Dem Mythos nach sind die neun Musen Töchter des Zeus und der Mnemosyne. Mit gesprochenem und gesungenem Wort, mit Musik und Tanz bewahren sie das in der Zeit Geschehene. Als Figuren einer vergegenwärtigenden Aufführung des Vergangenen werden die Musen von John Akomfrahs Film THE NINE MUSES aufgerufen. In neun, den einzelnen Künsten der Musen gewidmeten Sequenzen verdichtet Akomfrah Archivbilder der BBC aus den 1950er bis 1980er Jahren, literarische Texte, Stimmen aus Interviews, Szenen aus fiktionalen Filmen, populäre Songs, instrumentale Musikstücke, elektronische Klangflächen und gegenwärtige Landschaftsaufnahmen aus Alaska. Die ausgewählten Bilder aus Fernseharchiven zeigen in einzelnen Einstellungen und in kurzen Sequenzen den Alltag von aus der Karibik, aus Afrika, aus Pakistan und aus Indien nach Großbritannien Eingewanderten. Diese Archivbilder montiert der Film mit literarischen Beschreibungen von Reisen, von Aufbrüchen und Hindernissen, von Ankünften und Verlorenheit. Eingeleitet durch den Zwischentitel „Terpsichore: The Muse of Dance“ sind in der letzten Sequenz des Films fünf kurze Tanzszenen zu sehen. Die vorgefundenen, für längst erledigte und nun obskure Zwecke produzierten Aufnahmen von Tanzenden verknüpft Akomfrah zu einer neuen Bilderfolge. Sein Film versetzt die Körper, die einmal in den West Midlands vor einer Kamera getanzt haben, wieder in Bewegung. Die Tonspur spart die Songs und Musikstücke aus, die die Bewegungen der Tanzenden anleiten. Stattdessen sind Verse von William Shakespeare und die Sarabande in g-Moll aus Georg Friedrich Händels Oper Almira (Uraufführung 1705) zu hören. Das getragene Tempo der Sarabande, das Versmaß der hörbaren Rede und eine Zeitlupe fügen den aufgezeichneten Tanzbewegungen neue rhythmische und dynamische Strukturen hinzu. Die Montage hält die sichtbaren Bewegungen auf Abstand zum akustischen Raum der Stimme und der instrumentalen Musik. Die auseinandertreibenden visuellen, stimmlichen und musikalischen Bewegungen lassen die tanzenden Körper geräusch- und gewichtslos – als entrückte Nachbilder des Vergangenen – erscheinen.
Auf eine Analyse der audiovisuellen Bildbewegungen dieser zweiminütigen Schluss-Sequenz soll es im Folgenden hinauslaufen. Akomfrahs Montage transformiert die vorgefundenen Bilder von Tanzenden. Die Kopplung von ungleichartigen auditiven und visuellen Geschehnissen erfindet neue Formen der Bewegungswahrnehmung in der zeitgebundenen filmischen Präsentation. Die Verfahren der Montage, der Zeitlupe und der audiovisuellen Synchronisation lösen den Zusammenhang zwischen Körper und Tanz, Bewegung und Bild, Sichtbarem und Hörbarem. Tanz und Film treten hier als ein Verhältnis von miteinander verschränkten, einander unterbrechenden und dissonant entfalteten Bewegungsordnungen hervor. Mit Blick auf die mehrstimmige Verlaufsform und die unvorhersehbaren Entgegensetzungen der Montage hat Akomfrah in Interviews auf die Gesten der Improvisation im Free Jazz hingewiesen.1 Als Verfahren der Unterbrechung und Vervielfachung von klanglichen, tonalen oder rhythmischen Bewegungsordnungen sind es Gesten der Improvisation, die den Performances von Miles Davis, Cecil Taylor, Ornette Coleman oder Eric Dolphy eine spezifische Form geben. Wenn Akomfrah sich auf den Jazz der 1960er Jahre bezieht, so spielt er auf Praktiken an, die im Zeitraum der musikalischen Performance Relationen zwischen Zuhören und Erwidern, zwischen Solo und Ensemble, zwischen Ton und Timbre, zwischen Stimme und Geräusch aushandeln. Diesem Hinweis möchte ich folgen und Akomfrahs Montageverfahren als audiovisuelle Improvisation beschreiben. Die Bilder vom Tanzen in THE NINE MUSES sind Improvisationen über die Möglichkeiten von Körpern in Bewegung. Es sind Improvisationen sichtbarer, stimmlicher, sprachlicher und musikalischer Expressivität.
