Bruno Latours Impuls und C.D. Friedrichs "Das Große Gehege" als Modellfall für eine Ästhetik des Anthropozäns
Vor dem Hintergrund unserer heutigen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel erlangen historische Naturszenarien und ihre Darstellungen in der Kunst neue Beachtung. So ist es zu verstehen, dass die von Bruno Latour, Peter Weibel, Martin Guinard und Bettina Korintenberg kuratierte Ausstellung des ZKM Critical Zones: Horizonte einer neuen Erdpolitik (2020/21) der romantischen Malerei eine eigene Sektion in der Ausstellung widmet. In beratender und mitwirkender Funktion war der Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner tätig, der in einer Videovorlesung diesen Teil der Ausstellung konzeptionell erläutert. Koerner weist ausdrücklich darauf hin, dass die Klima-Diskurse sich nicht unmittelbar in der Malerei der Romantik abbilden oder dort vorweggenommen sind, sondern dass es vielmehr aus heutiger Perspektive in der Zeit Caspar David Friedrichs ein möglicherweise verwandtes Interesse an Naturlandschaften, sowie an ihrer Geologie und Hydrologie gegeben hat, das heute wieder Bedeutung gewinnt.
Während aber Koerner die vielfach belegte Kunsterfahrung der Malerei der Romantik und insbesondere der von Caspar David Friedrich in den Vordergrund rückt, geht es mir um den Impuls, den Theoretiker*innen des Anthropozäns mit Blick auf die Ästhetik einer konkreten historischen Wasserlandschaft zu setzen suchen. Hierzu betrachte ich die Rezeptionen von Friedrichs Gemälde Das Große Gehege (1831/2) als Rahmen für eine politische Ökologie bei Bruno Latour (2017), sowie als Schlüsselbild einer Ästhetik des Anthropozäns bei Eva Horn (Horn/Bergthaller 2019). Insbesondere der Impuls von Latour schließt die Kunst Friedrichs an eine Ästhetik der materiellen Welt, sowie an die Kultur- und Medienwissenschaft an. Diese neuerliche Betrachtung eines Gemäldes und seiner spezifischen Rezeption, skizziert schließlich eine Methode, die die kulturhistorische Erfahrung von Wasserlandschaften neu denkt und ihr Vorgehen auf schwankendem Grund entfaltet. Mit dieser Kontextualisierung wird das Gemälde von Caspar David Friedrich zu einem Modellfall für die Rolle einer zeitgenössischen Ästhetik innerhalb der Anthropozän-Diskurse aber auch im Kontext der sozialen Bewegungen zum Klimawandel.
Die Diskurse des Anthropozäns werden zunächst kenntlich als politische Intervention. Naturwissenschaftler*innen rufen während einer Konferenz ein neues Erdzeitalter aus und finden damit Widerhall, zunächst bei ihren Kolleg*innen – später in immer weiteren Bereichen der Gesellschaft. Es handelt sich bei dieser Intervention um eine geochronologische Grenzziehung zwischen Holozän und Anthropozän, die das Holozän als erdhistorisches Zeitalter verabschiedet und ein neues Erdzeitalter proklamiert, in dem die Menschheit zu einem bedrohlichen Einflussfaktor für geologische und atmosphärische Prozesse geworden ist. Bedeutsamer noch erscheinen in der Folge die daraus resultierenden (möglichen) Verschiebungen etablierter Ordnungen. Dieses neue Denken codiert und befördert soziale Bewegungen und unterstreicht nachhaltig ihre politischen Forderungen. Gleichzeitig führen diese Diskurse zu Verschiebungen im Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, bringen diese auf neue Weise einander nahe und führen insbesondere in den Kultur- und Medienwissenschaften zu einer Öffnung und zur Auseinandersetzung mit neuen Themenfeldern, die bisher kaum von diesen Wissenschaften bearbeitet wurden. Berichte von dieser politischen Intervention werden wie eine Urszene beschrieben und entsprechend kolportiert:
Februar 2000, Cuernavaca, Mexiko. Bei der Jahrestagung des International Geosphere-Biosphere Programme platzte dem stellvertretenden Vorsitzenden der Kragen. Der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen, 1995 für seine Arbeiten zum Ozonloch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, hatte sich den ganzen Tag die Vorträge der Kollegen über die tiefgreifenden aktuellen Veränderungen der Erde angehört. Korrekt sprechen sie dabei von der Gegenwart als dem Holozän. Irgendwann unterbrach Crutzen sie: ‘Stop using the word Holocene. We’re not in the Holocene anymore. We’re in the … the … the Anthropocene!’ (Davies 2016: 42). Es folgte verblüfftes Schweigen, aber in der darauffolgenden Kaffeepause sprachen die Wissenschaftler von nichts anderem mehr.(Horn/Bergthaller 2019: 8)
Die politische Intervention der Wissenschaftler*innen zielt zuallererst auf gesellschaftliche Folgen, d.h. auf eine veränderte Klimapolitik. Die Diskurse des Anthropozäns – und insbesondere der beschriebene Gründungsakt als Urszene – verweisen aber auch darauf, dass die Intervention ebenso aus einem ästhetischen Part besteht: in der Beschreibung von Horn/Bergthaller wird sie als stammelnde Proklamation eines neuen Begriffs d.h. als ein theatralischer Sprechakt ausgestellt. Auch über diese Urszene hinaus erscheint die Setzung eines neuen Erdzeitalters als ein ebenso politischer wie ästhetischer Einschnitt in etablierte Ordnungen. Darauf verweist beispielsweise auch eine Theorieposition von Donna Haraway (2017) mit dem Titel: Anthropozän, Kapitalozän, Plantagozän, Chthuluzän: Making kin, sich Verwandte machen, die erneut die Dringlichkeit politischen Handelns reklamiert, in ihrem Titel aber auch einen vierzeiligen Endreim präsentiert.1 Dieser Text ist eine theoretische Handlungsanleitung für ein neues Verständnis von Wahlverwandtschaften und trägt durchaus Elemente einer Ästhetik in sich, die menschliches Zusammenleben reflektiert aus der Perspektive einer Feministin und „Kompost-istin“ (ebd., 29), die ganz entfernt an Goethes gleichnamigen Roman gemahnt, aber eben aus dem Abstand eines Erdzeitalters formuliert zu sein scheint und nicht aus der Feder einer Expertin für literarische Gattungen stammt.
