Am Anfang – was sonst? – eine Leiche. Meist ist es eine Leiche. Andernfalls ist es ein Erpresserbrief, ein durchwühltes Haus, fehlender Schmuck oder Geld. Immer ist etwas zu viel da oder etwas zu wenig. Eine Abnormalität. Ein erstes Zeichen, jedoch eines, das auf nichts verweist. Mord, Selbstmord oder Herzinfarkt? Raub oder Zerstörung? Erpressung oder Versicherungsbetrug? Vor allem entsteht eine Vielzahl von Fragen: Wer? Wann? Wie? Warum? Das ‚Was?‘ ist unbedeutend und meist schon geklärt.
Ein zweites Ereignis gesellt sich hinzu, eine zweite Abnormalität: Ein Mädchen fällt dem Detektiv in die Arme, ein Ring liegt neben der Leiche, eine zweite Leiche wird gefunden. Es ist dieses zweite Ereignis, die sich wiederholende Abnormalität, die überhaupt erst dazu führt, dass die erste Abnormalität als solche empfunden wird. Und es ist dieses Ereignis der Wiederholung, das nun das, was hier die Detektivmaschine genannt werden soll, in Bewegung setzt. Die Detektiv_in beginnt ihre Arbeit, sie erhält einen Auftrag, eine Anweisung, eine Bitte. Meist soll sie ihre Ermittlungen geheim halten, vorbei an Polizei- und Staatsgewalt arbeiten, soll diskret sein, um möglichst öffentliches Aufsehen zu vermeiden, denn sonst hätte man ja gleich die Polizei rufen können. Und die Polizei ist weder im Hause der Sternwoods in THE BIG SLEEP (USA 1946) noch bei Brigid O’Shaughnessy in THE MALTESE FALCON (USA 1941) beliebt. Welcher Auftrag einer Detektiv_in steht schon im Einklang mit dem Recht?1 Der Auftrag gibt der Detektiv_in eine erste Deutung. Sie versucht, die Zeichen zu lesen, mit Bedeutung zu beladen und zu bestimmen. Doch die Detektiv_in ist schlau und erfahren, sie widersteht jeglicher voreiligen Bedeutungszuschreibung und sucht gerade jene Zeichen, die in keinem vorgegebenen Deutungszusammenhang aufgehen. Sie sucht Zeichen ohne Bedeutung: a-signifikante Zeichen (Guattari 2011: 42f.). Ohne auf etwas zu verweisen, das die direkte Lösung des Falles bedeuten würde, ohne überhaupt kognitiv interpretiert bzw. gedeutet zu werden, produzieren a-signifikante Zeichen vielfältige Relationen und Bewegungen und kurbeln so die Arbeit der Detektivmaschine an. Denn a-signifikante Zeichen sind durchaus wirkungsvoll: Ohne zu wissen, was die Leiche, die Erpressung, der Raub bedeuten, und ohne zu wissen, welche Beziehung der Ring, das Mädchen oder die Spuren im Staub zu ihnen haben, eröffnen sie Anknüpfungspunkte und setzen so die Ermittlungen in Bewegung.2
Die evozierten Bewegungen sind vielfältig. Im Detektivfilm lassen sie sich in mindestens zwei Kategorien teilen: jene des Denkens und jene der Beobachtung (vgl. Deleuze 2003: 120f.). Für die Bewegungen des Denkens ist vor allem Sherlock Holmes anzuführen und seine Methode, die er selbst nach den Prinzipien der Deduktion beschreibt (vgl. Doyle 2007: 33). Die andere Methode ist jene der Private Eyes, es ist die Arbeit von Phillip Marlowe und Sam Spade. Bei den Letzteren sind es eher indikative Techniken: das Verfolgen, Beobachten, Beschatten, das Aufsuchen von Zeug_innen und Verdächtigen. Ist Sherlock Holmes die meiste Zeit an seinem Schreibtisch anzutreffen, so ist Marlowes Platz das Auto – mal fahrend, mal wartend. Selten sind es dabei in der machistischen Welt von Marlowe oder Spade Frauen, die mit den Ermittlungen beauftragt werden, was nicht heißt, dass sie nicht Teil der Ermittlungen und der Detektivmaschine sind: Sie ko-ermitteln, gegen-ermitteln, sie helfen und kreuzen die Wege und Spuren, sie heißen z.B. Ann Grayle (MURDER, MY SWEET, USA 1944) und sie kommen nicht selten der Arbeit des Detektives zuvor.
