Vom Tanz zum Film und zurück
Cliché is, in a sense, the purest art of intelligibility;
it tempts us with the possibility of enclosing life within beautifully inalterable formulas of obscuring the arbitrary nature of imagination with an appearance of necessity.1
How to use the performer as a medium rather than persona?
Is a ballet mechanique the only solution?
(Rainer 1974a: 106)
Zu Beginn der 1970er Jahre durchlebt Yvonne Rainer eine Krise: Nach längerer Krankheit begibt sie sich auf eine Indienreise, wo sie sich mit Formen des Tanzes konfrontiert sieht, die ganz anders als ihre bisherige Ablehnung von Ausdruck und Narrativ ebensolche Formen im Tanz einsetzen und doch einen ganz bestimmten Formenkanon und einen bestimmten Grad an Abstraktion erreichen. In ebenjenen Jahren wird sie mit frühen feministischen Theorien vertraut, über Annette Michelson lernt sie die Filmemacherin und -theoretikerin Babette Mangolte kennen, die später eng mit Trisha Brown zusammenarbeiten wird, und sie verspürt zunehmend ein Ungenügen der minimalistischen Ansätze, mit denen sie und auch ihre Freunde im Umfeld der Judson Church bislang gearbeitet hatten.
Bereits 1966 hatte sie mit The Mind is a Muscle einen Titel für eine Präsentation ihrer Arbeiten in der Judson Church gewählt, der recht eindeutig eine binäre Opposition zwischen konzeptuellem und tanzpraktischem Anteil verneinte. Und nicht umsonst trägt ihre Autobiografie, die erst 2006 erscheint, aber auf den damaligen Tagebuchaufzeichnungen beruht, den Titel Feelings are Facts (Rainer 2006). Das Unheimliche und Verdrängte hinter der minimalistisch-rationalen Konzept-Kunst wurde bereits früh von ihr, wenn auch noch als Randnotiz, formuliert.
Zumeist wurde Rainers Wechsel vom Tanz zum Film als Bruch bezeichnet. Doch wie müsste man argumentieren, um vielmehr die Kontinuität dieser Diskontinuität zu betonen? Nötig wäre vielleicht nur eine kleine Akzentverschiebung innerhalb jenes Themenfeldes, zu dem in den vergangenen Jahren bereits viel publiziert wurde (Walley 2001 oder Holschbach 2016). Ich möchte hier den Versuch unternehmen, eine solche Umjustierung zu leisten und ein genaueres Bild dieses Übergangs von der Tanzseite aus zu zeichnen.
Ausgehend von der These, die Jenny Nachtigall und Dorothea Walzer in ihrem Aufsatz „The Rehearsal as Form“ (Nachtigall/Walzer 2016) entwickeln – wonach Yvonne Rainer mit ihrem Film LIVES OF PERFORMERS (USA 1972) den stets so beschriebenen Bruch nie vollzogen, d.h. den Tanz letztlich nie verlassen hätte, sondern er vielmehr in ihren Filmen eine logische Fortsetzung finde –, möchte ich im Folgenden untersuchen, welche Formen und Verfahren hierfür maßgeblich sind. Ebenso möchte ich genauer hinterfragen, inwiefern Rainer mit ihrem Film über eine Probe eine Form des Ausprobierens und Experimentierens wählt, um weiterhin Fragen nach Bewegung und Beweggründen nachzugehen. LIVES OF PERFORMERS muss insofern als Versuchsanordnung verstanden werden, die eng mit den choreografischen Arbeiten der vorangegangenen Jahre korrespondiert. Eine Versuchsanordnung, die den Rahmen der Probe nutzt, um grundsätzliche Fragen an die einzelnen Künste, an Tanz und Film, sowie ihre jeweiligen Medien und Verfahren zu stellen. Nachtigall und Walzer ziehen in ihrer Argumentation Adornos Aufsatz zum „Essay als Form“ heran, um auch die Probe als eine solche offene Form zu beschreiben. Zwischen einer Art „künstlerischer Forschung“ und einer nicht-hierarchischen Form des Lernens und der Vermittlung verschiedener Wissensformen, in der es nicht um hierarchisches, kollektives Lernen und Lehren geht, sondern innerhalb derer Formen von demokratischem und gegenseitigem Miteinander eingeübt werden, wie sie für die Entgrenzung der Künste in den 1960ern maßgeblich waren.