Die Intervention des Anthropozäns reklamiert folglich zweierlei: Erstens trennt sie mit der Ausrufung des Anthropozäns unsere Gegenwart vom Holozän und formuliert damit einen notwendigen politischen Handlungsbedarf. Zweitens sucht sie nach einer ästhetischen Form des Ausdrucks, der der Unaufschiebbarkeit des Anliegens gerecht wird. Es ist die wiederholte Dringlichkeit in einer Vielzahl von Publikationen, die gewissermaßen alle bestehenden ästhetischen Ausdrucksformen in Frage stellt. Letztlich kritisiert diese doppelte Intervention auch die Ordnung einer abendländischen Trennung von Natur und Kultur, die sich im Verlauf des Holozäns etabliert und die den bisherigen Rahmen für die wissenschaftliche Praxis bildet, bzw. bisher gebildet hat. Ich meine damit, dass diese Intervention Folgen hat und haben wird für die kultur- und medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Texten und Bildern, – und auch die mit Tönen und Klängen – und dass dadurch auch ästhetische Fragen aufgeworfen werden, die so bisher kaum gestellt wurden – oder zumindest ohne nachhaltige Wirkung. Denn Kulturwissenschaft und Naturphilosophie haben früh zu einer übergreifenden Bearbeitung von Naturphänomenen aufgerufen (Böhme 1988). D.h. die Diskurse des Anthropozäns kritisieren (direkt und indirekt) auch eine spezifische Tradition der Geisteswissenschaften. Solche Formen der Kritik wiederum sind kein neues Phänomen. Kritische Theorie, feministische Theorie und Dekonstruktion haben auf je unterschiedliche Weise die Geisteswissenschaften herausgefordert und in Frage gestellt, in diesem Sinne befinden sich die Diskurse des Anthropozäns in guter Gesellschaft. Neu an ihnen ist vielleicht, dass die Herausforderung als Reaktion auf Gesellschafts- und Weltentwicklungen zunächst über einen Weckruf der Naturwissenschaften – also aus einem anderen Feld der Wissenschaften – an die Geisteswissenschaften herangetragen wird.
Diese Konstellation scheint mir den Hintergrund zu bilden, vor dem die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn versucht, eine Ästhetik des Anthropozäns zu erschließen (Vgl. Horn/Bergthaller 2019, 117 – 138). Horn konstatiert zunächst, dass durch die Diskurse des Anthropozäns „überzogene Erwartungen an Kunst und ihre gesellschaftliche Innovationskraft“ gestellt werden (ebd. 117f). „Der Bezug zwischen Ästhetik und Anthropozän“ so Horn weiter, „besteht dabei meist in einer Thematisierung einzelner Motive wie Klimawandel, der Darstellung von zerstörten Landschaften, schmelzenden Eisbergen, dem Verschwinden bestimmter Arten, neuerdings auch Erdgeschichte und Stratigraphie. Viele Romane, Filme oder Kunstwerke, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen (wie Climate Fiction oder bestimmte Formen der Landschaftsphotographie) werden so neuerdings als ‚Anthropozän-Kunst‘ tituliert“ (ebd. 118).
Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme macht sich Horn auf die Suche nach einer „genuine[n] Ästhetik des Anthropozäns“ (ebd. 2019, 118) und entdeckt diese in eben jenem Gemälde von Caspar David Friedrich, Das Große Gehege. Genauer gesagt findet Horn in einer Bildlektüre dieses Gemäldes vorgetragen von Bruno Latour (2017) einen Ansatzpunkt, um eine ästhetische Theorie des Anthropozäns zu begründen:2
Ein Kahn mit geblähtem Segel fährt langsam flußabwärts, vielleicht auch flußaufwärts […] Das Außergewöhnliche aber ist, daß es unmöglich scheint, den Blick ruhig auf den Fluß, unter das Buschwerk der Bäume, auf die Stille zu heften, weil dieser idyllische Ort, dieses Arkadien, sich ihm ebenso entzieht wie das, was der Vordergrund zeigt, da es, wie Koerner ausführt, den ins Unendliche führenden Fluchtlinien der Sehachse entspricht. […] Nichts, das Halt bietet, es sei denn, man wäre auf dem Kahn, aber auch dann wäre man noch in Bewegung. […] Unheil widerfährt auch dem, der sich den weiten Räumen des Himmels und der Erde dadurch entziehen zu können glaubt, daß er am Ufersaum eines Flusses, die Füße im Wasser, als Zuschauer über die Welt sinniert: Er wird niedergewalzt! Das Geniale an diesem Gemälde liegt darin, daß es die Instabilität jedes Blickpunktes auf die Welt – von oben, von unten oder von der Mitte aus – bezeichnet hat. (Latour 2017, 375ff).
Die Landschaftsmalerei Friedrichs wird in der Kunstgeschichte wie folgt charakterisiert: „Der Landschaftsausschnitt wird nicht mehr durch Zentralperspektive räumlich erfaßt, sondern in isolierte, oft über die Bildgrenze fortsetzbare Pläne aufgelöst; das Raumkontinuum ist somit unterbrochen. Das aus zusammengehörigen Versatzstücken komponierte Bildthema bewirkt, daß der Blick des Betrachters springen muß.“ (Lexikon der Kunst, 1994, 339). Latour beschreibt eben diesen dynamisierten Bildraum der Malerei Caspar David Friedrichs als Instabilität eines jeden Blickpunkts. Eva Horn referiert auf Latours Bildbeschreibung, begreift diese als „emblematisch für eine Ästhetik des Anthropozäns“ (Horn/Bergthaller 2019, 120) und setzt sie an den Anfang ihres eigenen Entwurfs einer Ästhetik für das neue Erdzeitalter. Horn verwendet Latours (stellenweise enigmatischen) Text zudem wie ein Wappen und Schutzschild, mit dem sie bloße Thematisierungen des Anthropozäns in den Künsten unterscheidet von einem Erfahrbarmachen des Anthropozäns „in der Form“ der jeweiligen Künste (ebd.). Daran anschließend formuliert Horn drei wesentliche Herausforderungen für eine Ästhetik des Anthropozäns, die die Formgebung künstlerischer Produktionen bestimmen sollten: „Latenz als ein Entzug der Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit; Verstrickung (entanglement) als Struktur eines neuen Bewusstseins von Ko-Existenz und Immanenz; und das Aufeinandertreffen inkompatibler Größenmaßstäbe, ein clash of scales“ (ebd. 126). Im weiteren Verlauf unternimmt Horn eine Bestandsaufnahme der bisherigen Theorieentwürfe einer Ästhetik des Anthropozäns, um dann exemplarische Umsetzungen aus bildender Kunst, Literatur und Film zu präsentieren.