Denken und Beobachten sind jedoch nicht zu trennen und immer wieder ineinander verschachtelt: So ist es der Ausgangspunkt jeder Sherlock-Holmes-Erzählung, dass er den Tatort besichtigt und die Spuren liest, die alle anderen übersehen und auch Marlowe zieht immer wieder gedankliche Rückschlüsse, entschlüsselt und verbindet. Die Detektivmaschine ist durch eine Mischform und durch ein Zusammenspiel gedanklicher und beobachtender Bewegungen bestimmt. Die Bewegungen des Denkens sind dabei in keiner Weise den anderen Bewegungen nachgeordnet; dieser Ausdruck ist nicht metaphorisch zu verstehen, sondern beschreibt das Denken als eine kreative und keine repräsentative Tätigkeit. Als ein „Schwingungszentrum“, in dem sich „mannigfaltige Wellen, […] heben und senken“ (Deleuze/Guattari 2000: 30, 42), interferieren die Bewegungen des Denkens mit den vielfältigen anderen Bewegungen der Detektivarbeit.
Das ungewöhnliche, jedoch noch a-signifikante Zeichen hat (durch Wiederholung) die Detektivmaschine gestartet, die Detektiv_in, ausgestattet mit Spesen, setzt sich in Bewegung, sie will den Auftrag erfüllen, doch zugleich versucht sie, diesem zu entfliehen und den ihr vorgegebenen Deutungen und Stratifikationen zu entkommen. Was nun folgt, ist eine ganze Serie von Beobachtungen (Marlowe) und Rückschlüssen (Sherlock Holmes). Bleiben wir bei Marlowe und seiner Jagd nach neuen Indizien: In seinem Umherirren durch die Stadt beobachtet er zahlreiche Indizien, die ihn an immer neue Orte bringen: Von einem Buchladen verfolgt er ein Paket, bis dieses ins Gebüsch geworfen wird, fährt zurück und in die Tiefgarage, zur Wohnung des Buchhändlers, zum Pier, zum Casino, hinaus aus der Stadt. Dies ist keine lineare Bewegung, an deren Ende die Lösung des Falls liegt. Immer wieder werden seine Bewegungen durch neue Zeichen, neue Indizien (Indizes) umgelenkt, sie werden beschleunigt und verlangsamt, neue Bewegungen werden produziert und so entsteht ein „Tanz mit Indizes/Indizien“ (Deleuze 1997: 223). Keines der Zeichen verweist auf die ‚Lösung‘ des Falls, es ist ein Tanz der „sign particles“ (Guattari 2011: 70), die sich auf choreografische Weise in den Bewegungen der Detektiv_in miteinander verbinden. Zeichen-Teilchen sind keine Zeichen-Teile: „Sign-particles“ sind nicht im Sinne einzelner Puzzleteile zu verstehen, die zusammengesetzt die gesamte Wahrheit ergeben. Die Detektivmaschine arbeitet nicht einfach additiv, vielmehr ändert sie mit jedem neuen Zeichen, mit jeder neuen Bewegung die gesamte Situation, vergangene Ereignisse verknüpft sie auf neue Weise. Marlowe kehrt ein zweites Mal zurück zur Wohnung des Ermordeten, nur dass sich mittlerweile die gesamte Situation verändert hat. Die Leiche ist verschwunden, beim dritten Mal ist sie wieder da, nur ganz anders: aufgebahrt, gesäubert, hergerichtet.
Hier, in den suchenden Bewegungen entsteht die Choreografie eines Aussagegefüges. Mit dem Konzept des Aussagegefüges entwickelt Guattari seine Semiotik, die gerade nicht davon ausgeht, dass ein Gegenstand einen Sachverhalt ausdrückt, sondern dass das Ereignis des Ausdrucks immer im Zusammenspiel vielfältiger Elemente geschieht (Guattari 2011: 45). Auch in der Detektivarbeit wird ein Aussagegefüge, werden sogar viele Aussagegefüge produziert. In der Verknüpfung von Indizien vollzieht sich eine Bedeutungsproduktion, die dann von den dominanten Signifikantenregimen (des Staates, der Polizei, des Gesetzes) vereinnahmt wird. Der Fall wird als gelöst erklärt, der oder die Schuldige verhaftet, verurteilt, bestraft.