Für LIVES OF PERFORMERS wählt Rainer als narrativen Rahmen die Situation der Theaterprobe, und lädt dazu ihre Kolleg*innen der Grand Union ein. Zunächst hören wir nur das Kratzen einer alten Tonbandaufnahme, es handelt sich um Probenzusammenschnitte zu Walk, She Said (1972), dann setzen Stimmen ein, man lauscht Bühnenanweisungen, die jedoch nicht mit den Bildern synchronisiert sind. Diese Dissonanz prägt im Folgenden die synkopierte Struktur des Films: Zerteilt und neu zusammengesetzt entsprechen sie Kompositionsprinzipien, wie sie Yvonne Rainer auch in den ersten Jahren ihrer choreografischen Arbeit immer wieder attestiert wurden – den „radical juxtapositions“ (Carroll) von ganz unterschiedlichem Material.
Doch wie ist die kompositorische Struktur beschaffen? Aufgrund welcher Regeln werden die einzelnen Bilder und Bezüge eingesetzt und kombiniert, wie werden die Relationen zwischen ihnen etabliert? Hier ließe sich zunächst auf die Minimal Art verweisen. Die Übertragung aus den bildenden Künsten – Rainer war damals die Partnerin von Robert Morris – wurde für Rainer zu einer Quelle der Auseinandersetzung mit den choreografischen Prinzipien. Ihre Überlegungen zur Neu-Strukturierung des Tanzes Mitte der 1960er Jahre, wie sie mit den beiden Aufsätzen „A Quasi Survey of Some ‚Minimalist’ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A“ (Rainer 1974b), in dem sie die minimalistische Kunst mit dem Tanz vergleicht, sowie „Some retrospective notes on a dance for 10 people and 12 mattresses called Parts of Some Sextets“ (Rainer 1965) vorliegen, zeigen zum einen ihre Ablehnung von Autorschaft deutlich. In beiden Texten wendet sie sich aber auch gegen die Expressivität des Modern Dance und zielt stattdessen auf eine eher objektartige Bewegung oder eine spezifische Neutralität. Bewegung solle nicht mimetisch verfahren, nicht Gefühle ausdrücken und nicht einem Narrativ folgen. Auf den Punkt gebracht wird dies in ihrem berühmten NO-Manifesto:
NO to spectacle no to virtuosity no to transformations and magic and make-believe no to the glamour and transcendence of the star image no to the heroic no to the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the whiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved
(Rainer 1965: 51).
Mit diesen Forderungen und ihrer Weigerung „to give the artwork an illusionistic centre or interior“ (Krauss, Rosalind, zit. nach: Ramsay, 2006: 84) scheint Rainer zunächst einem eher rational-konzeptuellen Ansatz zuzurechnen. Doch lassen sich in den Texten immer wieder Formulierungen finden, die von einer solch eindimensionalen Verortung stark abweichen. So spricht sie zum Beispiel über die Bedeutung des Körpers im Tanz – „my body remains the enduring reality“ (Ramsay, Burt 2006: 69, 6. Fußnote) – und reflektiert das Ausgestellt-Sein der Tänzerinnen, das sie durch ihr „No to spectacle“ – durch Neutralität und spezifische choreografische Strategien – zu relativieren sucht. Indem sie das „being watched“ zum Problem macht – „Dance is hard to see“, schreibt sie 1966 (zit. nach Lambert-Beatty 2008: 1) – werden jenseits der Vergleiche zum Minimalismus auch politische Aspekte in ihrem Denken über die Medialität des Tanzes deutlich, eine Tendenz, die sich zum Ende der 1960er auch durch die Reflektion der politischen Ereignisse verstärkt.2
Der Film LIVES OF PERFORMERS entfaltet sich vor diesem Hintergrund im nicht gerade cleanen Genre des Melodrams – zwischen klassischem Drama und alltäglicher Privatheit, im Auf und Ab der Gefühle und Empfindungen, der emotionalen Verflechtungen der Performer*innen während einer Probe. Die Beziehung zwischen Realität und Fiktionalisierung, innerhalb derer das Klischee einer heterosexuellen Dreiecksbeziehung in allen Varianten durchgespielt wird, erfährt durch den non-linearen Erzählstrang, durch verschiedene Inserts, Kommentarfunktionen, stetige Verschiebungen – es wird eine Art Metaebene eingeführt, die die Betrachter*innen stets auf mehreren Ebenen zugleich anspricht und involviert. Ein Programm, wie es etwa in Rainers Rezension zu Warhols CHELSEA GIRLS3 formuliert ist, die 1967 im Arts Magazine erschien und worin sie vor allem das Verfahren des Split Screens und die Akzentuierung des Alltäglichen hervorhebt.