Horns Ausgangspunkt ist gut gewählt. Denn ihr emblematisches Beispiel blickt zurück auf ein Gemälde Caspar David Friedrichs, also auf ein Werk aus der Zeit des Beginns der Industrialisierung in Deutschland und damit auf einen Maler, der das Zeitalter des Anthropozäns im Entstehen erlebt haben muss. Und sie verknüpft dieses Werk mit der zeitgenössischen Lektüre des avancierten Anthropozäntheoretikers Bruno Latour, d.h. mit einer Wissenschaftsposition, die zwar auf die Form referiert, aber darüberhinaus einen Weltbezug reklamiert, der nahelegt, dass der Maler die kommenden Auswirkungen des Anthropozäns bereits erahnt und in seinem Bild dargestellt hat. Damit wird Friedrichs Gemälde zu einem Schlüsselbild der Ästhetik des Anthropozäns erhoben. Auch wenn Horn diesen Schluss nicht zieht, so ließe sich daraus ein anderer, ein kritischer Epochenbegriff für die Ästhetik und die Geschichte der Künste ableiten, mit dem die gesamte Moderne einer Re-Lektüre unterzogen werden könnte, so wie es Latour für das Große Gehege aber auch in seiner wiederholt formulierten Kritik der Moderne andeutet. Denn der bisher etablierte Epochenbegriff der ästhetischen Moderne, die sich bereits ab 1800 u.a. im Werk von Friedrich abzeichnet, wird im Grunde von Horns Konzept einer Ästhetik des Anthropozäns kritisiert und überlagert.
Bemerkenswert ist Horns Position, weil sie in erster Linie den Eigenwert einer Ästhetik der Form gegen die Proklamation von Themen zu verteidigen sucht. Horn stellt also die Form (und erst in zweiter Linie Materialität und Weltbezug heraus), die sich von der thematischen Kommunikation des Anthropozäns unterscheidet. Somit bleibt in ihrem Ansatz die Autonomie der Kunst und ihre Zentrierung auf die formale Werkgestaltung und -analyse unangetastet.3 Eine Erweiterung ihres Ansatzes könnte demgegenüber darin bestehen, eine Ästhetik des Anthropozäns stärker an Fragen der Materialität, der Agency und des Bildbegriffs, aber im weiteren Sinne auch an Fragen der Ökonomie und des gesellschaftlichen Wandels im Kontext der Industrialisierung anzubinden und in diesem Sinne die kritische Reflexion Latours weiterzuführen. Das bedeutet z.B. methodisch, im Hinblick auf Caspar David Friedrichs Das Große Gehege, die materiellen Kontexte und die historischen Diskurse stärker zu erschließen, sowie auch die beteiligten Akteure in die Bildlektüre zu integrieren und dieses Ensemble für den Entwurf einer Ästhetik des Anthropozäns fruchtbar zu machen.
Latour liest das Gemälde als „Erlebnisbild“ und folgt damit dem Kunsthistoriker Koerner (1998, 13).4 Er nimmt die Perspektive möglicher Betrachter*innen ein, die in die Friedrich’sche Bildkomposition eingeschrieben sind. In dieser Konstruktion entfaltet sich ästhetische Erfahrung als dynamisches Geschehen einer aktiven Betrachtung. Latour treibt die Komposition in seiner Lektüre allerdings weiter in ein Zeitbild bzw. in ein raumzeitliches Bewegungsbild und damit – so meine These – liegt seiner Bildlektüre die Erfahrung moderner Medien zugrunde:
Übrigens ist die Hoffnung auf eine beschauliche Rückkehr in einen lokalen Lebensraum vergebens, da der sich windende Fluß gleichsam zwischen zwei riesige Rollen gepreßt, laminiert wirkt: der des Erdballs im Vordergrund, der dort eingegraben scheint; der des Himmels bei Sonnenuntergang – vielleicht auch bei Sonnenaufgang – im Hintergrund, die sich mit der ersten zu drehen scheint, den zwei Schrauben einer Presse gleich. Nein, das ist keine Landschaft, in die man sich beschaulich vertiefen könnte. (Latour 2017, 375).
Die von Latour bezeichnete „Hoffnung auf eine beschauliche Rückkehr in einen lokalen Lebensraum“ erscheint dabei bereits wie ein Zeitbild, in dem Vergangenheit und Zukunft in der Perspektive der Betrachter*innen noch in einem klassischen Tableau überlagert sind. Fluss, Erdball und Himmel aber werden selbsttätig und konstituieren ein apokalyptisches Bewegungsbild. Für Latour drehen sich Himmel und Erde miteinander wie die „Schrauben einer Presse“ und erzeugen so den Effekt der Zerstörung stabiler Blickpunkte im Bildraum. Die Beschreibung Latours referiert auf das Bild einer Maschine, genauer gesagt auf das einer Zylinderpresse, um sich und seinen Leser*innen die apokalyptische Landschaft und die in ihr wirkenden Akteure besser begreifbar zu machen. Erde und Himmel agieren darin wie gewaltige maschinelle Zylinder mit zerstörerischer Handlungsmacht, sie laminieren den Fluss und walzen die Betrachter*innen nieder. Latour überlagert also dem Landschaftsgemälde Friedrichs ein zweites Bild, das Bild einer Medien- und Reproduktionstechnologie, die Bilder und Texte mit Hilfe von Walzen und Dampfantrieb vervielfältigt. Diese Maschine wurde zu Zeiten Friedrichs in Gang gesetzt und gilt als Meilenstein des modernen Pressewesens (vgl. Stöber 2003, 48f.). Walter Benjamin (1963, 13) hatte anhand dieser Reproduktionstechnologien den Verfall der Aura im Sinne einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten diagnostiziert.