Als Mitbegründer des Black Audio Film Collective hat Akomfrah seit den mittleren 1980er Jahren Filme und Videoinstallationen realisiert. In der vielschichtigen Überlagerung von poetischen Verfahren und sozialdokumentarischen Praktiken verknüpften die Arbeiten des Black Audio Film Collective Kunst und Protest, ästhetische Form und politische Aktion. Die einzelnen Projekte verbindet der Impuls, zirkulierende und in ihrer Bedeutung festgeschriebene Bilder kritisch zu redigieren, um den vielfältigen Erfahrungen von Migrant_innen in Großbritannien – beispielsweise afrodiasporischen Selbstverständnissen oder Erfahrungen von rassistischer Ausgrenzung – Sichtbarkeit zu verleihen.2 Stuart Hall hat die Arbeiten des Kollektivs 1988 in seinem Vortrag „New Ethnicities“ als ‚neue kulturelle Politikformen‘ gewürdigt.3 Für Hall erheben die Arbeiten des Black Audio Film Collective einen politischen Einspruch durch Praktiken der Repräsentation, die den Zusammenhang zwischen Herkunft und kultureller Identität als durch Erinnerung und Begehren geformt, durch Texte und Technologien vermittelt – kurz: als einen in spezifischer Weise ausgehandelten und veränderbaren Zusammenhang aufzeigen (vgl. Hall 1992: 258). Die Verfahrensweisen der ‚Rekombination‘, der ‚Hybridisierung‘ und des ‚cut-and-mix‘ erweisen sich für Hall als Praktiken, die der kulturellen Erfahrung der afrikanischen, afrokaribischen oder indischen Diaspora Geltung verleihen und zugleich hegemoniale Auffassungen dessen, was ‚English‘ oder ‚British‘ sei, destabilisieren (vgl. Hall 1992: 258).4 Hall zufolge artikulieren diese ästhetischen Praktiken an den Rändern dominanter Diskurse die Verschiedenheit von Interessen und Identitäten. Dadurch verhandelten sie auch die Bedeutung und das Zusammenwirken von Kategorien wie ‚ethnicity‘, ‚gender‘, ‚sexuality‘ oder ‚class‘ neu. Der kurze Hinweis auf Hall soll hier genügen, um den engen Bezug zwischen der filmästhetisch verfassten Bildforschung des Black Audio Film Collective und den Diskursen der Cultural Studies, der British Black Studies und der postkolonialen Theorie anzuzeigen.5
Akomfrahs Arbeiten zeichnen sich durch die essayistische Verknüpfung und mehrstimmige Befragung von überlieferten Bildern aus. Mit Blick auf die Geschichte dokumentarischer Formen, die materiellen Entwendungen des Experimentalfilms oder die Bildtransfers von Film- und Videoinstallationen in der Kunstwelt wurden solche Verfahren unter den Stichworten ‚Kompilationsfilm‘, ‚found-footage-Film‘ oder ‚archival film‘ diskutiert.6 Akomfrahs Hinwendung zu Archiven und Aufzeichnungen aus anonymen Quellen sucht gegen zweckhafte, auf Überzeugung oder Illustration abzielende Verwendungsweisen von Bildern etwas Anderes, Unstimmiges oder Unbestimmtes in den Bildern zur Erscheinung zu bringen. Durch die Verknappung oder Verstärkung von sichtbaren und hörbaren Aspekten des Ausgangsmaterials erkunden Akomfrahs Arbeiten die Wirklichkeitsbezüge und Wirklichkeitseffekte vorgefundener Bilder. Einzelne Bildmomente werden aus ihren vormaligen Zusammenhängen isoliert und durch hinzugefügte Erzählstimmen und Klangräume neu verortet. Dabei überschreiten die Äußerungen, Töne und Geräusche die visuelle Beschreibung des Bildes. Die Stimmen und Hörszenen entfalten Gegenerzählungen von Ereignissen und artikulieren subjektive, einander widersprechende Wahrnehmungen. Einerseits lenkt die Fragmentierung und Re-Kombination des Materials die Aufmerksamkeit auf Konflikte im Bild: auf die ihm eingeschriebenen Blick- und Machtverhältnisse und das, was sich sonst noch zeigt und nicht in diese Ordnung fügt. Andererseits lassen Akomfrahs Verfahren der Re-Artikulation die Verwicklungen von Bildern in Konflikte hervortreten, wie sie sich an den vergangenen Gebrauchsweisen und Lektüren einzelner Bilder abzeichnen, die eine bestimmte Perspektive auf zeitgeschichtliche Ereignisse durchgesetzt haben. ‚Found footage‘ – das sind auch beklemmend kommentierte, instrumentalisierte und durch die Geschichte ihres Gebrauchs belastete Bilder. „How do you unburden images of the past with certain associations?“ – so umschreibt Akomfrah die Herausforderung beim Arbeiten mit Archivbildern (Akomfrah, zit. n. Budzinski 2012: o.S.).