In LIVES OF PERFORMERS findet eine solch zweigleisig kommentierende Ebene ihre Entsprechung zum Beispiel auch auf der Sound-Ebene durch die technisch erzeugte Manipulation der Stimmen oder durch die verschiedenen Inserts. Das Melodrama, das als spezifisches Genre der Massenkunst, dem Kitsch nahe, sich stets an einer imaginären Grenze bewegt, wird bei Rainer keinesfalls ungefiltert genutzt, sondern gerade als Reflexion über das Genre als eine spezifische Form ausgestellt.
Man könnte konträr zu Rainers „No to camp“ hier auch an Susan Sontags „Notes on Camp“ von 1964 denken (Sontag 1966 [1964]). Die Betonung einer ‚unreinen‘ Form, jenseits der Dichotomien von Form und Inhalt, Kunst und Politik, schuf somit auch einen Modus, der alternative – feministische, queere, identitätspolitische Themen – zuließ.
In der folgenden Szene werden wir mit anderen kompositorischen Mitteln konfrontiert: Die Kamera fährt langsam über Fotografien, Aufzeichnungen, Probennotate, Korrespondenzen – das aufgeblätterte, quasi-dokumentarische Material gibt erneut einen Einblick in den Entstehungsprozess. Geht es hier tatsächlich um eine Dokumentation des bereits Vergangenen, etwa eine Art Rückblick auf das bisherige Tanzschaffen? Rainer vermeidet für gewöhnlich jene Formen der prätentiösen Selbstbeschau, und so lässt sich vielmehr darüber spekulieren, welche Funktion diese Inserts hier einnehmen: Was machen die Fotografien als ‚statische‘ Bilder im Film? Welche Wirkung entfalten sie – zum einen auf einer dramaturgischen Ebene, zum anderen auf einer formal kompositorischen, die von ersterer selbstverständlich nicht zu trennen ist. Mit dem Verweis/der Einblendung auf einen anderen Moment außerhalb des Filmgeschehens, durch den die Handlung unterbrochen wird, wird das Verfahren selbst als eines ausgestellt, das vor allem zeitlich operiert und Erinnerungsspuren neu konstelliert. 1968 nutzt Rainer für Performance Demonstration die Projektionen von Fotografien von Peter Moore für die Aufführung selbst. Der Abschnitt Stairs, einer Choreografie aus The Mind is a Muscle, war keine Live-Performance, sondern wählte Modi des Editing. Moore hatte die Fotografien als Serie während der Probe geschossen mit dem spezifischen, von Rainer auferlegten Task, nur alle paar Sekunden ein Bild zu machen. Die Intervalle, die sich so ergaben, zeigen eine eigentümliche Verschiebung der Bewegungsabfolge, sie erinnern an Eadweard Muybridges Bewegungsstudien einer Frau, die eine kleine Treppe hinauf- und hinuntersteigt, jedoch fehlt hier der kontinuierliche Übergang (Lambert-Beatty 2008: 120ff.). Das ‚ausgeschnittene‘ Material wird hier zu einem Verweis auf die Modi der Bewegung selbst, die sich ihrem ephemeren Charakter nach der Wahrnehmung immer wieder entzieht (Rainer: „hard to see“, a.a.O.).