Weiter impliziert Latour eine ästhetische Erfahrung, die an bekannte Diskurse und Dispositive des frühen Kinos erinnert, in denen Züge auf Kameras und damit auf die Betrachter*innen zufahren – oder umgekehrt die Kameras selbst (auf ein Fahrzeug montiert) durch die Landschaft rasen. Letztere hat Tom Gunning als medientechnisch erzeugte Phantomfahrten beschrieben, in denen die Anordnung der Perspektive bezeichnenderweise auf ganz ähnliche Art instabil wird und sich „in eine albtraumhafte Umkehrung des kontemplativen Schauens“ (Gunning 2007, 27) verformt. Latour gibt seiner Bildbeschreibung dadurch einen Twist, dass er Erde und Himmel als Akteure imaginiert, die zwei modernen Maschinerien gleich (wie eine Zylinderpresse und wie in einer Phantomfahrt des frühen Kinos) eine neue Form der Apokalypse entfalten, in der die Erde als Richterin auftritt. Diese neue Form ist bei Latour eine Personifikation der Erde (Gaia), die (überraschend: im Gewand der entfesselten Moderne: Druckerpresse, Dampflock) Gerechtigkeit einfordert.
Die Anordnung von Bild und Bildbeschreibung innerhalb von Latours Buch nehmen eine besondere Stellung ein. Sie rahmen das Kapitel 7 ‚Siebter Vortrag. Die Staaten (der Natur) zwischen Krieg und Frieden‘. Dieser Rahmen ist nur lose mit dem übrigen Text verbunden, der zur Charakterisierung des neuen Klimaregimes den Weg einer Politisierung der Ökologie zu skizzieren sucht und sich dazu einer Re-Lektüre der Schriften des umstrittenen Staatsrechtlers Carl Schmitt zuwendet. Anders als in der Argumentation von Eva Horn geht es in Latours Bildlektüre also um eine Rahmenstruktur, die den eigentlichen Gedankengang einer neuen Politik der Ökologie einfasst. Im Zentrum steht bei Latour also keineswegs die Formulierung einer genuinen Ästhetik des Anthropozäns. Als Zusatz oder als Nebenschauplatz hat die Bildlektüre für Latour eine dezidiert andere Funktion. Latour (2017, 15f.) selbst macht nur allgemeine Andeutungen zur Form seines Buches, wenn er in der Einleitung davon spricht, dass er für die „Veröffentlichung das Genre, den Stil und den Tonfall von Vorträgen beibehalte“, um damit adäquat auf eine Gegenwartsanalyse zu reagieren, die er mit dem Begriff „das Neue Klimaregime“ zusammenfasst. Er unterstreicht aber sehr deutlich, dass es angesichts des Neuen Klimaregimes um andere Formen gehen muss: „Von diesem Augenblick an ändert sich an der Art und Weise, Geschichten zu erzählen, von Grund auf alles …“(ebd., 16).
Fragt man also nach der Anordnung von Bild und Bildbeschreibung innerhalb von Latours Text, so mag man diese – wie oben beschrieben – als Personifikation einer Gerechtigkeit fordernden Erde, oder insgesamt als Allegorie des Anthropozäns begreifen. Die Anordnung lässt aber auch – aufgrund der rahmenden Funktion – auf ein Dedikationsbild schließen und entfaltet dann eine etwas andere Funktion innerhalb von Latours Argumentation:
Dedikationsbild nennt man in der Buchmalerei die Darstellung der Widmung eines Buches: der Verfasser, Schreiber oder Übersetzer, gelegentlich auch der Stifter oder Besteller einer Handschrift übergibt sie einer höhergestellten weltlichen oder geistlichen Persönlichkeit, die auch zugleich Auftraggeber der Handschrift sein kann […]. In jedem Fall gibt das Dedikationsbild Auskunft über das Verhältnis der dargestellten Personen zueinander und vermittelt einen klaren Eindruck von der politischen Situation der jeweiligen Zeit (Lachner 1954, RDK III, 1189–1197).
Nicht nur der Anachronismus der historischen Form des Dedikationsbildes spielt Latours Kritik an der Moderne zu. Auch das Verschwinden dieser Form von Buchmalerei nach der Erfindung des Buchdrucks deutet in eine ähnliche Richtung. Insbesondere der Einstieg Latours verweist auf die bildhafte Dedikationsrelation:
Mein Freund, der Kunsthistoriker Joseph Koerner, mußte mir erst mit dem Finger auf der Reproduktion des Gemäldes von David Caspar Friedrich, die ich doch vor Augen hatte, den Verlauf der Flußschlinge der Elbe zeigen, bevor mir plötzlich, wie in einem Gestalttest, aufging, daß das, was ich zunächst für einen morastigen Vordergrund aus Wasserlachen und Schlammpfützen gehalten hatte, in denen sich die Sonnenstrahlen spiegelten, der Globus selbst war, wie eingegraben in die Erde. (Latour 2017, 373).
Beschrieben wird die Übergabe eines Bildes, hier die Reproduktion des Gemäldes von Caspar David Friedrich. Die Zueignung erfolgt als ein Akt der Freundschaft und Ehrerweisung unter Kollegen. Der Kunsthistoriker Koerner überreicht dem Soziologen Latour ein Bild (im Sinne einer Schenkung bzw. Überlassung für seine Forschung, für sein Buch Kampf um Gaia) – ein Bild, nach dem Latour gesucht haben muss, das sich entfaltet als Schlüsselbild für Latours Recherche und als Personifikation der Erde. Latours Bildbeschreibung verrät auch einiges über die politische Situation, sowohl über Latours Gegenwart, als auch über die Zeit Friedrichs. Friedrichs Gemälde stammt aus einer Zeit des Übergangs in die Moderne. Latours politische Situation ist die Gegenwart des Klimawandels. Charakteristisch für ein Dedikationsbild ist zudem der Fingerzeig bei der Übergabe. Erst durch diesen erkennt Latour darin ein Bild der Erde und ein Bild des Übergangs in ein neues Erdzeitalter, ein Bild, in dem das Anthropozän Gestalt annimmt.