Durch den wiederholten Zugriff auf Archivbilder aus den 1950er und 1960er Jahren findet Akomfrahs erster Film HANDSWORTH SONGS (UK 1986) einen Widerhall in THE NINE MUSES. Die Beziehung zwischen beiden Filmen charakterisiert Kass Banning folgendermaßen:
Side by side, the two films function as bookends, yet they were produced in very distinct historical conjunctures – one springing from anti-racist sentiment, the other ‚post-race‘ melancholia – and elicit divergent effects. Nevertheless, revitalizing archival images to complicate their initial framing and intended meaning drives both works. (Banning 2015: 136)
Wie Banning verdeutlicht, schreiben sich die jeweils konkreten politischen und diskursiven Spannungsfelder aus der Gegenwart der Filmproduktion in den formgebenden und deutenden Umgang mit dem Archivmaterial ein. Wenn THE NINE MUSES sich einigen historischen Aufnahmen noch einmal zuwendet, die bereits in HANDSWORTH SONGS zu sehen waren, so treten die Bilder in veränderten Ausschnitten, mit neuen Anschlüssen und mit abweichenden berichtenden und poetischen Erwiderungen auf. HANDSWORTH SONGS verknüpft das Archivmaterial von Migrant_innen der sogenannten ‚Windrush generation‘ mit 1985 aufgezeichneten Interviews und Reportagebildern.7 Die seinerzeit gegenwärtigen Aufnahmen protokollieren unterschiedliche Einschätzungen der Ausschreitungen, die sich 1985 zwischen Polizisten und jugendlichen Migrant_innen in Birmingham zugetragen haben. Im Unterschied dazu verdichten sich die Archivbild-Montagen in THE NINE MUSES zu einem Rückblick auf die Zeit der Ankunft von Migrant_innen in Großbritannien in den 1950er und 1960er Jahren. THE NINE MUSES präsentiert vorgefundene Bewegungsbilder und für den Film inszenierte Tableaus als Erinnerungszeichen für eine entfernte, über Erzählungen der Elterngeneration vermittelte und nicht selbst erlebte Vergangenheit, deren Beziehung zur Gegenwart unsicher und uneindeutig bleibt. Akomfrahs Übernahme von Bildern aus HANDSWORTH SONGS in THE NINE MUSES variiert durch die unterschiedlichen Zeitperspektiven auf das Vorgefundene den Kontext der Bild-Betrachtung. Akomfrah versetzt die Aufnahmen aus der Vergangenheit wieder – und noch einmal anders – in Bewegung. Dieser improvisatorische Umgang mit Archivbildern gibt eine prozessorientierte Auffassung von veränderlichen Bild-Ton-Verknüpfungen und vielfältigen Beziehungen zwischen Erzählung und Erinnerung zu erkennen. Cut-and-mix. Das historiografische Vermögen des Films scheint hier nicht ausschließlich in der materiellen Einschreibung und Speicherung von vor-filmischen Ereignissen beschlossen zu liegen. Statt der Bewahrung ist es die Beweglichkeit der Synchronisierung von Gesehenem und Gehörtem und die Zeitlichkeit des vorübergehenden Erscheinens, aufgrund derer filmische Bilder zu einer dissonanten Wahrnehmungsform von Geschichte werden können.
Die Spannung zwischen Aufzeichnung und Aufführung begründet für den Film als Medium ein Feld von ästhetisch-experimentellen Verfahren. Für die komplementären Bestimmungen des Films als technisch-materieller Artefakt und als zeitgebundener Wahrnehmungsakt möchte ich die Unterscheidung von ‚Archiv‘ und ‚Repertoire‘ anführen, die Diana Taylor für künstlerische und soziale Performances vorgeschlagen hat. Wie Taylor klarstellt, sind sowohl text- und objektbasierte (‚archive‘) als auch körper- und performancebasierte (‚repertoire‘) Formen der kulturellen Überlieferung durch Zeichen und Materialitäten strukturiert und vermittelt. Mit Blick auf die unterschiedlichen Dynamiken von Bewahren und Verschwinden führt sie aus:
The repertoire […] enacts embodied memory through performances, gestures, orality, movement, dance, singing – in short, all those acts usually thought of as ephemeral, non-reproducible knowledge. […] The repertoire requires presence – people participate in the production and reproduction of knowledge by being there, being a part of the transmission. As opposed to the supposedly stable objects in the archive, the actions that are the repertoire do not remain the same. The repertoire both keeps and transforms choreographies of meaning. (Taylor 2016: 104)
Durch die Verdopplungen und Verschiebungen in der wiederholten Aufführung vorgefundener Bilder suspendiert Akomfrah den Ordnungssinn des Bildarchivs. Der überlieferte Vorrat an Bildern und Tönen wird durch die variierenden Anordnungen des technisch vorgeführten und durch die Zuschauenden sinnlich mitvollzogenen Erscheinens als Bildrepertoire verhandelt.