Schließlich ein drittes Moment – der Wechsel zur Groß-/Nahaufnahme des Gesichts von Louise Brooks aus Georg Wilhelm Pabsts ikonischem Stummfilm DIE BÜCHSE DER PANDORA (D 1929). Der Effekt des Stills, den das Bild – das Affektbild, wie es Deleuze in seinem Kinobuch nennt – auslöst und der die expressionistische Ausdrucksemphase ebenso wie die veristische Darstellung als Elemente des Weimarer Kinos auszeichnet, fokussiert den Affekt in seinem Bezug auf die Wahrnehmung; das Affektbild geht aus deren Zerfall hervor. „... der Affekt ist das ‚Neue’, und neue Affekte werden unaufhörlich hervorgebracht, vor allem durch Kunstwerke. [...] Der Affekt ist das, was das Intervall (zwischen Wahrnehmung und Aktion) in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen.“4
Wenn sich also Rainer mit LIVES OF PERFORMERS einem Format zuwendet, das die Beziehungen zwischen den Performer*innen auf die Bühne bringt, so ist die Großaufnahme folgerichtig das Mittel, eine Materialisierung zu finden für jene Affekte, die nicht einfach als reine Gefühle in eine*r Darsteller*in oder einer Person zu lokalisieren sind, sondern diese überschreiten.
Nicht erst seit Continous Project Altered Daily (1969) treibt Rainer die Frage um, wie sie bestimmte Verhaltensweisen der Performer*innen, die vor allem im Rahmen der Probe auftreten, innerhalb der Improvisation auf die Bühne bringen kann, d.h. auch wie sie mikroskopisch in jene Prozesse der Verhandlungen des Mit- und Gegeneinanders hineinzoomen kann und was sich schließlich aus diesem auf das Geschehen gerichteten Blick ergibt. Denn es ist weniger die Improvisation selbst als strukturierte oder ‚freie‘ Form, die Kolleg*innen wie Steve Paxton oder Barbara Dilley wenige Jahre darauf in ihren eigenen Arbeiten weiter ausbauen werden, als vielmehr ein spezifisches Interesse an einem zwischenmenschlichen Narrativ, das in spezifischer Weise korrektiv zu anderen kompositorischen Verfahren wirkt. Dass das Persönliche politisch wurde, war nicht nur ein Anliegen der gesellschaftspolitischen Umbrüche, sondern betraf hier ebenso die Künste.
Doch das Interesse an der offenen Form hatte sich bereits in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Minimalismus, also über einen längeren Zeitraum entwickelt: „How to use the performer as a medium rather than persona? Is a ballet mechanique the only solution?“ (Rainer 1974a: 106). Der Verweis auf Fernand Légers frühen dadaistischen Filmessay von 1924 spiegelt ihre Auseinandersetzung mit Darstellungskonventionen und deren Brechungen. Rainer sucht nach „objectlike movements“ und schafft das in Parts of Some Sextets zunächst, indem sie die Performer*innen tatsächlich im Umgang mit Alltagsobjekten, z.B. Seilen und Matratzen und einem zeitlich präzise durchgetakteten Score auf die Bühne stellt. Objekte als Mittel zur Bewältigung bestimmter durch Scores oder Tasks induzierter Probleme, deren Lösung Dauer spürbar macht, spiegeln sich bei Rainer auch im Umgang mit dem Körper selbst, der gegen den „narcissism of traditional dancing“ ausgerichtet war.
It seemed very appropriate for me at this time to use a whole other point of view about the body – that it could be handled like an object, picked up and carried and that other objects and bodies could be interchangeable. I’d explored this recently in the mattress dance, Parts of Some Sextets...5
Diese Herangehensweisen haben ihren Ausgangspunkt zum einen in der Arbeit mit Kompositionsprinzipien, wie sie den Judson-Leuten durch den Workshop mit Robert Dunn vermittelt wurden, der sie mit John Cages Arbeitsweisen vertraut machte: ‚Indeterminacy‘ – Unbestimmtheit wurde hier als das Verhältnis zwischen dem Score und dessen Interpretation verstanden, was die Interpret*innen zu Co-Autor*innen machte und damit auch bisher geltende Prinzipien von Autorschaft und Virtuosität in Frage stellte. Auch wenn die Judson Church wahrlich kein Ort des zu romantisierenden, kollektiven Miteinanders war, so wurden doch viele Entscheidungen zumindest im Probenprozess gemeinschaftlich erarbeitet (selbst wenn gerade Yvonne Rainer immer wieder auf ihrer Rolle als Kontroll-Instanz beharrte). Der Charakter dieser Versuchsanordnungen mit offener Form fokussierte hier jedoch zunächst auf die Aufgabe von Autorschaft.