In Latours Anordnung und in seiner Bildlektüre scheint aber noch eine zweite Widmung auf, die von der ersten überlagert wird. Diese zweite Widmung deutet an, dass Caspar David Friedrich selbst sein Gemälde zugeeignet haben könnte – und zwar keinem Menschen, (denn das Bild zeigt außer dem Kahn keine weiteren Hinweise auf Personen), sondern einem anderen Akteur – der Natur, der Erde, dem Himmel –, so als hätte Caspar David Friedrich von dort selbst den Auftrag erhalten, dieses Bild von der Erde zu malen, damit es in Zukunft als ein solches erkannt werden kann. Erst durch die Verschiebung auf den Nebenschauplatz des Dedikationsbildes im Sinne der doppelten Widmung entfaltet sich Latours Strategie, die darin besteht, erstens, die Diskurse des Anthropozäns an die ästhetische Praxis freundschaftlicher Zueignung und Übergabe von Bildern in einem offenen neuzuordnenden Diskursfeld anzuschließen und zweitens, in diesem Rahmen neue Akteure auftreten zu lassen, und zwar nicht-humanoide Akteure, wie die Natur bzw. die Erde selbst, die in Latours Lektüre bei Friedrich eben weniger als Sujet, sondern als ein durchaus machtvoller – als der weltliche Akteur schlechthin – im Bild erscheint. Latour weist damit der Ästhetik des Anthropozäns einen spezifischen Platz in seinem Buch-Projekt zu: Jenseits der Moderne und jenseits der Autonomie der Kunst ist diese Ästhetik eingebunden in eine Praxis der politischen Ökologie.
Das berühmte Gemälde Das Große Gehege zeigt eine Flusslandschaft der Elbe. Es gilt als Ikone der Malerei der Romantik mit einem dezidiert modernen Bildverständnis (Lexikon der Kunst 1994, Bd 4: 339). Es ist kompositorisch vergleichbar mit dem noch bekannteren Gemälde Friedrichs, Der Mönch am Meer (1808 – 10) (Koerner 1998: 35f.). Auch wenn es sich bei Friedrichs Gemälden nicht um exakte Wiedergaben der Elblandschaft handelt (Lexikon der Kunst 1994, Bd 4: 339), so wird gleichzeitig referiert, dass diese Malerei starke Landschaftsikonen hervorgebracht hat, die konkrete Bezüge zu tatsächlichen Landschaften aufweisen (im Sinne von ähnlichen und wieder auffindbaren z.T. spektakulären Ansichten der Landschaft). Zudem lassen sich nach Friedrichs Skizzenbüchern dessen Wanderungen durch die Natur rekonstruieren (Grummt 2011). Entsprechend hat die Caspar-David-Friedrich-Gesellschaft 2008 in Greifswald, der Geburtsstadt des Malers, einen Bildweg eingerichtet, der auf einem Wanderweg entsprechende Ansichten verzeichnet und ‚Bildvergleiche‘ zwischen heutiger Landschaft und Werken des Malers ermöglicht. Ähnliches gilt für den Caspar-David-Friedrich-Weg, der das kulturtouristische Interesse an Wanderungen durch die Sächsische Schweiz und entlang des Elbtals beflügelt hat.
Auch das Motiv traditioneller Elb-Kähne, die von der kulturellen Nutzung des Naturraums zeugt, taucht mehrfach im Werk Friedrichs auf. Es handelt sich um sogenannte Kaffenkähne, die mit einem Segel ausgestattet für den Güterverkehr in norddeutschen Binnengewässern genutzt wurden (Sohn 2013). Friedrichs Bild Flussufer im Nebel (Elbschiff im Frühnebel, 1821) hält den Aufbau eines solchen Kahns detailliert fest, den flachen, offenen Frachtraum, das lange Ruderblatt, sowie die Wanten, die den hohen Segelmast stützen. Auch Das Große Gehege zeigt bei starker Akzentuierung der weiten Landschaft einen solchen Kahn in vermutlich jener Elbkurve, die früher das Große Gehege oder auch Ostragehege genannt wurde. Bildvergleiche mit fotografischen Darstellungen von Elbkähnen unterstreichen die Prägnanz der Motiverfassung Friedrichs, wie etwa eine Fotografie von F. Albert Schwartz von 1884 aus der Sammlung der Berlinischen Galerie belegt.
Während im Hintergrund die gestaffelten Baumalleen von einer kurfürstlich angelegten, von Wegen durchzogenen Landschaft künden und auch der fahrende Kahn Zeugnis ablegt von der wirtschaftlichen Nutzung des Flusses als Transportweg, präsentiert der Vordergrund einen unerschlossenen, unzugänglichen oder verlassenen – einen vegetationsarmen, geradezu wüstenartigen oder verwüsteten Landstrich. Dieser Bereich stellt also im Grunde das Gegenteil eines Geheges dar. Der Kahn scheint zwischen diesem chaotischen Land-Wasser-Gefüge im Vordergrund und einer geordneten Landschaft im Hintergrund hindurch zu segeln. Der Standpunkt eines Betrachters oder einer Betrachterin liegt irgendwo auf der Seite des Ungeordneten – zwischen Land und Wasser – im Unbestimmbaren. Ein Ort für Amphibien, Wesen, die auf beiden Seiten, d.h. auf dem Lande und im Wasser leben und eine Art Doppelleben führen.
Indizien dafür, dass es sich dabei tatsächlich um die Elbkurve des Großen Geheges um 1830 handelt, ergeben sich aus den historischen Kontexten: Bereits 1550 erwarb Kurfürst August das Gelände des Großen Geheges, siedelte dort das Ostravorwerk an und baute es zu einem großangelegten fürstlichen Landwirtschaftsbetrieb aus mit Tierhaltung, Getreideanbau und eigener Hofmühle. Das Gelände soll um 1700 eingezäunt worden sein, um in der Folgezeit für die Tierhaltung genutzt zu werden:
Da Teile der Flächen im 17. und 18. Jahrhundert dem kurfürstlichen Hof als Fasanerie und Tiergarten dienten, wurden diese ab 1696 umzäunt, woraufhin sich der Name ‘Großes Gehege’ bzw. ‘Ostragehege’ für dieses Areal durchsetzte. Neben Geflügel, Rindern, Schweinen und Schafen wurden hier auch Rebhühner, Biber, Hirsche, Büffel und zeitweise sogar Kamele gehalten. Weite Teile des Ostrageheges dienten zudem als Jagdrevier der sächsischen Kurfürsten.5
Das Besondere der Komposition Friedrichs scheint nun darin zu liegen, dass beispielsweise vom fürstlichen Kammergut und seiner landwirtschaftlichen Nutzung im Grunde nichts in die Komposition eingetragen wurde. Gleichzeitig bleibt festzuhalten, dass es sich beim Großen Gehege folglich nicht um eine unberührte Auenlandschaft, sondern vielmehr um ein seit dem 16. Jh. durch den kurfürstlichen Landwirtschaftsbetrieb geprägtes Gelände handelt, dass zu Friedrichs Zeit einen starken Strukturwandel erfährt. Die Weichen für die zukünftige Entwicklung im Sinne der industriellen Erschließung und Umgestaltung sind zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes bereits gestellt. Ende des 19. Jahrhunderts wird diese einerseits natürliche Schwemmlandschaft, andererseits die historische Agrarnutzung von der Errichtung industrieller Verkehrsanlagen überformt. Bahnstrecken und Hafenanlagen prägen fortan das Ostragehege, dass sich damit zur heutigen Friedrichsstadt, einem Stadtteil von Dresden entwickelt. Die Mündung der Weißeritz wird im Zuge dieser Veränderung einige Kilometer flußabwärts verlegt. Auch von dieser industriellen Entwicklung des bürgerlichen Zeitalters, deren Weichenstellung bereits 1815 auf dem Wiener Kongress initiiert wurde, findet sich (bis auf den Segelkahn) kaum Etwas im Gemälde wieder.