Den Ausgangspunkt seines Films benennt Akomfrah in folgender Weise:
With THE NINE MUSES we were working with tropes and ideas of being and becoming. […] We were trying to understand how people ‚become‘ migrants. How you move from a place of certainty – your country, your town, your continent – into this other thing, which is not really either here nor there. I don’t think it ever ends. […] It’s a kind of interminable process, people are endlessly arriving but never getting there, so to speak – and rather than see it as a problem, I was trying to explore what this means for a sense of being. (Akomfrah, zit. n. Power 2011: 62)
THE NINE MUSES wurde durch ein gemeinsames Förderprogramm der BBC-Regionalsender und des Arts Council England produziert. Gefördert wurden seinerzeit Kunstprojekte, die sich mit Bild- und Tonaufzeichnungen aus den regionalen Fernseharchiven der BBC auseinandersetzten. Im Falle von Akomfrahs Film stammen die Bilder aus drei Sammlungen in Birmingham (BBC Information and Archives, Birmingham Central Library, Media Archive for Central England). THE NINE MUSES zeigt Szenen der Ankunft von Einwandernden in Häfen, in Bahnhöfen und auf Flugplätzen. Zu sehen sind Gesten der körperlichen Arbeit – auf Baustellen, in Großküchen, in Wäschereien, in Eisenwerken und Krankenhäusern. Die Bilder erfassen Zusammenkünfte von Personen im Stadtraum – in Höfen spielende Kinder, Geschäfte, Cafés, Bingo-Hallen, Passanten auf der Straße. Und die Bilder zeigen, in zuweilen aufdringlicher Nähe, die Einschlüsse von Personen in beengten Räumen – in Wohnungen, in Hinterhöfen oder beim Sprachunterricht. In den letzten beiden Sequenzen des Films sind Gebärden des Gebets bei religiösen Zusammenkünften zu sehen – und die Tanzenden. Zu den Archiv-Bildern ist nur in sehr wenigen Szenen der Originalton zu hören. Durch den Wegfall der Kommentarstimmen sind die Bilder nicht mehr festgelegt auf narrative oder belegende Funktionen. Es gibt keine Datierungen der Aufnahmen und keine Angaben zu den Orten oder Personen, die im Bild zu sehen sind. Ebenso bleiben die Umstände der Filmaufnahmen unklar. Die Ungewissheit über die Geschichte der einzelnen Einstellungsfolgen lässt die Erfahrung des Zuschauens zu einer Suche nach Markierungen im Bild werden – zu einer Suche nach Indizien, die das Gezeigte zeitlich oder situativ verankern würden. Im Versuch, die Bilder als Dokumente zu lesen, richtet sich die Aufmerksamkeit auf absichtslos in das Bild geratene Details. Immer wieder sucht der Blick nach Kleidung und Frisuren als Zeitzeichen der Mode, nach Werbetafeln und Beschriftungen im Bild oder nach den gestalterischen Besonderheiten der Gebäude, Möbel oder Autos.
Die Präsentation der Bilder stellt sie als zeitgebundene, überlieferte und begrenzte Artefakte aus. Die geringe Auflösung, die begrenzte Tiefenschärfe und die matten Kontraste der Bilder verweisen auf obsolete Techniken der Aufnahme, Vervielfachung und Speicherung. 450 VHS-Kassetten, die das bevorzugte Speichermedium in Fernseharchiven sind, wurden für den Film digitalisiert. In Interviews hat Akomfrah auf die enorme manuelle Arbeit hingewiesen, die nötig ist, um die Bild- und Tonsignale analoger Videobänder als digitale Objekte verfügbar zu machen (vgl. Budzinski 2012: o.S.). Mit den Bildern wird somit auch eine Geschichte von Bildträgern, Bildrauschen und Bildübertragungen sichtbar. Das technische Verfahren des ‚reformatting‘ bedeutet in diesem Fall eine tatsächliche Veränderung des Bildformats. VHS-Bänder weisen ein Seitenverhältnis von 4:3 auf. THE NINE MUSES ist im in Nordamerika gängigen Widescreen-Format produziert, mit einem Seitenverhältnis von 1,85:1. Diese Veränderung der Bildfeldgröße bedeutet einen Eingriff in die originale Bildkomposition der Aufnahmen. Gegenüber dem analogen Ausgangsmaterial zeigt Akomfrahs Film also nur Ausschnitte der Archiv-Aufnahmen. Die Bilder werden durch die gesetzten Schnitte in ihrer zeitlichen Verlaufsform re-inszeniert. Und die vorgefundenen Anordnungen von Personen und Objekten im Bildfeld werden re-kadriert.
In THE NINE MUSES sind alternierend Archivbilder, Titeltafeln mit Auszügen aus literarischen Texten und für den Film produzierte schwarz-weiße Außenaufnahmen von einem Mann mittleren Alters mit langen Dreadlocks und einer Brille zu sehen (Trevor Mathison). Durch ungewöhnliche Aufnahmewinkel verfremdet und durch ein extremes Weitwinkel-Objektiv verzerrt, zeigen lange Einstellungen die Figur auf menschenleeren Brachen eines Industriehafens. Der Körper ruht zwischen liegengebliebenen Betonbauteilen und probiert verschiedene Haltungen aus, als ginge es darum, sich in dem postindustriellen Setting einzurichten. Immer wieder blickt die Figur – zuweilen von Großaufnahmen erfasst – direkt in die Kamera. Als Gegenpart zu dieser nahen Blickbeziehung und den eng kadrierten Archivbildern von Personen erscheinen für den Film produzierte Landschaftsaufnahmen aus Alaska. Die Landschaftsaufnahmen erweitern den Blick in den Tiefenraum von Totalen. Einzelne Figuren in farbigen Anoraks fügen sich in die kontemplativen Ansichten von schneebedeckten Küsten und Bergen als ein Größenmaß und als ein Bezugspunkt für den Blick der Betrachter_innen ein.
