Signaturen des Anthropozäns
In Dokumentarfilmen wie LEVIATHAN (US/UK/FRA 2012) oder auch ERDE (A 2019) wird bereits auf formal-ästhetischer Ebene auf die epistemologische Erschütterung reagiert, die in der Gegenwartsbestimmung Anthropozän zum Ausdruck kommt – nämlich, dass dieser anthropos, diese gewaltförmige Ausschlusskategorie ‚moderner Mensch‘, sich nicht länger einer ahistorischen Natur gegenüberstehend begreifen kann. Somit stünde keine außerhalb von Transformationsprozessen existierende Umgebungswelt – die wir Umwelt oder Natur nennen könnten – zur Verfügung, auf die es sich in Distanz zu begeben erlauben würde, vielmehr weicht jeglicher feste Grund einem prekären Ko-Existieren. Narratologische und formal-ästhetische Entscheidungen, die etwa im Kontext Klimawandel auf menschliche wie nicht-menschliche Multiperspektivität setzen, rücken unsere Aufmerksamkeit daher auf die Arbeit an den Grenzziehungen von Natur-Kultur, Subjekt-Objekt und Ursache-Wirkungs-Verhältnissen – seit der frühen Filmgeschichte ohnehin ein Kerngebiet der Kinematographie. Die Zäsur, die damals jene neue visuelle Massenkultur laut Béla Balázs darstellte, lag nicht nur darin begründet, dass der sichtbare Mensch in bewegten Einzelbildern und unterschiedlichen Einstellungsgrößen erstmalig als fragmentiertes Ganzes in Erscheinung trat.1 Denn gleichzeitig rückte auch seine Umgebungswelt in den Vordergrund und was zuvor als ‚Dingwelt‘ und ‚Naturwelt‘ funktionalisiert und objektiviert wurde, konnte nun als Akteur in Erscheinung treten. Das Interesse für verteilte Perspektiven führt in der Film- und Medienwissenschaft gegenwärtig so auch auffallend oft zu einer Relektüre der frühen Filmgeschichte und Filmtheoriegeschichte.2 Insbesondere das erste Drittel filmwissenschaftlicher Auseinandersetzung (vorrangig die 1920er) wird mit neuen Fragestellungen aufgesucht und umgekehrt finden vergangene Debatten ihre Echos in der Gegenwart.
In Inhospitable Word. Cinema in the Time of the Anthropocene hat Jennifer Fay mit ihrem Blick auf die frühe Filmgeschichte sowohl die Ebene der Mise-en-scéne als ‚World Building‘ und ‚Terra Forming‘ Praxis namens Filmset als auch das Unheimlich-Werden der vertrauten Alltagsrealität in der kinematographischen Re-/Produktion – also die wahrnehmungsästhetische Ebene – als Doppel- bzw. Mehrfachbindung von Kino und Anthropozän herausgearbeitet:
The Anthropocene is to natural science what cinema, especially early cinema, has been to human culture. It makes the familiar world strange to us by transcribing the dimensionalities of experience into celluloid, transforming and temporally transporting humans and the natural world into an unhomely image. (Fay 2018: 3)
Die Dialektik von ‚Erschließung‘ und ‚Relativierung‘ – die Unheimlichkeit der äußeren Wirklichkeit in und mit ihrer filmischen Re-Produktion – und somit zentrale Topoi der (frühen) Filmtheorie möchte ich mit meinem Beitrag ebenfalls re-evaluieren. Einen weiteren zentralen Topos stellt die ‚Entfesselte Kamera‘ in ihrer diskursiven wie technologischen Weiterentwicklung dar, sowie Film als Korrektiv anthropozentrischer Ordnungen. Sensorische Erkundungen der äußeren Wirklichkeit suchen unter der Prämisse des Anthropozäns so auch ein Natur-Außen auf, das nicht als ahistorisch Gegebenes außerhalb anthropogener Zugriffe existiert; die Kamera erforscht (oder birgt?) stattdessen einen prekären, instabilen Grund und verunklart Innen und Außen, Kultur und Natur. Auch die Erfahrung beschleunigter Zeit, etwa Zeitraffer als Garant für „less boring plants“3 (als Spektakel im frühen Kino und fixes Stilmittel von Naturdokumentationen) ist nicht länger rein durch technische Mittel erlebbar. Jean Epsteins philosophische Konzeption von Film als eine die anthropozentrische Wahrnehmung erschütternde relativistische Experimentalanordnung von Zeit und Raum scheint im Vergleich zur sehr realen Erfahrung der menschengemachten Klimakatastrophe als quasi nicht-filmischen Zeitraffer, die Gletscher zum Schmelzen bringt und Inseln in immer kürzerer Zeit überflutet sieht, zu verblassen.4 Mit welchen signifikanten filmischen Mitteln sowie konzeptuellen Entscheidungen die Erforschung und Wahrnehmbarmachung dieses instabilen Grundes, dieser ‚critical zone‘ (Latour/Weibel) vorangetrieben wird, bildet die Kernfragestellung meines Artikels. So lassen sich ERDE und LEVIATHAN als unterschiedliche Versuche filmischer Feldforschung begreifen, Verflochtenheit, zeit- und räumliche Skalierungsprobleme und das Unheimliche im Verhältnis Mensch und Welt darstellbar bzw. denkbar zu machen.