Was Friedrich gleichwohl ins Bild setzt, ist eine Landschaft im Übergang, deren Vergangenheit bereits ausgelöscht scheint und deren zukünftige Gestaltung aber um 1830 noch aussteht. Was er dabei festhält, ist die wüstenartige Schwemmlandschaft, die kennzeichnend ist für die Mündung der Weißeritz in die Elbe, welche als Fluss aus dem Erzgebirge kommend, einen hohen Gehalt an Sedimenten mitführt. Ablagerungen dieses Materials führen in der Elbe zu Schwemmfächern und Mündungsverschleppungen, also zu eben jener Anordnung von Land- und Wasserflächen, die im Vordergrund von Friedrichs Gemälde deutlich zu erkennen ist – ein Naturphänomen, das im 19. Jh. als Behinderung des zukünftigen Schiffsverkehrs bewertet wird. Die natürlichen Flusslandschaftsprozesse (wie eine sich verändernde Schwemmfächerbildung) bilden im Fall der Weißeritz und ihrer Mündung in die Elbe jahreszeitlich-zyklische Erscheinungen, die sich aber auch in wiederkehrenden naturkatastrophenartigen Überschwemmungen äußern (Helas 1996).6
Auch wenn Überschwemmungskatastrophen für Friedrichs Schaffenszeit in Dresden nicht nachgewiesen sind, so lässt sich gleichwohl davon ausgehen, dass Friedrich die jährlich mehrfach stattfindenden Schwemmprozesse im Ostragehege aus eigener Anschauung gut kannte. Die natürliche Landschaftsdynamik wurde aber auch frühzeitig kulturell genutzt, Biberzucht und Hofmühle auf dem Ostragehege sind nur zwei Beispiele dafür, wie die Naturprozesse in eine agrarisch-zyklische, fürstlich und handwerklich geprägte Kultur überführt wurden. Was Friedrich also darstellt ist eine flusslandschaftliche Überschwemmungsdynamik der Mündungsregion eines Gebirgsflusses, die im Rhythmus der Jahreszeiten wiederkehrt und einen begrenzten Landschaftsraum derart gestaltet, dass er mal als Gelände und mal als Wasser ein unstetes Erscheinungsbild des Übergangs bildet und von der stets befürchtet werden muss, dass sie ins Katastrophische umschlägt.7 Die Schäden der Weißeritz-Elbe-Hochwasser beschränken sich dabei keineswegs auf das Gelände des Ostrageheges. Der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt (1903) hat in seiner Beschreibende[n] Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen auf die Bedrohung der historischen Architektur der Innenstadt Dresdens, insbesondere auch des Schlosses durch die Weißeritz bzw. der durch sie gespeisten Mühlengräben und alten Flussarme ausdrücklich hingewiesen. Das bedeutet, dass die Friedrich’sche Darstellung dieser Schwemmlandschaft nicht nur ein 1830 noch stadtfernes Naturszenario ins Bild setzt, sondern dass die gemalten Spuren einer Wassergewalt gleichzeitig eine reale, die Stadtkultur Dresdens unmittelbar bedrohende Gefahr darstellen.
Wenn man die kulturhistorischen Erkenntnisse zum Großen Gehege noch einmal resümiert, ergibt sich das komplexe Bild einer historischen Anordnung. Fürstliche Tiergehege prägten diesen Ort, ebenso wie den Großen Garten auf der anderen Seite der Stadt, letzterer beherbergt bis heute den Zoologischen Garten Dresdens.8 Die weitere Entwicklung des Geländes wird von den Umwälzungen der Geschichte geprägt: Die fürstliche Ordnung wird unter dem Einfluss der französischen Revolution durch eine bürgerliche ersetzt. In den Koalitionskriegen (1792 – 1815) wird Dresden zum Kriegsschauplatz. In der Friedrichstadt (auf dem Gelände des Großen Geheges) werden napoleonische Truppen stationiert. Nach Kriegsende findet auf dem Wiener Kongress die Neuordnung Europas statt, die u.a. den Grundstein für den Ausbau internationaler Handelswege legt und damit die Industrialisierung in Kontinentaleuropa beflügelt. In diesem Zuge erhält die Elbe 1815 den Status einer internationalen Wasserstraße, in deren Folge in der Friedrichstadt Hafenanlagen mit Eisenbahnanschluss gebaut werden, zunächst eine Elbstation zur Kohleverschiffung, später der Alberthafen. Erste Dampfschiffe sind ab 1817 zwischen Hamburg, Magdeburg und Berlin auf Elbe und Havel unterwegs, die sächsische Dampfschifffahrt in Dresden beginnt im Jahr 1835 (!). In dieser Umbruchszeit – nach dem Wiener Kongress und noch bevor die Industrialisierung Dresdens Fahrt aufnimmt – malt Caspar David Friedrich im Alter von 58 Jahren das Große Gehege.