Für die Tonspur hat Akomfrah von Schauspielern eingesprochene literarische Texte montiert. Zu den Bildern des Alltags in Birmingham treten Verse und Prosa von Homer, Sophokles, John Milton, Dylan Thomas, Friedrich Nietzsche, Emily Dickinson, Shakespeare, Dante Alighieri, die onomatopoetischen Wortspiele von James Joyce und die eigentümlich haltlosen Ich-Stimmen aus Texten von Samuel Beckett. Die Text-Fragmente und der Klang der dichterischen Sprache entwerfen einen vielstimmigen Raum, der sich außerhalb der Bilder oder vor ihnen auszudehnen scheint. Seinen Zugriff auf den europäischen und nordamerikanischen Literaturkanon hat Akomfrah als eine Abkehr von den kommentierenden Off-Stimmen in Essayfilmen beschrieben: „I’m trying to find another way of invoking the voice, away from the epistolary. We need to keep rethinking how the voice exists.“ (Akomfrah, zit. n. Power 2011: 63) In der postkolonialen Theorie wurden die Durchsetzungsstrategien und universalen Geltungsansprüche europäischer Epistemologien vielfach kritisiert und durch selbstermächtigende Erwiderungen dezentriert. Demgegenüber scheint in THE NINE MUSES an den zusammengerückten, sich gegenseitig verschiebenden und sich zu Ausdrücken subjektiver Erfahrung verbündenden Bildern (black and brown Britons) und Stimmen (Dichterworte weißer Männer) eine Verkomplizierung von Zugehörigkeiten, kulturellen Referenzen und Selbstpositionierungen auf. Identitätspolitische Artikulationen, so legt Akomfrah es in Kommentaren zum Film nahe, sind entgegen ihrer emanzipatorischen Impulse immer auch in problematischer Weise vereinheitlichend und begrenzend:
The point was to get off the road of certain knee-jerk recognitions, facile assumptions about what constitutes black life, black music, black noise, etc… I’m a born bricoleur. I love the way things that are otherwise discrete and self contained start to suggest things once they are forced into a dialogue with something else. (Akomfrah, zit. n. Budzinski 2012: o.S.)
Auf der Tonspur von THE NINE MUSES treten zu den literarischen Beschreibungen und den Interview-Stimmen von Migrant_innen einzelne vergrößerte Geräusche, Songs (Paul Robeson, Leontyne Price), Lieder (Franz Schubert), instrumentale Musikstücke (Arvo Pärt), Dhrupad-Gesang (Gundecha Brothers) und elektronische Klänge. Assoziationen zwischen dem Gesehenen und dem Gehörten sind möglich, manchmal naheliegend. Dennoch fügen sich die Bilder, Töne und Klänge nicht zu eindeutigen Anordnungen. Die Montage setzt voneinander abweichende, synkopierte Bewegungen frei.
THE NINE MUSES ist in neun, durch Zwischentitel voneinander abgesetzte Sequenzen unterteilt. Die Titel geben jeweils in weißer Schrift auf schwarzem Grund den Namen einer der neun Musen an und die Kunstform, für deren Wirken die Muse einsteht. Die Namen der Musen und der Bericht über die Abstammung von neun Mädchen gleicher Art gehen auf die Dichtungen Hesiods zurück (vgl. Söffner 2008: 441). Die Musen werden bei Hesiod als die Urheberinnen der einzelnen menschlichen Künste benannt. Mit gesprochenem und gesungenem Wort, Musik und Tanz künden die Musen den Menschen vom Vergangenen und Künftigen. Am Filmanfang von THE NINE MUSES sind auf der Tonspur zwei Musenanrufungen zu hören. Zunächst sind die ersten Verse von Miltons epischem Gedicht Paradise Lost aus dem Jahre 1667 zu hören. Kurz nach der Anrufung – „Sing Heav’nly Muse“ (Milton 1877: Book I, 6, o.S.) – folgt auf der Tonspur ein Auszug aus dem ersten Gesang von Homers Odyssee: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, / Und auf dem Meere so viel’ unnennbare Leiden erduldet, / Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.“ (Homer 1990: 488) Die rezitierten Verse sind Teil der ersten Filmsequenz, die Kalliope, der Muse der epischen Dichtung, gewidmet ist. Mit den Musenanrufungen evoziert die Tonspur eine bestimmte Auffassung einer vielstimmigen mündlichen Überlieferung: Gemäß dieser Auffassung soll sich der erinnernde Bericht über Vergangenes mit der Stimme des Vortragenden in der gegenwärtigen Aufführung des poetischen Textes überlagern. Die Bilder, die im Film die Musenanrufungen begleiten, zeigen widriges Wetter (Schneestürme und Hochwasser) sowie Landschaften mit bunten Anorak-Figuren im Schnee. In Interviews hat Akomfrah diese Bilder auf die Erzählungen seiner Eltern, die aus Ghana nach England gekommen sind, und auf die Berichte anderer Migrant_innen der ersten Generation bezogen:
There’s a kind of folklore about immigration which is all tied up with the cold. Ask grandmothers, mothers, and the first thing they’ll say about coming here was that it was so cold, and the second thing they’ll say is that it was so gray that they felt that they were the only thing with any color in it! So the film is premised on those two ideas, which constitute a kind of mythology or apocrypha. (Akomfrah, zit. n. Power 2011: 62)
Die letzte Sequenz des Films ist Terpsichore, der Muse des Tanzes, gewidmet. ‚Terpsichore‘ bedeutet im Griechischen „die sich am Tanzreigen erfreut“ (Söffner 2008: 441). In bildlichen Darstellungen wird Terpsichore mit Musikinstrumenten als Attributen versehen. Die Verbindung von Tanz, Musik und Gesang wird plausibel vor dem Hintergrund der Geschichte und Verwendungsgeschichte des griechischen Wortes ‚músa‘. Wie Jan Söffner darlegt, bedeutet das Wort nicht nur Muse, sondern bezeichnet auch den ‚Gesang‘ oder den ‚poetischen Text‘ (vgl. Söffner 2008: 441). Die Wortverbindung ‚musiké techné‘ bezeichnet die Musenkunst und wird verkürzt auf ‚musiké‘ zur Benennung der Musik. In der Verbindung von Gesang, gemessenem Tanzschritt und dem Spiel der Lyra erweist sich für Platon die Musenkunst als „Dreiheit aus Logos, Rhythmos und Harmonie“ (Platon, zit. n. Söffner 2008: 441–442). Der Rhythmus aus Längen und Kürzen in der Versstruktur der antiken griechischen Dichtung wird als ‚métron‘ bezeichnet und leitet sich aus kultischen Tanzschritten her (vgl. Söffner 2008: 442). Das Metrum der Verse, das auf gemessenen Tanzschritten beruht, und die Melodie der Wortakzente begründen ein rhythmisches und harmonisches Schema des poetischen Textes. Das gesungene oder gesprochene Wort ist also über das Metrum und die Melodie auf eine tänzerische Bewegung und auf das harmonische Zusammenklingen von Tönen im Spiel eines Saiteninstruments bezogen.
In der Schluss-Sequenz von THE NINE MUSES wird das gesprochene Wort mit tänzerischen Bewegungen und Tönen von Saiteninstrumenten montiert. Mit dem Zwischentitel „Terpsichore: The Muse of Dance“ setzt auf der Tonspur die Sarabande in g-Moll aus Händels Oper Almira ein. Beeinflusst vom französischen höfischen Tanz und der französischen Oper enthält Almira drei große Tanzszenen mit 11 bzw. 12 Einzeltänzen (vgl. Leopold 2012: 72 ff.). Im dritten Akt begleitet die Sarabande einen festlichen Aufzug am Hof von Almira, der Königin von Kastilien. Bei dieser Aufführung stellen kostümierte Personen die drei Teile der Welt, Europa, Afrika und Asien, dar. Die Kontinente werden jeweils mit einer Arie und einem Ballett repräsentiert. Gemäß der Opern-Partitur begleitet die Sarabande den „Tanz der Asiatern“ (Chrysander 1873: 89). Die musikalische Form der Sarabande ist ein Dreiertakt. Durch den homophonen Satz und die deutlich wiederkehrenden Taktschwerpunkte unterstützt die rhythmisch gleichlaufende Form die Ausführung tänzerischer Schrittfolgen (vgl. Leopold 2012: 72 ff.). In der Schluss-Sequenz von THE NINE MUSES ertönt die Sarabande durchgängig. Die Musik führt so eine die Bildschnitte überbrückende harmonische und rhythmische Ordnung ein. Das getragene Tempo und der Dreiertakt stehen dabei zunehmend in Spannung zu den sichtbaren Bewegungen der Tanzenden, die sich zu den Zweiertakten und Beats deutlich neuerer und schnellerer Tanzmusik bewegen.