The initial idea was to make a film about fishing, and the ocean more broadly, without ever seeing, or at least recognizing, a fishing boat or the sea (MacDonald 2013: 324).
Diese ursprüngliche Idee wurde durchaus beibehalten und es sind vorrangig die kargen Lichtverhältnisse von Nacht und Morgengrauen, die sich die beiden Anthropolog:innen Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel zu Nutze machen, um ein Gefühl von Orientierungslosigkeit zu erzeugen und klare Formen- und Gestaltgrenzen von Dunkelheit schlucken zu lassen. Wo die eindeutige Verortung von Oben und Unten, Luft und Wasser erschwert wird, blitzen um so unerwarteter und leuchtender grelle Farben von Schleppnetzen oder Seesternen auf.
Der filmische Kosmos, der in LEVIATHAN konstruiert wird, ist ein dezidiert posthumanistischer und zieht mittels eines Netzwerks von Kameras ein Neben- und Durcheinander von erschöpften Seeleuten, tosenden Wellenschlägen, Vogelgeschrei und blutigen Fischleibern an die Oberfläche. Der Begriff des ‚Multisensorischen‘ – den das Sensory Ethnography Lab an der Universität Harvard stark macht und in dessen Umfeld LEVIATHAN 2012 entstanden ist – bildet im Kontext multiperspektivischer Analysemuster einen besonderen Schwerpunkt, da dabei verstärkt auf ein Zur-Wahrnehmung-Bringen akustischer und visueller Qualitäten nicht-menschlicher Entitäten und Akteure Wert gelegt wird.
Die produktionstechnische Besonderheit dieser anthropologischen Feldforschung, die auch die Anwesenheit und Teilhabe der Filmemacher:innen am dokumentierten Geschehen thematisiert, liegt vorrangig darin, die verwendeten GoPro-Kameras, deren Autofokus exzessiv genutzt wurde, an Handgelenk, Kopf und Brust der Schiffscrew, wie auch am Mast und vor dem Bug des Schiffes zu montieren. Die Kamera wurde sprichwörtlich in andere Hände gelegt – damit wurde hier jedoch mehr als nur eine reflexive Geste gesetzt, diese konzeptuelle Entscheidung bildet auch den narrativen Kern des Films: verteilte Perspektiven und die Praxis des Filmemachens als Kollektivarbeit erschaffen bzw. akkumulieren ein filmisches Ungeheuer. Die entfesselte Kamera treibt dabei im Fangbecken hin und her oder stürzt sich vom Bug aus in die Amplituden mächtiger Atlantikwellen.