Es erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass das von Latour und Horn aus unterschiedlichen Gründen zum Schlüsselbild erklärte Große Gehege aus der Zeit der 1830er Jahre von einem Maler stammt, der 1839, also im Geburtsjahr der Fotografie, seine künstlerische Produktion krankheitsbedingt aufgibt und im Jahr darauf verstirbt. Als eine Erfindung der Moderne reklamiert die Fotografie – und in ihrer Folge der fotografische Film – fortan eine übergreifende Stellung zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft und könnte gerade aufgrund dieser Position und Dank ihrer spezifischen Medialität als prädestiniertes Medium gelten, welches insbesondere die Bearbeitung jener Problemstellungen ermöglicht, die Eva Horn für eine Ästhetik des Anthropozäns reklamiert: Latenz, entanglement und clash of scales. Fotografie und Film wenden sich zudem explizit den Erscheinungen und Veränderungen der materiellen Welt zu und vermitteln zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen einer thematisch dokumentarischen Bildsetzung auf der einen Seite und einer Formgebung auf der anderen, ebenso wie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Gerade an der historischen Entwicklung der Fotografie als technischem Bildmedium lassen sich zudem die Hinwendung zur materiellen Welt, sowie die Verbindungen und unterschiedlichen Gewichtungen dokumentarischer und künstlerischer Tendenzen studieren. Erkennbar werden darin auch Verschiebungen im Gefüge bildnerischer Handlungsmacht, etwa die vom Künstler auf die Natur und die Fotochemie bei der Bildaufnahme, oder aber auf die materiellen Prozesse bei der Entwicklung und Fixierung in wässrigen Lösungen.
Pioniere der Fotografie, wie William Henry Fox Talbot, versuchten folgerichtig dieser neuen Ordnung der Akteure Ausdruck zu verleihen, bei der die Menschen den Apparat und die Grundierung des Bildes bereitstellen, die gestaltende Handlungsmacht aber bei der Natur liegt. Talbot gelang zunächst die Entwicklung eines frühen fotografischen Verfahrens, der Kalotypie, mit dem er bereits fotografische Papierabzüge herstellte. Mit der Eingliederung dieser Blätter in die Buchform erfand er eine neue Mediengattung, das Fotobuch. Unter dem programmatischen Titel The Pencil of Nature veröffentlicht Talbot (1844) seine erste Buchedition, die Zeugnis davon ablegt und im programmatischen Titel die Natur selbst zum Akteur erklärt, die in diesem bildnerischen Verfahren den Stift führt. Talbots Erfindung zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass sie ab 1840 bereits wesentliche Eigenschaften der modernen Fotografie aufweist (das latente Bild, die Entwicklung, die Reproduktionsmöglichkeit). Andererseits schafft sie im Buch neuartige Text-Bild-Verhältnisse und verbindet die Fotografie mit literarischen Formaten, die erkennbar von Verstrickungen im Verhältnis von Mensch und Natur zeugen.9 Die Texte in Talbots erstem Buch bestehen aus Lektüren der einzelnen Bildtafeln des Buches.10 Talbot selbst erklärt darin zentrale Eigenschaften des neuen Bildmediums, beschreibt aber auch die Kontexte einzelner fotografischer Aufnahmen. Diese Beschreibungen zeigen modellhaft, wie sich Betrachter*innen der Bilder auf eine Spurensuche in einer lokalen Welt begeben:
Diese Ansicht wurde von einem der obersten Fenster des Hotels de Douvres aufgenommen, das an der Ecke der Rue de la Paix liegt. Der Betrachter blickt in Richtung Nordost. Die Zeit ist Nachmittag. […] Das Wetter ist heiß und staubig – man hat gerade die Straße mit Wasser besprengt, was die zwei breiten dunklen Streifen anzeigen, die im Vordergrund zusammenlaufen. Die Straße wird nämlich gerade repariert – was man an den zwei Schubkarren und anderen Details erkennen kann –, und so mußte der eine Sprengwagen auf die andere Spur ausweichen. (Talbot 1844, dt. Übers. in: Kemp/Amelunxen 2006: 60).
Die Spurensuche Talbots konzentriert sich dabei gleichermaßen auf einen spezifischen Ort, an dem kulturelle Praktiken einer Metropole durchgeführt werden (Straßenreinigung, Bauarbeiten etc.), wie auch auf naturbedingte Phänomene des Wetters und des Klimas, die sich an diesem Ort und zu dieser Zeit ereignen und in diesem Falle durch das Wasser bzw. dessen Mangel miteinander verbunden sind. Bedeutsamer erscheint aber noch, dass diese Spurensuche im Bild auf die materiellen Dinge gerichtet ist und damit nachvollzieht, was die Fotografie zu sehen und zu entziffern gibt. Anders formuliert, nicht eine künstlerische Intention oder Idee steht im Zentrum der Betrachtung, sondern die materielle Anordnung der Dinge, die deutlich über eine visuelle Aufzeichnung hinaus geht. Zumindest in Talbots Text wird eine Atmosphäre aufgerufen (heiß und staubig), der mit einem menschlichen Eingreifen – dem Versprühen von Wasser – begegnet wird. Talbot verhält sich dabei nicht anders wie andere Betrachter*innen einer Fotografie. Er wird zum Leser und unterstreicht damit eine demokratisierende und auf Materialität ausgerichtete Verschiebung, die die klassische Aufteilung von männlich-geistigem Schöpfertum und weiblich-körperlicher Muse überschreibt zugunsten eines Mensch-Natur-Verhältnisses, das sich vermutlich zunächst am naturwissenschaftlichen Experiment orientierte, dessen Ergebnisse im Nachhinein durch menschliche Lektüre auszuwerten sind. Im Übergang zur ästhetischen Betrachtung von Fotografien verliert sich allerdings der kontrollierende, naturwissenschaftliche Blick zugunsten eines Staunens über die Detailgenauigkeit und Realitätsnähe der Bilder. So richten sich diese Fotobücher denn auch vornehmlich an bürgerliche Kreise, an Künstler und Amateure. Das erste Fotobuch aus der namhaften französischen Kopierwerkstatt von Louis-Désiré Blanquart-Evrard trägt dementsprechend den Titel Album photographique de l’artiste et de l’amateur. Diese und weitere Editionen entwickeln bereits ein spezifisches Bildrepertoire „fotografischer Studien“, die sich aus Stilleben-, Landschafts-, Garten-, Straßen- und Hafenaufnahmen zusammensetzte und eine eigene, an der Welt der Dinge orientierte Ästhetik begründet (Frizot 1998, 68 – 89).11
Die fotografischen Editionen zielten früh darauf ab, wohlhabenden Amateuren zu ermöglichen, selbst Bilder auf ihren Wanderungen durch Stadt und Land anzufertigen und ihnen durch den Betrieb von Kopierwerkstätten die Entwicklung der Fotoabzüge abzunehmen. Das demokratisierende Moment besteht darin, dass die wandernde und zeichnende Wahrnehmungstätigkeit, die romantische Maler wie Friedrich als Spezialisten ausübten, mit der fotografischen Amateurpraxis einer bürgerlichen Gesellschaft als Aneignungsmöglichkeit von Naturschönheit erschlossen wird. Aus dem Skizzenbuch des Malers wird das Fotoalbum der Amateure. Und so findet sich in den frühen Fotografien ein Erbe, das die Ästhetik Friedrichs mit anderen Mitteln fortschreibt. Zum einen finden sich in der fotografischen Bildproduktion Bildfolgen (auch zahlreiche Wasserlandschaften), die das Durchwandern von Natur dokumentieren und dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte einnehmen. Zum anderen werden auch Betrachterstandpunkte präsentiert, die den Betrachter*innen den sicheren Halt zu entziehen scheinen. Dies gilt u.a. auch für die oben zitierte Beschreibung der Fotografie eines Pariser Boulevards, die, wie Talbot anmerkt, aus einem der oberen Fenster eines Gebäudes getätigt wurde. In dieser Fotografie scheinen die Betrachter*innen über dem Grund zu schweben. Die Friedrichs Malerei eigene Dynamisierung des Bildraums fehlt diesen Fotografien allerdings noch. Sie setzt erst um die Jahrhundertwende mit den Phantomfahrten des Films ein.