Nach der Titeltafel zeigt eine Folge von drei Einstellungen Frauen, die in traditionellen Kostümen einen Tanz aufführen. Die Handkamera folgt dabei den Bewegungsrichtungen der Körper, die sich zum Boden neigen und wiederaufrichten. Zu sehen sind Klanghölzer und Glöckchen, die unhörbar bleiben. Der begrenzte Platz und die gestapelten Stühle im Hintergrund stellen klar: Das Gezeigte ist keine Aufführung, sondern eine Probe in einem Mehrzweckraum. Zu den mimischen und gestischen Bewegungen einer Frau, die ihren Auftritt mit einer Rede begleitet, setzt auf der Tonspur eine Männerstimme ein. Zu hören ist hier ein anderer Bühnenauftritt: Es ist der in Blankversen verfasste Monolog von Orsino, mit dem Shakespeares Stück Twelfth Night, or What You Will beginnt: „If music be the food of love, play on; / Give me excess of it, that, surfeiting, / The appetite may sicken, and so die.“ (Shakespeare 1601: o.S.) Die Kamera neigt sich schließlich zum Boden und erfasst den Körper einer Tänzerin bis zu einer Naheinstellung ihrer Füße. Ein Bildschnitt springt zur dunklen Aufnahme von Füßen eines Mannes, zu einem anderen Raum. Wie eine Umkehrung der vorherigen Bewegung richtet sich der Kamerablick nun aufwärts und zeigt die Beine, den Torso und schließlich den Oberkörper des Tanzenden. Durch eine leichte Zeitlupe erscheinen seine impulsiven Bewegungen entrückt. Bildschnitt. Die folgende Einstellung zeigt einen anderen jungen Mann, offenbar im selben Disco-Raum. Die Handkamera umkreist seinen Oberkörper, geht etwas auf Abstand. Im bunt flackernden Gegenlicht von Scheinwerfern erscheint der Körper als Silhouette. Dann folgen Aufnahmen eines weiteren Mannes im Gegenlicht, sein Tanz geht in ein Hüpfen über, die Arme schlenkern neben dem Körper. Eine Zeitlupe verstärkt den Eindruck einer heiteren, schwerelos schwebenden Hingabe des Tanzenden an den Rhythmus der für die Zuschauer_innen unhörbaren Musik. Mit dem Bildschnitt wechseln abrupt die Helligkeit, der Kontrast und das Farbschema der Aufnahmen. Zu sehen ist nun eine Uferlandschaft im Schnee. Im Zentrum der Einstellung teilt ein in die Bildtiefe laufender Steg das Bildfeld. Die starre Symmetrie der Komposition wird aufgehoben durch die Bewegung eines Mannes im gelben Anorak, der von links in die Einstellung läuft und dann in die Tiefe des sichtbaren Raumes geht. Seine Schritte sind synchronisiert mit den prägnanten Geräuschen von knirschendem Schnee. Bildschnitt. Eine Naheinstellung zeigt einen Mann in einem großgemusterten Jackett. Er spielt auf einer roten E-Gitarre, singt dazu und wippt in den Knien. Die anschließenden Einstellungen zeigen diejenigen, die seiner Musik zuhören: Paare, die sich auf einer Tanzfläche bewegen. Bildschnitt. In einer schwarz-weißen Aufnahme mit matten Kontrasten ist ein dicht gefüllter Raum zu sehen: rechts im Vordergrund des Bildes ein Mann am Schlagzeug, links eine Tanzfläche. Zwei weitere Einstellungen isolieren dann einen Mann und eine Frau aus der Gruppe der Tanzenden. Am rechten Rand laufen Kratzer durch das Bild, die offenbar von einer abgenutzten Filmkopie herrühren. Die rezitierten Shakespeare-Verse – „[…] so full of shapes is fancy / That it alone is high fantastical.“ (Ebd.) – enden mit dem folgenden Bildschnitt, der auch mit einem Taktende der Sarabande synchronisiert ist. Während das Bild vom verrauschten Video zu hochaufgelösten Aufnahmen von Schneegestöber wechselt, hebt die Lautstärke der Musik merklich an. Eine langsame Kamerabewegung schwenkt von Baumkronen nach links unten zu einer Straße. Aus dem Hintergrund läuft ein Mann im gelben Anorak zügig auf die Kamera zu. Seine Schritte und die weit ausholenden Armbewegungen, die sein Gehen begleiten, sind im Gleichlauf mit dem Takt der Musik. Die letzte Einstellung zeigt wiederum eine Straße im Schnee. Statt der Figur bewegt sich jetzt ein Auto auf der Straße, das in die Bildtiefe fährt. Die Tonspur verschränkt den Schlussakkord der Sarabande mit einem Fade-in von Fahrgeräuschen des Autos. Dazu treten Windgeräusche und elektronische Klangflächen. Dann blendet das Bild ins Schwarz und der Abspann folgt.
In der Sequenz sind die Songs und Musikstücke nicht zu hören, zu denen sich die Tanzenden bewegen. Die Entgegensetzung von geräuschlosen Bildern und akustischem Geschehen organisiert stetige Betonungsverschiebungen: zwischen den sichtbaren Bewegungsimpulsen und dem Versmaß der hörbaren Rede, zwischen den individuellen Rhythmen der Tanzenden und den wiederkehrenden Taktschwerpunkten der Musik. Die mit der Dauer von Bildern und Sounds sich – im Film, als Film – ausformenden audiovisuellen Relationen geben Verschleppungen des Tempos und stolpernde Unterbrechungen zu sehen und zu hören. Mit Blick auf seine Montageverfahren beschreibt Akomfrah Töne, Klänge und Stimmen als eine Sprengung und Zerlegung der Ordnung von Bildfolgen. Dem Filmakustischen spricht er das Vermögen zu, gegenüber dem Bild einen abweichenden Blick einzuführen:
Sound has a gaze, I don’t mean sound as in music […]. I mean the physicality of noise in general has a gaze and that reverses the traditional understandings that people have about sound and the way sound and image work. Normally images are what have gazes or points of view and sound underscores […]. (Akomfrah 2010: o.S.)
