Der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich
Der Körper geht durch Krämpfe, Anspannungen und Entspannungen, Faltungen, Entfaltungen, Verknotungen und Entwirrungen, Verdrehungen, Zuckungen, Schluckauf, elektrische Entladungen, Entspannungen, Anspannungen, Zuckungen, Stöße, Erzittern, Erschauern, Erektionen, Brechreiz, Sprünge.
(Nancy 2015: 28)Im Kino... hat der Zuschauer einen festen Sitzplatz, aber nur physisch... Ästhetisch gesehen ist er in permanenter Bewegung, so wie sein Auge sich mit den Linsen der Kamera identifiziert, die permanent in Hinsicht auf Abstand und Richtung die Stellung ändert. Und der dem Zuschauer präsentierte Raum ist so beweglich wie der Zuschauer selbst. Nicht nur bewegen feste Körper sich im Raum, sondern der Raum selbst bewegt, ändert, dreht, löst und rekristallisiert sich...
(Panofsky 1937, zit. nach: Kracauer 1979: 12)von der seite des subjekts aus ist also raum am unmittelbarsten erlebbar durch bewegung, auf einer höheren stufe durch den tanz, der tanz ist gleichzeitig ein elementares mittel zur erfüllung raumgestalterischer wünsche. er kann den raum verdichten, ihn gliedern: der raum dehnt sich, sinkt und schwebt – fluktuierend in allen richtungen.
(Moholy-Nagy 1929: 195)
Mein persönlicher Weg zum Film – zur Aktivität der Kontemplation von Filmen durch wiederholte Sichtungen, sehr ähnlich wie ich ganze Nachmittage lang im Kinderzimmer wiederholt dieselbe Seite von Musikplatten angehört und regelrecht aufgesaugt habe, jede Note, jedes Wort des Liedtexts, die Feinheiten der Rhythmen und den genauen Klang der Instrumente und schließlich eine Stimmung, die ich heute noch sofort präsent habe beim Wiederhören – der Weg zu einer solchen Rezeptionsform beim Film führte durch das Musical.
Meine Familie war Musical-versessen und das war die einzige Sorte von Film, die sich bei uns uneingeschränkt für die wiederholte Sichtung eignete. Man war natürlich im kanadischen Vorort weitgehend darauf beschränkt, sich auf die Zufälle des Fernsehprogramms verlassen zu müssen und dann entsprechende Gelegenheiten wahrzunehmen, um etwa WEST SIDE STORY (USA 1961), SINGING IN THE RAIN (USA 1952), 42ND STREET (USA 1933) oder BROADWAY MELODY OF 1936 (USA 1935) wieder gemeinsam am Fernseher zu schauen.
Ich erwähne das hier, weil diese intime und zugleich kollektive Form der Erfahrungsschulung m.E. für die zukünftige immersive Kapazitäten eines jeweiligen Zuschauers absolut essenziell ist: Man übt das Sehen und Hören und vor allem diese intensive, kontemplative Form des Sehens und Hörens, die weit über die Beschäftigung mit und das Verständnis von einer Handlung hinausgeht. Eine Intimität mit spezifischen Filmen wird bei dieser Rezeptionsform geübt – etwas, was nur bei der mediatisierten Form der Tanzrezeption ermöglicht wird, denn ähnlich wie Filme, die einem immer wieder zum Weinen bringen – trotz des Wissens, dass es jedes Mal im Film unweigerlich so und nicht anders sein wird –, ist die affektive Wiederholbarkeit hier ein essenzieller Aspekt dieser Rezeption. Es ist eine Rezeptionsform, die sich mit spezifischen Übergängen, Intensitäten und Stimmungen beschäftigt (hier denke ich zum Beispiel an Daniel Sterns sogenannte „Vitalitätsaffekte“).1 Mein Anliegen ist es im Folgenden, die mediale Übereinstimmung der beobachtenden Körper, der sich bewegenden Körper und der Körper des Raums anhand von einigen Beispielen räumlich und zeitlich zu verorten. Woran nehmen wir genau teil, wenn wir uns an solchen Konfigurationen von Körpern und Raum beteiligen, die uns eine filmischen Choreografie zugänglich gemacht hat?