Die fotografische Bildproduktion Talbots stand zudem im Kontext zunehmender Reisetätigkeiten angetrieben durch die kolonialen Expansionen Europas und den beginnenden Tourismus (Heilbrun, in Frizot, 1998: 149 – 166). Insofern beschreibt die Entstehung der Kalotypie auch den Auftakt fotografischer Sammlungen und Archive, die geprägt sind von bildnerischen Praktiken im Zuge von Kolonialismus und frühem Tourismus. Es entsteht damit ein zweites „Aufschreibesystem“ (Kittler 1985) neben den Schriftarchiven, welches Zustände und Veränderungen der materiellen Welt verzeichnet. In den überlieferten Fotoarchiven und -sammlungen finden sich heute bildarchäologische Schichtungen, die die materielle Welt und ihre lokalen Bezüge seit der Industrialisierung in ihrem Wandel dokumentieren und in Szene setzen.
Der fotografische Film erweitert dieses Aufschreibesystem zunächst dahingehend, dass er prozessuale Veränderungen der materiellen Welt dokumentiert und somit in der Zeit als Verlauf zur Anschauung bringen kann. Hieraus entwickelt sich einerseits eine Tradition des dokumentarischen Films in seinen unterschiedlichen Facetten, einschließlich des seinerzeit groß angelegten Projektes eine „Encyclopaedia Cinematographica“ (Pauleit 2012). Andererseits ergeben sich auch für den fiktionalen Film und seine Gestaltung spezifische Folgen. In der Kunst- und Filmtheorie werden vor diesem Hintergrund bereits in den 1920er und 30er Jahren Ästhetiken einer materiellen Welt diskutiert (Kracauer 1927, Benjamin 1963, Panofsky 1999). Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky skizziert diese Neuorientierung in der Schlusspassage seines populären Essays On Movies in zugespitzter Form: „Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche: […] die äußere Realität der Rue de Lappe in Paris oder der Wüste Gobi […] oder der Straßen von New York im Regen; die äußere Realität von Maschinen und Tieren, von Edward G. Robinson und Jimmy Cagney.“ (Panofsky 1999: 53f.).
Blickt man ein letztes Mal zurück auf Latours Impuls für die Rolle einer zeitgenössischen Ästhetik, so entfaltet sich seine Lektüre von Friedrichs Malerei nicht nur als Rahmenstruktur innerhalb seines Gaia Buches, sondern auch als ‚Trailer‘ eines apokalyptischen Katastrophenfilms, in dem die Menschheit von den entfesselten Naturgewalten (Himmel und Erde) niedergewalzt und ausgelöscht wird. Latour ruft die Bilder zweier Maschinerien auf, um das stille Gemälde Friedrichs in ein Bewegungsbild zu verwandeln und die bedrohlichen Kräfte der Natur in Aktion zu setzen: die dampfbetriebene Zylinderpresse und die motorisierte Phantomfahrt des frühen Kinos. Initiiert wird dieser Übergang ins Bewegungsbild aber durch den Akt der Dedikation, die Übergabe des Bildes durch den Freund Koerner und seinen Fingerzeig auf der Reproduktion des Gemäldes. Nicht die Erklärung des Kunsthistorikers zum spezifischen Aufbau der Bildperspektive setzt also das Gemälde in Bewegung, sondern die Anordnung der materiellen Dinge (die Reproduktion des Gemäldes und die zeigende Bewegung des Fingers des Freundes), lassen diese Anordnung lebendig werden. Latour beschreibt die Plötzlichkeit der Wahrnehmung wie eine Filmerfahrung. Er agiert dabei wie Talbot vor seinen Fotografien: Latour bestaunt die eigene Wahrnehmung, entziffert sie, deutet sie. Rhythmisiert wird die Anordnung auch durch Latours Schreibgestus. Das Bild der Zylinderpresse, eröffnet zudem einen imaginären Klangraum, der entsprechende Filmerfahrungen von rhythmischen Druckmaschinen (wie etwas zu Beginn von Fritz Langs DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, D 1933) ins Gedächtnis ruft.
Schließlich ließe sich vor dem Hintergrund der in diesem Essay vorgetragenen Bildlektüre des Gemäldes (und seiner Entzifferung als einer lokalen Mündungs- und Schwemmlandschaft) eine fiktive Tonspur einfügen, die in Latours apokalyptischem Katastrophenfilm zu hören sein könnte: Bei dieser Tonspur handelte es sich dann um den Sound rauschenden Wassers, der sich nicht im Bildfeld befindet, sondern der sich im Rücken der Zuschauer als Klangfigur im Off entfaltet: Es wäre das ohrenbetäubende Anschwellen der Weißeritz, die in Friedrichs Gemälde nur als Absenz, als Spur einer verwüsteten Landschaft in Erscheinung tritt. Auch in Latours Bildlektüre ist von der Weißeritz keine Rede. Aber in Latours Metaphorik könnte die Weißeritz beispielhaft – als zyklisches Naturphänomen und als Teil der Erdgewalt – ihren Auftritt haben.
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