Zum anderen aber sind die Einflüsse von Anna und Lawrence Halprin nicht zu vernachlässigen. 1961 trafen sich Simone Forti, Robert Morris, Robert Rauschenberg, La Monte Young, Trisha Brown und Yvonne Rainer u.a. in San Francisco zu einem Workshop, der in allen biografischen Erinnerungen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Anna Halprin hatte zu dieser Zeit bereits eine Karriere als internationale Performerin hinter sich; sie ließ die Teilnehmer*innen mit verschiedensten improvisatorischen Techniken arbeiten. Die Freiheit, die daraus erwuchs, lässt sich an den unterschiedlichen Umgangsweisen mit Improvisation, wie sie sich in den nachfolgenden Jahren innerhalb der Judson Church und zwischen den Künsten entfalteten, ablesen und hat das Interesse für jene offenen Prozesse des Unbestimmten, an Aushandlungen eines Miteinander, an einem „Rehearsing collectivity“ bestärkt.
Jedoch ist beiden Verfahren auch wesentlich, dass die durch Scores oder Tasks gesetzten Regeln vor allem auch das Verhalten der Performer*innen veränderte; die offene Form versetze sie bei aller Freiheit zugleich auch in eine extrem prekäre Situation, in der sie unmittelbar Entscheidungen treffen mussten, die das Subjekt wortwörtlich „auf die Probe stellten“ (vgl. dazu: Buchmann/Ruhm 2013).
Mit Continous Project Altered Daily weicht das Interesse an Objekten als Generatoren bestimmter Bewegungsqualitäten der Frage, was diese als Alltagsgegenstände, die von Affekten begleitet sind, in den Beziehungen zwischen den Tänzer*innen bewirken und welche Dimensionen des Affekts sich aus diesen Konstellationen ergeben: Bei den Kartons, Stühlen, Kissen, Papierbahnen, aber auch ein paar Flügeln, einem Löwenschwanz, einem ausgestopftes Objekt mit einem Bein sowie einem Sombrero, die als Requisiten zum Einsatz kamen, handelte es sich um Objekte, die dem Alltagskontext angehörten, aber auch überspannt oder phantastisch wirkten. Im Rahmen der Grand Union, einem Performance-Kollektiv, das von 1970–1972 Bestand hatte (vgl. dazu: Ramsay, Margaret Hupp 1991: 71ff), versuchten sie und ihre Mitstreiter*innen jenen Formen des Improvisatorischen in relativ häufig stattfindenden Improabenden Dauer zu verleihen. Diese Formate galten dabei als Schauplatz der Kontingenz, als eine Form, der das Vorläufige, Unfertige wesentlich ist. Wie schnell jedoch auch jene Experimente an ihre Grenzen stießen, belegt vielleicht das dem Film vorangestellte Motto von Leo Bersani:
Cliché is, in a sense, the purest art of intelligibility. It tempts us with the possibility of enclosing life within beautifully inalterable formulas of obscuring the arbitrary nature of imagination with an appearance of necessity.
Yvonne Rainer beispielsweise nutzt die Einbeziehung verschiedener filmischer Strukturen – von Standbildern, Wiederholungen, Loop-Strukturen und Split-Screen-Projektionen, von Momenten der Live-Aufführung und ihrer Aufzeichnung –, um das zu belegen, was sie mit dem Satz „Dance is hard to see“ umschreibt (Lambert-Beatty 2008). Film wird hier eher als eine Art Kommentarfunktion eingesetzt, der die Verschiebung narrativer Konventionen ermöglicht.
Bereits in den früheren Kurzfilmen HAND MOVIE von 1966, VOLLEYBALL aus dem darauffolgenden Jahr oder TRIO FILM (1968), die als „Material“ im Rahmen einzelner Choreografien entwickelt wurden, wird dies sichtbar. Während HAND MOVIE als Studie über Bewegung die Fragmentierung des Körpers im Zoom auf die Gleichwertigkeit bzw. die Eliminierung hierarchischer Verhältnisse zwischen den einzelnen Teilen eines Objekts bzw. des Körpers aufmerksam macht, zeigt VOLLEYBALL die Isolation als Bewegungsmodus, und durch die Bildrahmung im Film. Beide wurden als Inserts im Rahmen von The Mind is a Muscle 1968 erstmals gezeigt. Sie wurden auf eine auf der Bühne stehenden Leinwand projiziert, hinter der oft noch die Beine der voreilaufenden Performer*innen zu sehen waren.