Doch die Signifikantenregime werden von Fluchtlinien durchzogen: Nicht nur die Täter_in kann entkommen, auch die Detektiv_in kennt sie. Marlowe weiß sie ganz sicher zu finden. Er entzieht sich der Beendigung des Falls durch die Polizei. Meist selbst halb in eine illegale Handlung verwickelt, muss er noch eine ‚persönliche Schuld‘ begleichen oder ‚etwas in Ordnung bringen‘. Chandler war der Meister darin, auf dieser Fluchtlinie die ‚eigentliche‘ Geschichte zu eröffnen: Die Ermittlungen zu Rachels Mord an Rusty Regan in The Big Sleep werden überhaupt erst durch den eigentlichen Fall – Sternwoods Erpressung durch Geiger – in Bewegung gesetzt. Und auch die Überführung von Cumberland in Playback beginnt erst Fahrt aufzunehmen, als Marlowe erneut und eigenständig nach Esmeralda zurückkehrt. Eine Ermittlung, die erst nach seinem eigentlichen Auftrag stattfindet, von diesem aber nicht unabhängig ist. Hier eröffnet ein Fall den nächsten und ein Aussagegefüge verknüpft sich mit weiteren.3
Dies ist das Lösen eines Falls bzw. die Produktion von Bedeutung in der Bewegung. Bei ihrer Arbeit bewegt sich die Detektiv_in nicht auf vorgegebenen Wegen (immer wieder flieht sie), und so deckt sie auch keine bereits existente, lediglich verborgene Bedeutung auf. Auf der anderen Seite ist die Bedeutung aber auch nicht einfach aus ihren Bewegungen ablesbar, sie transzendiert nicht die Ermittlungsarbeiten.4 Bewegungen und Zeichen verknüpfen sich im Prozess der Ermittlungen, sie sind beide Teil der Detektivmaschine, ohne dass eins dem anderen vorgängig wäre.
Die Detektivmaschinen von Marlowe und Sherlock Holmes operieren choreografisch: Dabei ist nicht nur ihre Arbeit selbst choreografisch, sie eröffnen zugleich eine Sichtweise auf die Choreografie, die diese als eine den Bewegungen immanente Kraft versteht. Im Tanz bezeichnet die Choreografie die Aufzeichnung, aber auch die Komposition von Bewegungen. So wurden Bewegungen oftmals mittels Linien, Piktogrammen oder eigens erfundenen Schriftsystemen für erneute Aufführungen oder zur Archivierung notiert. Auch wenn sich keines der choreografischen Zeichensysteme durchsetzen konnte, so verbleiben die meisten in einer klaren Aufteilung von Schrift und Bewegung. Doch mit jeder Anwendung, jedem choreografischen Verfahren bricht diese Dichotomie auf und die Choreografie dringt in die Bewegung ein. Als eine Technik moduliert die Choreografie die Bewegung – mal von außen, mal von innen. Ihre Zeichen sind dabei vielfältig und nur wenige davon operieren in der Logik des Textes.
Choreografie ist in diesem Sinne keine Struktur, kein Regelwerk oder Syntax eines vorgegebenen Zeichenregimes; sie findet nicht vor oder nach der Bewegung statt, sie operiert vielmehr im Ereignis der Bewegung selbst.5 Zeichen führen zu Bewegungen, Bewegungen verknüpfen Zeichen, sie werden selbst zu Zeichen und produzieren und verändern wiederum andere Bewegungen und Zeichen. Die Detektiv_in ist dabei Teil einer Choreografie bzw. eines Gefüges von Zeichen und Bewegung. Dieses „Äußerungsgefüge spricht nicht ‚von‘ Dingen [und Bewegungen, G.E.], sondern es spricht auf derselben Ebene wie die Zustände der Dinge oder die Zustände des Inhalts.“ (Deleuze/Guattari 1992: 122) Als etwas, das der Bewegung nicht von außen hinzugefügt wird, ist Choreografie dennoch ereignishaft und autonom, d.h. sie geht nicht von einer Choreograf_in aus und sie wird auch nicht von einer Tänzer_in oder einer Detektiv_in ausgeführt.