LEVIATHAN zeichnet sich bestimmt nicht durch nüchterne Sachlichkeit aus, sein multisensorischer Raum setzt auf Verfremdung und ästhetischen Exzess, Dokumentation und Ästhetisierung stehen sich dabei nicht als gegensätzliche Pole gegenüber. Der immersive Sog des Films, der Hochseefischerei nicht als menschlichen Kampf gegen die Natur dramatisiert, ist also der Vielzahl seiner selten eindeutigen Perspektiven geschuldet. „Where to situate humanity?“ war so auch leitende Problemstellung für Castaing-Taylor und Paravel:
For all of the inherent anthropomorphism of cinema, we had a kind of post-humanist ambition to relativize the human in a larger physical and metaphysical domain of both interspecies bestiality and of animate-inanimate promiscuity, one in which humans, fish, birds, machines, and the elements would have a kind of restless ontological parity. (Ebd.: 327)
Konsequenterweise (und nicht ohne Witz) finden sich im Abspann des Films, neben den Namen des Kapitäns und seiner Crew, die Tiere mit taxonomischem Namen wie auch der Mond und das Meer als Protagonisten gelistet. Lässt sich daraus auf den Glauben an eine Symmetrisierung von Handlungsmacht schließen, eine gleichberechtigte Verteilung eines Subjektstatus oder gar auf ein Data-Capture-Protokoll einer alles umfassenden, digitalen Registratur? Gewiss nicht, lässt doch LEVIATHAN keinen Zweifel daran, dass gerade seine fantastischen Schauwerte und Wahrnehmungsperzepte die Überfischung der Weltmeere dokumentieren. Auch auf die Gefahren für den Menschen wird verwiesen, ist doch der Film im Abspann ebenfalls den „countless vessels lost at sea“ gewidmet. Dennoch stellt sich die Frage, welche gesellschaftspolitische Vorstellung von Multiperspektivität (und wie sich diese etwa zu einem liberalen Diversitätsbegriff verhält) der Film stark macht bzw. wie diese radikalisiert werden könnte. Vor allem jedoch ist LEVIATHAN gerade auch durch seine konzeptuellen Auslassungen geprägt: mit dem Fokus allein auf die filmisch verfremdeten Geschehnisse draußen auf See, wird nur der erste Schritt der Ware Fisch für den Weltmarkt in den Blick genommen, ein Hafen und weitere Produktionsschritte sind absichtlich nie zu sehen.5 Auch der Blick tief unterhalb der Wasseroberfläche bleibt verwehrt: „Doch die Historizität des Meeres würde sich ebenfalls offenbaren, wenn der Blick unter seine Oberfläche führen könnte, die (zu ihrem eigenen Schaden) die Kahlschläge in Flora und Fauna verdeckt“ (Mauer 2010: 10).
Ein ikonisches Sujet der Ökologiebewegungen der 1970er zeigt die Erde als planetarisches Ganzes. Mit dem von der NASA aufgenommenen Bild der Erde aus der Distanz des interplanetaren Raumes heraus betrachtet wurde ein photographischer Referent geschaffen, der eine Politisierung der Sorge um die Heimstatt des Menschen ermöglichte und dessen technisches Zustandekommen selbst bereits Anteil an der Dialektik von Macht- und Ohnmacht hat. Im Hinblick auf die Ikonizität der ‚blue marble‘ aus dem Zeitalter der Massenmedien können wir heute fragen, welche medialen (Re-)Präsentationen gegenwärtig im ‚Zeitalter der Medienimmanenz‘ die Diskurse um das Anthropozän narratologisch und formal-ästhetisch prägen. Da das Anthropozän gerade nicht als ein Total-Zusammenhang begriffen werden kann, der von einem externen Ort gänzlich erfasst und ins Bild gesetzt werden könnte, verfügt diese Gegenwart auch nicht über einen singulären, ikonischen Referenten. Die Erde nimmt in verschiedenen material-medialen Zusammenhängen unterschiedliche, unabgeschlossene Gestalt und Bedeutung an.
Neben seinen Einblicken in die Zerstörung und Versiegelung von Landschaften und Habitaten zeichnet sich Nikolaus Geyerhalters ERDE insbesondere im Hinblick auf die Inkommensurabilität von anthropologischer und geologischer Zeit aus, die sowohl dramaturgisch als auch bildlich gegenübergestellt werden. Die Tiefenzeit der Erde, auf die uns geochronologische Messmethoden oder die Radiokarbondatierung zwar Rückschlüsse erlauben, die jedoch außerhalb unseres zeitlichen Vorstellungsvermögens liegt, wird mit menschlichen Prognosen – etwa für die Ergiebigkeit eines Marmorsteinbruchs oder einer Kupfermine – kontrastiert, die maximal einen Horizont von einigen hundert Jahren, also einige wenige menschliche Generationen, antizipieren können.
An verschiedenen Orten in Nordamerika und Europa sichtet und schichtet der Film Transformationsschritte von Terraforming und Tunnelbau, widmet sich der Extraktion (fossiler) Rohstoffe und dem Abbau von Metallen sowie offenen Fragen der Atommüllendlagerung. Vielleicht finden sich Teile jener erhalten gebliebenen Knochen und Pflanzenreste eines fernen Erdzeitalters, die etwa Jozsef Köles laut eigener Aussage immer wieder im ungarischen Kholetagbau unterkommen, ja tatsächlich im naheliegenden paläontologischen Museum als Exponate ausgestellt. ERDE setzt somit auch auf die Kontrastmontage unterschiedlicher Dispositive (endliche Ressource vs. signifikanter Fund), die geochronologische Epochen für ein naturwissenschaftlich interessiertes Publikum datieren und narrativieren. Und er zeigt menschliche Arbeitskraft, oder mit Latour und Haraway gesprochenen, Mensch-Technik Hybride, die tatsächlich Berge versetzen. So erscheint etwa halb Kalifornien als einzige Baugrube.
