Eine Tanzszene, die von TITANIC (USA 1997) im Gedächtnis bleibt, ist die Party unter Deck. Die Kamera führt hier eine eigenwillige Drehung aus, einen 360° Schwenk, der abwechselnd Rose und Jack zeigt, die diegetisch umeinander, am Set aber um ein Mitglied des Kamerateams kreisen. In der Verdopplung von Figuren- und Kameradrehung wirkt die Operation statisch: Der Bildausschnitt bleibt an den Gesichtern haften – in der Eigenrotation gefriert die Bewegung. Wenn später das Steuerrad bis zum Anschlag gedreht wird und der erste Offizier die Beschwörung „dreh doch, dreh!“ ausspricht, erinnert der Film diesen frostigen Moment: die Kollision zwischen Schiff und Eisberg ist nicht aufzuhalten, die Schiffsschraube folgt ihrerseits einem Rotationsprinzip. Dass Tanzszenen im Film solche Signalwirkung entfalten können, zeigen die versammelten Beiträge dieser Ausgabe.
Im Unterschied zu genrebasierten Perspektiven, welche die Beziehung von Film und Tanz entlang traditioneller Tanzfilme (wie Musicalfilme, Revuefilme oder künstlerische Tanzfilme) zum Thema machen, eröffnet "Film | Tanz | Diskurs" einen Horizont auf kurze Erscheinungsformen des Tanzes jenseits von Genregrenzen und filmhistorischen Dekaden. Wie sich zeigt, erschöpft sich das Verhältnis gerade nicht in der filmhistorisch stark bemühten Allianz von Film und Tanz. Tanzszenen sind vielmehr im Wissen um die Diskursgeschichte der Bewegungsbilder vom Tanzen choreografiert. Die Texte leisten im Folgenden eine enge Fokussierung auf solche Szenen und prüfen ihre Funktion innerhalb der gesamtfilmischen Textur. Auf diese Weise konturieren sie eine Ästhetik der Schnittfläche von Film und Tanz.
Als „genuin epistemologische Tanzfigur“ traut Martin Siegler der Figur der Drehung am Beispiel von Darren Aronofskys BLACK SWAN (USA 2010) ein heuristisches Potenzial zu: Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist die Dynamik von Stillstand und Wiederholung, die eine Eigenschaft des kinematografischen Apparats und materielle Bedingung des Films freilegt: die Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung. Als Kulminationspunkt von Ballett und bewegtem Bild diagnostiziert er ein unvorhersehbares Zusammentreffen „materieller, physischer und medialer Umstände“.
Robin Curtis nimmt den Zusammenprall zweier Kugeln in einer Installation des Künstlertrios The Propeller Group zum Anlass, über eine „Ästhetik des Unterlassens“ nachzudenken. Jenseits einer kollektivkörperlichen Rezeptionserfahrung von Tanz, die eine Vitalität ins Zentrum rückt, fragt sie nach Möglichkeiten einer Qualität der Erfahrung, die mit Passivität zu tun hätte. Folgerichtig rückt ihr Verständnis von Tanz vom Körper als Akteur ab hin zu einem „Tanz der Dinge“.
Mit einem „Tanz mit Indizes/Indizien“ (Deleuze) beschäftigt sich Gerko Egert anhand von Alain Robbe-Grillets TRANS-EUROP-EXPRESS (F 1967). Hier wird die Ermittlung durch und in Bewegungen als eine choreografische aufgefasst. Der Beitrag eröffnet damit eine Sichtweise auf Choreografie als Bewegungen immanente Kraft, die nicht von einer Tänzer*in ausgeführt wird: „Choreografie ist in diesem Sinne keine Struktur [...] sie findet nicht vor oder nach der Bewegung statt, sie operiert vielmehr im Ereignis der Bewegung selbst.“ Den a-signifikanten Motor der Choreografie bilden Dynamiken und Rhythmen, das langsame Kopfdrehen, das etwas zu lange Verweilen der Blicke.
Kirsten Maar befasst sich mit Yvonne Rainer, einer der Gallionsfiguren der Choreografie-Geschichte. Mit Blick auf die kompositorische Struktur des Films LIVES OF PERFORMERS (USA 1972) weist sie Rainers Wechsel vom Tanz zum Film nicht als Bruch, sondern als Kontinuität einer Diskontinuität aus und zeigt, wie Formen des Tanzes hier die binäre Opposition zwischen konzeptuellen und tanzpraktischen, zwischen minimalistischen und narrativen Anteilen aussetzen. In der Versuchsanordnung der Probe, im Interesse an der offenen Form, werden Dichotomien von Form und Inhalt, Kunst und Politik gelockert, kommen feministische, queere, identitätspolitische Themen in den Blick.