In einer Choreografie, die den Bewegungen immanent ist, befinden sich Bewegungen und Zeichen nicht auf unterschiedlichen Ebenen, vielmehr entstehen die Zeichen in den Bewegungen der Choreografie selbst. Choreografie ist – so besagt es ja schon das Wort selbst – Schreiben, jedoch ein „Schreiben ohne Text“ (Hespers 1994). Diese im ersten Augenblick paradox erscheinende Formulierung „Schreiben ohne Text“ drückt jedoch jene von Deleuze und Guattari alleine und in ihren gemeinsamen Schriften formulierte Absage an das Konzept einer grundlegenden Syntax bei gleichzeitiger Beibehaltung des Konzepts des Zeichens aus: Zeichen umfassen mehr als bloß sprachliche Operationen, in ihnen wirken eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren: physikalische, politische, historische, biologische oder psychische. Sie alle verknüpfen sich zu je spezifischen Aussagegefügen. Ohne von einem bestehenden Zeichenregime auszugehen, findet die Zeichenproduktion damit im Akt der Choreografie, in der Bewegung selbst statt.
Zentral für das Entstehen eines Aussagegefüges ist dabei eine radikale Kontingenz, die sich nicht einfach in der Unbestimmtheit zwischen Zeichen und Bezeichnetem erschöpft. Sie bezeichnet vielmehr eine Offenheit, in der die Aufteilung von Ausdruck und Inhalt selbst noch nicht bestimmt ist. Jedes Verhältnis von Elementen bzw. Bewegungen innerhalb eines Gefüges kann dann sowohl Ausdruck als auch Inhalt sein.
Beide Formen [Inhaltsform und Ausdrucksform, G.E.] setzen sich wechselseitig voraus, und man kann von einer Form nur relativ abstrahieren, da beide nur zwei Gesichter desselben Gefüges sind. Man muß daher im Gefüge selber an etwas herankommen, das grundlegender ist als diese beiden Seiten und gleichzeitig die beiden sich bedingenden Formen berücksichtigt, nämlich die Ausdrucksformen oder Zeichenregime (semiotische Systeme) und die Inhaltsformen oder Körperregime (physische Systeme). Eben das bezeichnen wir als abstrakte Maschine, als abstrakte Maschine, die alle Deterritorialisierungskanten des Gefüges konstituiert und verbindet. (Deleuze/Guattari 1992: 194)
Indem Choreografie innerhalb der Aussagegefüge operiert und somit jener Aufteilung in Ausdruck und Inhalt vorgängig ist, wird sie selbst zu einem Prozess der Differenzierung und des Verbindens. In ihr entstehen Inhaltsformen und Ausdrucksformen. Jede Bewegung, jeder Körper kann Inhalt und Ausdruck werden, meist beides zugleich. Die Frage an die Choreografie lautet dann nicht mehr: ‚Was bedeutet diese Bewegung, diese Geste, diese Pose?‘ Sondern sie lautet: ‚Wie ist das Verhältnis von Inhalts- und Ausdrucksebene organisiert?‘ oder ‚Welche Beziehungen, welche Verweise sind hier wirksam?‘
Wie die vielfältigen amerikanischen Detektivfilme mit ihren herumfahrenden Private Eyes, ihren Spurensuchen und Verfolgungen wird auch Alain Robbe-Grillets TRANS-EUROP-EXPRESS (B/F 1966) durch eine Detektivmaschine voller Bewegungen angetrieben. Obwohl der Film durch die Verknüpfungen von Indizien und Bewegungen, durch die Produktion von Zeichen und Aussagen, eben durch die choreografischen Operationen der Detektivmaschine bestimmt ist, hat er sich von der Figur der Detektiv_in, vom Tatort und der rückwärtsgewandten Ermittlungsarbeit gelöst (dies alles taucht im Film gar nicht auf). Hier hat das Verbrechen noch nicht stattgefunden, sondern verweilt noch in der Zukunft. Und so sucht auch nicht die Detektiv_in rückblickend nach Spuren, vielmehr sucht der Verbrecher selbst – in diesem Fall der Kleinkriminelle Elias – nach Indizien, die ihn zum Verbrechen bringen. Er reist nach Antwerpen, um dort für ein Drogenkartell zu schmuggeln, doch ist sein potenzieller Auftraggeber gar nicht so leicht aufzufinden. Ein detektivisches Spiel beginnt, in dem Elias das Verbrecherkartell sucht, dieses Elias sucht bzw. testet und auch die Polizei – so erfahren wir im Verlauf des Films – ist immer schon in diesem komplexen Gefüge aktiv.