Akomfrahs Montage bringt die Bestimmtheit von Bildern ins Schwanken durch die Verknüpfung mit der Materialität von Klängen, Lauten und Geräuschen, die als Unterbrechungen und Differenzierungen zum Sichtbaren treten. Die dissonante Synchronisierung des Audio/Visuellen formt in der zeitgebundenen Form des Films neue Aufteilungen und Zusammenhänge zwischen Sichtbarkeit und Klang, zwischen Sehen und Hören aus. Akomfrahs Montageverfahren möchte ich in Bezug auf Fred Motens Studie In the Break: The Aesthetics of the Black Radical Tradition als audiovisuelle Improvisation beschreiben.
Im Jazz bezeichnet ‚break‘ eine kurze Aufhebung des Rhythmus und Flusses der Musik, bei der die einstimmige oder mehrstimmige Struktur durch das Spiel des Solisten unterbrochen wird. Diese Unterbrechung im Ensemble-Spiel durch den Einwurf einer Stimme hat meist eine Dauer von vier bis acht Takten (vgl. N.N. [Artikel ‚break‘] o.J.: o.S.). Ausgehend von den Besonderheiten der Solo-Performance im Jazz entwickelt Moten ein Modell für eine Differenzierung in einer zeitlichen Verlaufsform: Bei Moten steht ‚break‘ für die improvisierte Artikulation einer Solostimme, die in ihrer konkreten Materialität des Klangs eine phonetische, melodische, tonale, harmonische oder rhythmische Struktur unterbricht und damit auch den Gegensatz zwischen singulärer Artikulation und Ordnungsstrukturen transformiert. Moten befasst sich in seiner Studie mit der afro-amerikanischen literarischen und musikalischen Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre und mit ihren vielfältigen Verbindungen zu politischen Utopien des ‚black nationalism‘. In Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Positionen geht es Moten in seinen Überlegungen zur Improvisation im Jazz um die Beschreibung einer phonischen Materialität (,phonic matter‘/‚phonic substance‘), die sich nicht auf wortsprachliche Bedeutung oder konventionelle musikalische Formen reduzieren lässt. Wenn beispielsweise Ferdinand de Saussure in seinen Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft den Klang als materielles Element nicht als Teil der Sprache einschätzt, sondern als bloßes Vehikel ausschließt, so kritisiert Moten Saussures Abstraktion im Versuch, universale Strukturen zu formulieren (vgl. Moten 2003: 13). Dagegen hält Moten das Hörbarwerden – die Performance – einer widerständigen Materialität des Klangs: „improvisation is sounding in linguistic failure“ (Moten 2003: 142). Motens Schreibweise drängt auf ein Hinhören. Sein Text ist eine Aufzeichnung und ein Verstärken des Sounds von Objekten, literarischen Texten, Körpern, Instrumentalstimmen, autobiografischen Berichten oder Fotografien.8 Moten arrangiert poetische und philosophische Texte als Solostimmen und Ensembles; und er improvisiert über die Verstrickungen zwischen Stimme, Äußerung, Wort und Schrei in der Dichtung und im Jazz. In seinen Überlegungen zu den möglichen ästhetischen und politischen Relationen zwischen Solo und Ensemble, artikulierter Differenz und Harmonie spricht Moten auch die Verbindung von Dichtung und Musik an – genauer: ihre vorgängige, aufgelöste und kaum mehr zugängliche Einheit im Wort ‚musiké‘: „mousike: the singularization of the muses’ art, the distillation of the ensemble of the aesthetic“ (Moten 2003: 58).
In ihrer Arbeit an differenzierenden Unterbrechungen und dissonanten Kopplungen von Bildern, Stimmen und Sounds sind Akomfrahs Montageverfahren audiovisuelle Improvisationen. Die Anschlüsse, Aufteilungen und zeitlichen Überlagerungen von Bildspur und Tonspur vervielfachen Beziehungen zwischen Gesehenem und Gehörtem, zwischen visueller Bewegung, Laut, Wort, Musik und Klang. In der Schluss-Sequenz von THE NINE MUSES treten die sichtbaren Bewegungen der tanzenden Körper dissonant zwischen und neben die rhythmische Ordnung der Musik. Im Verhältnis zum Tanz erscheint der Film hier nicht als Mittel der Bewahrung von Bewegung, sondern als improvisatorische Aufführung von abweichenden Bewegungen. Die audiovisuellen Bilder des Films sind ‚breaks‘ – Einsätze und Dynamiken einer laut und vernehmbar werdenden Unterbrechung.
Akomfrah, John (2010) Chiasmus. Interview auf der DVD The Nine Muses. New Waves Film.
Banning, Kass (2015) The Nine Muses: Recalibrating Migratory Aesthetics, in: Black Camera, An International Film Journal 6, Nr. 2, S. 135–146.
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