Die Leinwand zeigt sich hier in ihrer Ambivalenz als ein Transparentes und als eine Öffnung sowie als eine Verdeckendes, ein materielles Objekt. Die Inszenierung zielt auf die Befragung der Verhältnisse einzelner, verschieden konstituierter Elemente zueinander: die Beziehung der Glieder zum Ganzen des Körpers, die Größenproportionen der Körperpartien der Performenden zu denen des filmischen Körpers, das Verhältnis von Präsenz und Absenz bzw. medial erzeugter Präsenz, die Verschiebungen von Raum und Zeit.6
TRIO FILM wiederum zeigt Becky Arnold und Steve Paxton, beide nackt auf einem Sofa sitzend – zwischen ihnen ein großer weißer Ball. Es entspinnt sich eine Choreografie, in der Nacktheit nicht wie in früheren Stücken, wie etwa in Word Words (1963 mit Yvonne Rainer und Steve Paxton) einfach als neutrales Faktum unter Vermeidung jeglicher Sexualität ausgestellt wurde, sondern plötzlich eine Beziehung zwischen den beiden im Umgang mit dem übergroßen weißen Objekt entsteht. Humorvoll setzt Rainer diese ‚Beziehungskiste‘ über die verschiedenen Modi von Cadre und Cache in Szene.
Dass die frühen Entwicklungen der Video-Kunst sowie des Expanded Cinema direkt einhergehen mit den grundlegenden Veränderungen im Tanz, mag insofern – auch wenn man in den 1960ern selbst noch wenig Beispiele findet, die beide Künste verbinden – nicht erstaunen. Der Begriff „intermedia“, den Dick Higgins im Rahmen von Fluxus 1966 prägt, der die Künste in diesen Jahren neu konstelliert und innerhalb dessen neue Genres wie Happening, Environment, Installation Art, Site Specific Art oder Performance überhaupt erst entstehen, beschreibt auch die Verfahren, die sich in den Übertragungen zwischen den Künsten verändern, ausdifferenzieren und weiterentwickeln.
Eine Art und Weise, wie das medienspezifische Wissen der Einzelkünste in der Übertragung neue Formen ausbilden konnte, die sich nicht als einzelne manifestierten, sondern in stetiger Weiterentwicklung gegenseitig überformen, äußert sich eben in jenen Verfahren, die Rainer nutzt: die spezifischen Mittel der Illusion im Film, die Reflexion über die Form des Melodrams, die Einbettung in ein Narrativ, das zwar einen Rahmen bildet, das aber immer wieder auch unterlaufen wird durch andere kompositorische Mittel. Hinzu kommen die choreografische Bewegung der Kamera, die Veränderung des Materials durch Postproduktion – durch Schnitt, Montage usw. – das Verhältnis von Aufführung und Aufzeichnung sowie das Verständnis von Choreografie und Kinematografie als Schrift, die wiederum die Rede vom Körper und dessen scheinbarer Präsenz unterlaufen.
