay Verlag und Österreichisches Filmmuseum.
Dies. (2002) Die Frau, die weint, in: nachdemfilm.de, no.4: Tränen im Kino, Oktober 2002; http://www.nachdemfilm.de/
Dies.(2000) Gefilmte Rede, in: Le Musée d'Histoire et la Cinémathèque de la Ville de Luxembourg (Hg.) Cinéma live at the cathedral: La Passion de Jeanne d'Arc de Carl Th. Dreyer, Luxembourg.
Dies.(1997) Liebesstrom Todestrieb. Zeit und Subjekt in den Filmen von John Cassavetes, in: Theresia Birkenhauer und Annette Storr (Hg.) Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste, Berlin.
Dies.(1995) Das Unmögliche Leben. Filme von John Cassavetes, Berlin: Verlag Vorwerk8.