Nicht jeder Schauplatz des Films ist für Geyerhalter direkt zugänglich. Im letzten und dystopischsten Abschnitt von ERDE begleitet der Regisseur Jean L’Hommecourt, eine First-Nation Aktivistin in Alberta, die ihm am Rande des Sperrgebiets der Athabasca-Ölsande das Ausmaß an Zerstörung und Verschmutzung und die direkten Folgen für ihre ehemals (auch) vom Fischfang lebende Community erläutert.
Geyrhalters streng komponierte Satellitenbildästhetik steht grundsätzlich im Spannungsverhältnis zu den Interviews mit Arbeiter:innen, Techniker:innen und Aktivist:innen am Boden, die Einblicke in ihre Arbeits- und Gedankenwelt geben. Der statische Blick von oben erfasst zwar ein gewaltiges Ausmaß von Flächen-Zurichtung und könnte als distanziert-ermächtigend wahrgenommen werden.
Gleichzeitig stellt er aber auch schlicht einen (verfremdenden) Teilausschnitt dar und erinnert somit daran, dass die Problemstellung Anthropozän ohnehin nicht in ein Bild zu fassen ist, auch wenn dieses mehrere Kilometer überblickt. Möglicherweise können solche technisch weiterentwickelten Vogelperspektiven, als Unterkategorie der entfesselten Kamera auch im Sinne der Medienwissenschafterin Elisa Linseisen, nämlich als ‚epistemologisches Zooming‘ begriffen werden. Linseisen geht mit High Definition. Medienphilosophisches Image Processing (2020) u.a. der Frage nach, wie Indexikalität als Spur unter HD Bedingungen – die sich durch potentiell endlose Postproduktion von Digitalbildern nach dem eigentlichen Zeitpunkt ihrer Aufnahme auszeichnen – die Beziehung zur äußeren Wirklichkeit hält. Und zwar tue sie das als „evidenter“ oder „authentischer Übersetzungsprozess“ der gerade dadurch die Referenzbeziehung aufrechterhalte (Linseisen 2020: 130). Ihre medienphilosophischen Überlegungen zum Zooming unterscheiden ein epistemologisches Zooming deutlich von der Idee einer Skalierungsachse, anhand derer vordefinierte Elemente oder prä-existente Verhältnisse beliebig vergrößert oder verkleinert werden könnten. Sie spricht von einem „Weltbild des Zoomings, aber nicht in einem vermeintlich habhaftwerdenden Zoom-In, sondern in einem destabilisierenden Zoom-Out“ (Linseisen 2020: 366). Der Einsatz von Satellitenaufnahmen in ERDE scheint mir anschlussfähig an folgende Vorstellungen: “Zoomen bedeutet stets mitten/im/Zooming/Werden, und nicht von einer unbeteiligten Überblicksposition ausgehend die Wirklichkeit auszutarieren“ (Ebd.) sowie dass es sich eigentlich um einen Versuch handelt, sich „eine Blickschneise zu erkämpfen, um überhaupt irgendetwas zu sehen.“ (Ebd.: 331)
In der Dramaturgie von ERDE fungieren die Satellitenbilder zwar als Zoom-In, als erste Annäherung an und Überblick auf einen Ort. Sie lassen sich dennoch mit Linseisen ebenfalls als ein destabilisierendes Zoom-Out begreifen. Somit ließen sich die Dokumentarfilme ERDE und LEVIATHAN, die sich in ihren Verfahrensweisen eigentlich diametral gegenüberstehen, über den Begriff der „Blickschneise“ möglicherweise verschränken.
Thematisch anknüpfend an Geyrhalters letztem Schauplatz, möchte ich noch einen dritten Film in meine Betrachtung aufnehmen. Wo sich in LEVIATHAN durch den Einsatz eines Go-Pro Netzwerks ein multiperspektivischer Sog entfaltet und in ERDE mittels strenger Bildkomposition inkommensurable Maßstäbe und Interessen aufeinandertreffen, wird im Experimentalfilm TOPOPHILIA ein riesiges Gebiet schlicht abgegangen. Dabei wird Unbewegtes in Bewegtes transformiert und umgekehrt.