Die Korrespondenzen zu LIVES OF PERFORMERS liegen damit bereits auf der Hand. Ebenjene Kommentarfunktion wird auch in den hierfür beschreiben Verfahren deutlich; als „radical juxtapositions“ fügen sie dem Blick auf das Bühnengeschehen eine andere Ebene hinzu, der Blick auf das zu Sehende wird überformt. Als Melodram oder vielmehr Reflexion über das Melodram und die Art und Weise der Re-Präsentation von Gefühlen inszeniert, spielen hier vor allem Fotografie, Pose und Tableau Vivant eine wesentliche Rolle. Die an Brechts Theater der Verfremdung und des Zeigens erinnernde Spaltung zwischen Kunstfigur und Tänzerkörper spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Die ausgefeilte Arbeit mit Zeitstrukturen, Montage, Tableaux Vivants oder Formen der Asynchronität gelten, wie die Probe, als Artikulationsformen der Fragmentierung, der Unterbrechung, des Prozesshaften, des Offenen. Dialog, Erzählung, vorgelesene Texte und integrierte Tonbänder eröffnen mehrfache Layer der Ansprache und des Kommentars. Eine weitere Ebene wird durch die Verwendung von fotografischem Material und Dokumenten hinzugefügt. Welcher Art diese Verwendung der Fotografien im Film ist – etwa als Mise-en-abyme-Struktur – wird erst rückblickend verständlich: so zum Beispiel die herausgehobene Pose von Valda Setterfield, die, zurückgebeugt im langen Kleid, als Figur aus dem gesamten Setting des Films heraussticht, ein Affektbild, das an die Fotografien der Hysterikerinnen aus Charcots Salpêtrière oder aber an die damals durch sie inspirierten Tänzerinnen und Schauspielerinnen erinnert. Ähnlich fungiert die im letzten Teil des Films plötzlich eingeblendete Großaufnahme des Gesichts von Louise Brooks aus Georg Wilhelm Pabsts DIE BÜCHSE DER PANDORA. Ebenso wie die an anderen Stellen des Films eingesetzten Tableaux vivants verweist die Pose hier zugleich auch auf ein eingeübtes und abrufbares Repertoire und eröffnet so den Bezug auf die Idee der Pathosformel, die als Script oder Archiv dem Re-enactment nahe steht. So wird die Ebene des Gefühls erneut auf eine abstrakte analytische Ebene transferiert.7
Die Interaktion zwischen den Darsteller*innen und den Bildern von ihnen, wie sie Branden W. Joseph als charakteristisch für das Expanded Cinema beschreibt, öffnen ein augenscheinlich geschlossenes und kodifiziertes Medium für die Unvorhersehbarkeit und Unbestimmtheit der Live-Performance (Kotz 2012: 364). Insofern können wir hier durchaus ein massenkulturelles Medium im Modus der Inversion beobachten.
Doch ist zu beachten, dass die Probe hier nicht wie bei Rosalind Krauss als Medium der Erinnerung und der Transformation alter Medien zu verstehen ist, sondern vor allem als eines der Kontingenz (Adorno). Daher hat man es bei Rainers Film mit jener Art „künstlerischer Forschung“ bzw. einer nicht-hierarchischen Form des Lernens zu tun, innerhalb derer Formen von gegenseitigem Miteinander eingeübt werden.
Die Choreografin Andrea Božić trifft in ihrem Stück After Trio A (2010) genau jenen wunden Punkt von Rainers Auseinandersetzung – die Verbindung zwischen dem minimalistisch, konzeptuellen Impetus des ikonischen Stücks – das es auch erst vornehmlich durch das Video von Sally Banes (1978!) geworden ist – und Rainers gleichzeitigem Faible für Vaudeville, für nicht akzeptierte Darstellungsweisen, die das umreißen, was Susan Sontag in ihrem Aufsatz von 1963 als Camp bezeichnete. Bereits in The Mind is a Muscle (1968) ist neben den choreografierten Passagen ein Jongleur zu sehen, der dem Empfinden eines Ungenügens an den streng entwickelten Verfahren Ausdruck verleiht. Dies spiegelt nicht nur bestimmte Entwicklungen zwischen den vorherrschenden künstlerischen Strömungen dieser Zeit, die durch Minimalismus und konzeptuelle Ansätze und deren vorwiegend männliche Protagonisten geprägt war, sondern zeigt auch, dass bestimmte künstlerische Biografien oder Biografieanteile, die sich, wie etwa bei Fred Herko oder David Gordon, weil sie sich keinem üblichen Raster unterordnen ließen, aus der Rezeption herausfielen. Weil damals kaum über sie geschrieben wurde, sind sie auch heute noch weitgehend vergessen, obwohl ihre Arbeiten in einem aktuellen Kontext von Fragen zu queerer Performance und Camp Relevanz haben und damit den bestehenden Kanon infrage stellen.
Bear, Liza/Sharp, Willoughby (1972) The Performer as Persona. An Interview with Yvonne Rainer, in: Avalanche, Sommer, S. 50, zitiert in: Lambert-Beatty 2008.
Buchloh, Benjamin (1990) Conceptual Art 1962–1969. From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions, in: October, Nr. 55, Winter, S. 105–143.