Der Film verschiebt nicht einfach die Tätigkeit der Ermittlungen von der Figur der Detektiv_in zur Verbrecher_in, hier wuchert die Detektivmaschine durch sämtliche Szenen und Handlungen des Films. Denn selbst das Verbrechen, so zeigt sich bereits in der Eingangssequenz, ist in TRANS-EUROP-EXPRESS ein choreografisches, es ist ein Verbrechen in Bewegungen, sogar durch Bewegung: ein Drogenschmuggel von Antwerpen nach Paris.
In der Bahnhofshalle ereignet sich ein immer undurchschaubarer werdendes Spiel aus Blicken, Gesten, Zeichen und Handlungen: Koffer und Codewörter wechseln ihre Besitzer und bewegen sich so durch das Gefüge aus wartenden, eilenden, ankommenden und abfahrenden Personen. Wer von ihnen spielt mit wem? Wer ist eingeweiht, wer ahnungslos? Diese aus der Überblicksperspektive gefilmte Choreografie eröffnet auf verschiedenen Ebenen – Erzählung, Produktion, Rezeption, Bildlichkeit und Zeitlichkeit – die Ereignisse des Films.
Im davonfahrenden Zug sehen wir Robbe-Grille selbst, wie er gemeinsam mit seinem Produzenten und Skriptgirl in den Trans-Europ-Express nach Antwerpen steigt und dort – selbst die Bewegungen des Films vollziehend – den Film im Akt seiner Aufführung entwirft und entwickelt. Immer wieder werden Szenen verworfen, neue hinzugefügt, alte gelöscht. Dies ist nicht mehr ein Plot, der durch eine Detektiv_in aufgedeckt wird, hier wird die Entwicklung der Geschichte selbst Teil der filmisch-detektivischen Arbeit. Autor wie Zuschauer_innen werden zu Ko-Ermittler_innen erklärt. Auch wenn das Ko-Ermitteln der Zuschauer_innen eine gängige Technik des Detektivfilms ist, so wird diese hier in einer besonderen Radikalität eingesetzt. Ist klassischerweise die Zuschauer_in der Handlung einen Schritt voraus oder hinterher, weist die Geschichte in TRANS-EUROP-EXPRESS solche Lücken auf, dass die Zuschauer_in selbst Verknüpfungen ziehen muss, die sich auch im Verlauf des Films nicht verifizieren oder falsifizieren lassen.
Zu dieser filmisch-selbstreflexiven Erzählweisen kommt – ermittlungserschwerend, so könnte man sagen – eine exzessive Proliferation a-signifikanter Indizien hinzu. Serien von Blicken, unnatürlichen Bewegungen, alle ein wenig zu lang und zu intensiv, verwirren Elias ebenso wie die Betrachter_in.
Im Gegensatz zu vielen Detektivfilmen sind die Indizien hier nicht mehr als solche erkennbar – Zeichen wie der Revolver, das Seil zum Fesseln, die Polizisten oder der Koffer bilden bloß noch leere Stereotype und es sind die Bewegungen selbst, die hier zeichenhaft werden. Genauer gesagt sind es die Dynamiken und Rhythmen, das langsame Kopfdrehen, das etwas zu lange Verweilen der Blicke, die hier die Zeichen der Choreografie bilden.
Doch diese Indizien sind nicht einfach nur a-signifikant und bedeutungslos, sie sind zugleich produktiv. Dabei wirken sie, ohne dass ihre Bedeutung kognitiv entschlüsselt werden muss. (Es rückt als die Frage ‚Was macht das Zeichen?‘ ins Zentrum und verdrängt abermals die dominante Fragestellung eines ‚Was bedeutet das?‘) Zeichen – signifikante wie a-signifikante – wirken: Sie produzieren Bewegungen, sie modulieren Bewegungen, lenken diese um und ab. Und gerade in diesen Wirkungen, ihrer Energie und Pragmatik sind die Zeichen bestimmbar (Guattari 2011: 54). Hier wird nicht repräsentiert, sondern interveniert. Der Ausdruck dringt in den Inhalt ein, verändert, verlangsamt, beschleunigt, löst und vereinigt (Deleuze/Guattari 1992: 122). In ihrer Unabhängigkeit verändern Ausdruck und Inhalt die Bewegungs-Gefüge, sie springen von einer Ebene zur anderen und kreieren so neue Zeichen, neue Geschwindigkeiten und neue Rhythmen. Hier handelt nicht das eine Zeichen als Einheit von Inhalt und Ausdruck, Signifikant und Signifikat, hier wirken die spannungsvollen Differenzen zwischen Inhalt und Ausdruck, sie erzeugen energetische Spannungen und produzieren damit Bewegungen.