Mit TOPOPHILIA (US 2015) arbeitet der Experimentalfilmkünstler Peter Bo Rappmund ebenfalls mit uncanny effects. TOPOPHILIA kann als letzter Teil einer Trilogie begriffen werden, mit der Rappmund nordamerikanische Grenzgebiete und Grenzregime aufsucht und abgeht – das Wasserversorgungssystem von Los Angeles oder die Staatsgrenze zwischen den USA und Mexiko. Seine Filme zeichnen sich durch (fast) menschenleere Landschaften aus, die jedoch immer als anthropogen berührt gelesen werden können. In mehrjähriger Arbeit fertigt er mittels einer digitalen Spiegelreflexkamera und meist mit Zuhilfenahme eines Intervallometers hunderttausende HD-Bilder an. Seine Filme bestehen somit aus animierten digitalen Photographien im Zeitraffer. TOPOPHILIA (Love of Landscapes) stellt schon im Titel eine logische Konsequenz dar. Rappmund folgt darin dem Weg der Trans-Alaska Pipeline, der Film ist das Ergebnis mehrjähriger Arbeit: Die exakt 1287 km lange Pipeline durchquert den Bundesstaat Alaska von Prudhoe Bay im Norden nach Port Valdez im Süden, der größte eisfreie Hafen Alaskas. Gut die Hälfte der Pipeline ragt dabei als riesige Stahlrohrstruktur auf Stelzen weithin sichtbar und ungeschützt aus einer überwiegend menschenleeren und doch das Zeugnis ihrer Arbeitskraft belegenden Landschaft, in deren Permafrostboden die Pipeline aufgrund ihrer Wärmeausstrahlung nicht verlegt werden konnte – sie würde sonst einsinken. Rappmunds digitaler Stop-Motion-Film arbeitet mit Verfremdungseffekten von Stillstand und Bewegung und geht den Weg der Pipeline in klar festgelegten Intervallen ab, hin und wieder zieht eine Caribou-Herde stockend durchs Bild oder legen Techniker Hand an der Pipeline an. Die Stahlrohrkonstruktion erscheint solcherart animiert, die Bewegung des Rohöls in deren Inneren bleibt unsichtbar. Zur akustischen Ebene hält Paul Dallas, der Rappmund zu seinem Produktionsprozess befragt hat, Folgendes fest:
A recurrent pinging in TOPOPHILIA is actually the sound of the pipe’s metal expanding and contracting, which he captured by placing a mic directly on the structure. The soundtrack functions as an animating force, making still images vibrate with a sense of movement and wonder. At times, the soundtrack operates as counterpoint. While the images are animated to represent something close to real time, they are never entirely in sync with the soundtrack. In other words, each sequence in Rappmund’s film references multiple time signatures, which is another way he complicates a seemingly straight-ahead depiction of reality. (Dallas 2016)
Ähnlich LEVIATHAN liegt auch mit TOPOPHILIA ein sensorisches Aggregat eines Schauplatzes bzw. einer Landschaft vor. Rappmund setzt jedoch nicht auf die Verunmöglichung klarer Verortung im Raum, sondern auf den Verfremdungseffekt von Stillstand und Bewegung.
ERDE, LEVIATHAN und TOPOPHILA können als ethnographische Arbeiten bzw. als zum anthropologischen Film zugehörig begriffen werden. Sie problematisieren den menschlichen Zugriff auf und die Zurichtung von ökologischen Milieus an Land und zu Wasser sowie die Extraktion und den Transport von Rohstoffen – also sie problematisieren ‚Natur‘ als (endliche) Ressource im globalen Kapitalismus. Im Kern geht es grundsätzlich um Kerben, an denen Kritik ansetzen kann – dies kann auch eine Sache radikaler Befragung, Relativierung und Erschütterung von ästhetischen Ordnungsregimen sein. Der Unheimlichkeit im Verhältnis Mensch und Welt, historischer und geologischer Zeit, tragen jedoch alle drei Filme bereits auf formal-ästhetischer Ebene Rechnung, in der Wahl ihrer stilistischen Mittel.
Bajohr, Hannes (Hg.) (2020) Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung. Berlin/Boston: De Gruyter.
Dallas, Paul (2016) Sublime Optics: Peter Bo Rappmund’s Topophilia, in: The Avery Review, no. 13 (February 2016), https://averyreview.com/issues/13/sublime-optics.
Fay, Jennifer (2018) Inhospitable Word. Cinema in the Time of the Anthropocene. Oxford University Press.
Linseisen, Elisa (2020) High Definition. Medienphilosophisches Image Processing, Lüneburg: Meson Press.
MacDonald, Scott (2013) Conversations on the Avant-Doc: Scott MacDonald Interviews, in: Framework: The Journal of Cinema and Media Volume 54, Number 2, Fall 2013, Detroit (Michigan): Wayne State Univ. Press, S. 259–330, Castaing- Taylor and Paravel on Leviathan, S. 324–330.
Mauer, Roman (2010), Einleitung, in: Mauer, Roman (Hg.) Das Meer im Film. Grenze, Spiegel, Übergang, München: edition text + kritik, S. 9–28.