Um Kontinuität und Diskontinuität geht es auch im Text von Ulrike Hanstein, die sich der Schluss-Sequenz von John Akomfrahs THE NINE MUSES (UK 2010) widmet. Tanz und Film treten dabei als „ein Verhältnis von miteinander verschränkten, einander unterbrechenden und dissonant entfalteten Bewegungsordnungen hervor.“ Die Analyse der Bildbewegungen findet ihren Bezug im Jazz: Akomfrahs Montageverfahren wird als audiovisuelle Improvisation beschrieben. Die audiovisuellen Bilder des Films sind Brechungen und Unterbrechung, deren politischen Horizont die Spannungsfelder des Postkolonialismus bilden. Identitätspolitische Artikulationen sind dabei, so versteht sie mit Akomfrah zu zeigen, „entgegen ihrer emanzipatorischen Impulse immer auch in problematischer Weise vereinheitlichend und begrenzend.“
Film führt Führung vor, genauer Führungsmacht: Mit dieser These geht Drehli Robnik der vermeintlichen Ununterscheidbarkeit von Tanz und Alltagsverhalten im postfordistischen Kapitalismus nach. Beispiele von Pabst, Tati und Garland, bzw. die hier aufscheinenden Verbindungen von Tanz, Politik und Film, führen ihn zu der Frage, wie sich im Ausmachen eines Unterschieds, etwa zwischen Tanz und Arbeit, hegemoniale Ordnungen ihrer Kontingenz überführen lassen.
Auch für Susanne Foellmer ist die Frage, in welchem Verhältnis Tanz und Arbeit stehen, für den Film relevant: Der Tanz im Werbefilm bei Godard wird etwa zum Dreh-Moment, das um die Auseinandersetzungen in den Systemen von Arbeit, Kapitalismuskritik und politischem Engagement kreist. Dabei fungiert Tanz im Sinne eines „kompositorischen Prinzips, das den Film in wiederholenden, binnenfilmischen Bezugnahmen anordnet.“ Für Foellmer ist Tanz in den Filmen Godards daher "nicht (nur) als Ausnahme zu verstehen, mit der konventionelle Handlungsstränge unterbrochen und de-komponiert werden, sondern kann als ein Doppel von Strukturierungen im Modus choreografischer Iterationen und intervenierenden, rahmenden Interruptionen gefasst werden.“
Neben Godard bestimmt Sabine Nessel eine Tanzszene bei Pasolini als genuin moderne Erscheinungsform des Tanzes, die bereits eine Abwesenheit des tanzenden Körpers antizipiert. Wie der Körper zum Verschwinden gebracht wird, verfolgt der Text von den frühen Serpentinentänzen über die energetischen Bilder der Filmmoderne bis hin zu den Filmen von Petzold oder Schanelec.
Nicht Unterbrechung oder Verschwinden stehen im Zentrum des nächsten Beitrags sondern Schichtung. Barbara Büscher interessiert sich für Konstellation zwischen theatralen und filmischen Inszenierungsmodi, etwa der filmischen Transformation von performativen Aufführungen. Sie nutzt den Begriff Maskerade, um Arbeiten von Mara Mattuschka und Ulrike Ottinger als Schichtung, d.h. wechselseitige Distanzierung naturalisierender Darstellungsweisen zu konturieren. Maskerade wird hier zum Strukturmodell um Fragen von Intermedialität zu behandeln: Verschiedene Ebenen von Sichtbarkeit im Medium Film, von denen keine mehr Authentizität als die andere beansprucht.
Im letzten Beitrag blickt Claudia Rosiny zurück auf ihre Überlegungen zum Videotanz und prüft, wie sich die Beziehung zwischen Film und Tanz seither verändert hat. Aus heutiger Sicht existiere das Genre von Choreografien für die Kamera unter den veränderten Bedingungen des digitalen Zeitalters, auch den veränderten Distributionskanälen. Umgekehrt hat Videotanz die Darstellungsformen von Tanz auf der Bühne beeinflusst. Im zeitgenössischen Tanz diagnostiziert Rosiny eine „filmische Ästhetik im tänzerischen Bewegungsvokabular“.
Unter der Rubrik Reviews gibt Elena Meilicke abschließend Einblick in ihre Leseeindrücke zu dem 2012 von Hannah Pilarczyk herausgegebenen Sammelband „Ich hatte die Zeit meines Lebens. Über den Film ‚Dirty Dancing‘ und seine Bedeutung“. Schon im Titel lässt sie jene Hebefigur, die sich „gründlich ins Gedächtnis gebrannt“ hat, noch einmal aus dem Wasser aufsteigen und erinnert damit an das, was Tanz auch ist: sich unter Deck verausgaben – auf die Zehenspitzen stellen – nicht untergehen.
Die No 16: "Film | Tanz | Diskurs" fasst Ergebnisse der gleichnamigen DFG-geförderten Tagung zusammen, die 2016 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattgefunden hat, und erweitert sie um einzelne Positionen.
Sabine Nessel/Linda Waack