Buchmann, Sabeth/Ruhm, Constanze (2013) Subjekt auf Probe, in: Texte zur Kunst, Nr. 90, Wie wir arbeiten wollen, Juni 2013, S. 71–209.
Deleuze, Gilles (1989) Das Bewegungsbild. Kino I. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Fried, Michael (1964) Art and Objecthood, in: Ders. Art and Objecthood. Essays and Reviews. Chicago: University of Chicago Press 1998.
Holschbach, Susanne (2017) Passagen zwischen Tanz, Fotografie und Film Yvonne Rainers Film ‚Lives of Performers‘ (1972), siehe: http://www.perfomap.de/map8/intermediale-prozesse/passagen-zwischen-tanz-fotografie-und-film/sh-passagen-zwischen-tanz-fotografie-und-film.pdf (letzter Zugriff: 14.02.2018).
Kotz, Liz (2007) Words to Be Looked At. Language in the 1960s Art. Cambridge: MIT Press.
Kotz, Liz (2012) Kino anders projizieren via Judson Dance, in: Frohne, Ursula/Haberer, Lilian (Hg.) Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst, Paderborn, S. 363–379.
Lambert-Beatty, Carrie (2008) Being Watched. Yvonne Rainer and the 1960s. Cambridge: MIT Press.
Lee, Pamela (2004) Chronophobia. On Time in the Arts of the 1960s. Cambridge: MIT Press.
Möller, Sarah (2017) Filmchoreographische Verfahren. Tanz und Film in New York 1960–80, Masterthesis Universität Potsdam, eingereicht am 27.12.2017.
Nachtigall, Jenny/Walzer, Dorothea (2016) The Rehearsal as Form. An Essay on Yvonne Rainer’s ‚Lives of Performers‘, in: Buchmann, Sabeth/Ruhm, Constanze/Lafer, Ilse/Akademie der Bildenden Künste Wien/Sternberg Press (Hg.) Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theatre, Theory, and Politics, S. 182–194.
Pantenburg, Volker (2012) Which Story? Yvonne Rainers filmische Erzählforschung, in: Yvonne Rainer – Space Body Language, Ausstellungskatalog Museum Ludwig Köln, Kunsthaus Bregenz, S. 219–231.
Rainer, Yvonne (1974a) Miscellaneous Notes on ‚The Mind is a Muscle‘, in: König, Kasper (Hg.) Yvonne Rainer: Work 1961–73, Halifax: Halifax Press of the Nova Scotia College of Art and Design.
Rainer, Yvonne (1974b) A Quasi Survey of Some ‚Minimalist‘ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of ‚Trio A‘, in: König, Kasper (Hg.) Yvonne Rainer: Work 1961–73, Halifax: Halifax Press of the Nova Scotia College of Art and Design, S. 63–69.
Rainer, Yvonne (1965) Some retrospective notes on a dance for 10 people and 12 mattresses called ‚Parts of Some Sextets‘, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965 (zuerst publiziert in: Tulane Drama Review, Nr. 10, Winter 1965). Reprint in: König, Kasper (Hg.) Yvonne Rainer: Work 1961–73, Halifax: Halifax Press of the Nova Scotia College of Art and Design 1974, S. 45–51.
Rainer, Yvonne (2006) Feelings are Facts. Cambridge: MIT Press.
Ramsay, Burt (2012) Don’t give the game away. Rainer’s reflections on dance and the visual arts revisited. Unveröffentlichtes Manuskript, Vortrag gehalten im Rahmen des Symposiums ‚Yvonne Rainer. Body Space Language‘ im Museum Ludwig, Köln.
Ramsay, Burt (2006) Minimalism, Theory and the Dancing Body, in: Ders.: Judson Dance Theatre, Performative Traces, London.
Ramsay, Margaret Hupp (1991) Grand Union Dreams, 1970–76. An Improvisation Performance Group. New York/Bern/Paris.
Sontag, Susan (1964) Notes on Camp, in: Dies: Against Interpretation, New York 1966.
Walley, Jonathan (2001) From Objecthood to Subject Matter. Yvonne Rainer’s Transition from Dance to Film, Dezember 2001, siehe: http://sensesofcinema.com/2001/film-and-the-other-arts/rainer-2/ (letzter Zugriff: 14.02.2018).