A-signifikante Zeichen treiben auch Elias durch Antwerpen und die Handlung voran, sie lassen ihn durch die Stadt irren – vom Hotel zum Hafen, zum Café und zur Kirche und neue, befremdliche, a-signifikante Erfahrungen machen. Blicke, ein gerichtetes Aussichtsfernrohr, ein Graffiti, das Zögern eines Blinden und das Verharren des Kellners, sie alle sind potenzielle Zeichen – oder sind es doch nur Zufälle? Erst langsam bilden sich Gefüge heraus, differenzieren sich Aussageformen von Inhaltsformen und lassen so eine Choreografie entstehen, die Elias dann schlussendlich zu seinen Auftraggebern, zum Verbrechen, zu einem Mord und letztendlich zu seiner Verhaftung und zu seinem Tod führen. Doch all dies geschieht in einer Reihe von Irrungen, immer wieder werden Handlungsketten durchbrochen, Szenen werden nachträglich wieder gelöscht, Zeichen bleiben und werden a-signifikant und kein Signifikantenregime kann sich der Bewegungen des Films gänzlich bemächtigen.
In diesem Spiel der Irrungen – und hier überlappen sich beide Bedeutungen des Wortes – sind Inhalt und Ausdruck keineswegs gegeben und bereits aufgeteilt. Ist die Prostituierte ein Zeichen von Elias Auftraggeber, der Polizei oder beides? Oder ist sie – wie Robbe-Grillet noch in der Mitte des Films anmerkt – bloßer Zeitvertreib und völlig unbedeutend? Immerhin wird sie ihn später verraten und er sie ermorden. Sie ist Inhalt seiner Fesselungs- und Vergewaltigungsfantasien. Robbe-Grillet lässt die sadistische und sado-masochistische Lust proliferieren und durch die Szenen von Unterwerfung und Beherrschung, Prüfen und Überwachen sowie durch die Spiele der Verbrecherkartelle und der Polizei wandern.6 In der detektivischen Choreografie verkoppeln sich Detektivarbeit und Begehren, Ermitteln und Lust, Aufklärung und Sado-Masochismus miteinander und produzieren immer neue Konstellationen von Inhalt und Ausdruck, die zur sado-masochistischen Strip-Show am Ende des Films führen, bei der sich Elias' Lust mit den Kartellen der Verbrecher und Polizei durchkreuzt und zu seinem Tode führt.
Indem die Bewegungen selbst zeichenhaft werden, bilden die Dynamiken und Rhythmen Formen des Ausdrucks. Das Begehren intensiviert die Bewegungen und macht diese expressiv. Dies ist die große spannungshafte Dynamik des Films, der immer zwischen der proliferierenden Lust und dem Wahn der Paranoia – ‚alles hat Bedeutung, alles verfolgt mich‘ – changiert. Begehren wird ausgedrückt und in der Intensität der Bewegung choreografiert, wie die Indizien bildet es eine Bewegung aus der Mitte heraus. Dies ist eine immanente Choreografie der Zeichen, bei der kein Plot und kein Ziel vorgegeben ist. Hier wird am Ende keine Bedeutung synthetisiert und doch ist der Film voller Zeichen. Nur wenige davon sind lesbar, sie sind der a-siginifikante Motor der Choreografie, sie haben eine choreografische Kraft, die die Bewegungen des Films, seinen Ausdruck und Inhalt erzeugen.
Deleuze, Gilles (1997) Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992) Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin: Merve.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2000) Was ist Philosophie? Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles (2003) Philosophie der ‚Série noire‘, in: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Doyle, Arthur Conan (2007) Eine Studie in Scharlachrot. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel.
Guattari, Félix (2011) The Machinic Unconscious. Essays in Schizoanalysis. Los Angeles: Semiotext(e).
Hespers, Stefan (1994) Schreiben ohne Text. Die prozessuale Ästhetik von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Seeßlen, Georg (2011): Filmwissen: Detektive. Grundlagen des populären Films. Marburg: Schüren.