Was bedeutete es, Mitglied einer historischen Kinokohorte, etwa der 1930er oder 1960er Jahre, zu sein? Unsere spezifische Form der Beteiligung – unsere Zu- wie Abneigungen – sind durch unsere spezifische Zeitgenossenschaft geprägt. Man sieht und hört in kulturell und historisch spezifischen Kontexten, die auch für die kollektive Rezeption bestimmend sind.
Die Signifikanz der kulturellen und historischen Spezifik der Körperlichkeit in Filmen hat uns Karsten Witte deutlich gemacht, in seiner aufschlussreichen Auseinandersetzung mit den Revuefilmen der NS-Zeit. Das was für mich – und wohl für uns alle (und für Karsten Witte selbst) – etwa bei einer Sichtung des Films WIR TANZEN UM DIE WELT (D 1939) als schleppend montiert, fantasielos choreografiert, erdgebunden getanzt, leidenschaftslos, ja: schließlich als freudlos erlebt wurde, war für das zeitgenössische, einheimische Publikum, so Wittes These, beruhigend pflichtbewusst, ordentlich, die Einheitlichkeit des Kollektivkörpers pflegend und bestätigend.
Wir befinden uns nicht nur in Körpern, die alle zeit- und ortlos und somit transhistorisch, transkulturell beschreibbar sind. Vielmehr sind wir sowohl zeitlich wie örtlich/kulturell verortet und jene Körper, die sich in Raum und Zeit bewegen, empfinden auf eine historisch und kulturell spezifisch gebildete Weise. Wie lässt sich diese Spezifizität beschreiben?
In einer Szene wie dieser aus BROADWAY MELODY OF 1936 bewegt sich nicht nur eine Tänzerin, sondern es bewegen sich auch die Kamera, die anderen Figuren, die Requisiten und die Bühne selbst. In den von Busby Berkeley choreografierten Tanzfilmen der 1930er Jahre sind für uns das kalaidoskopische Bewusstsein der Großstadtfilme der 1920er Jahre sowie Siegfried Kracauers „Ornament der Masse“ erkennbar. Obwohl diese Elemente insbesondere mit dieser Ära der Filmgeschichte in Verbindung gebracht werden, sind sie dem Medium natürlich inhärent. Dies wurde von Erwin Panofsky bemerkt als er schrieb:
Im Kino... hat der Zuschauer einen festen Sitzplatz, aber nur physisch... Ästhetisch gesehen ist er in permanenter Bewegung, so wie sein Auge sich mit den Linsen der Kamera identifiziert, die permanent in Hinsicht auf Abstand und Richtung die Stellung ändert. Und der dem Zuschauer präsentierte Raum ist so beweglich wie der Zuschauer selbst. Nicht nur bewegen feste Körper sich im Raum, sondern der Raum selbst bewegt, ändert, dreht, löst und rekristallisiert sich...
(Panowsky 1937, zit. nach: Kracauer 1979: 12)
Ein Musical hebt die Momente einer solchen raumzeitlichen Vertiefung in den Bewegungen des Bewegtbildes hervor. Auch der Körper wird hier zweifach angesprochen: der Zuschauer, der „einen festen Sitzplatz“ im Kino bzw. vor dem Laptop hat, ist ästhetisch in „permanenter Bewegung“ und die „Körper“ – seien sie lebende oder leblose Gegenstände – bewegen sich im filmischen Raum, der sich ebenfalls bewegt, „ändert, dreht, löst“.
Ähnlich wie die männliche Figur in diesem Filmausschnitt, die beim Betrachten von Eleanor Powells Tanz unwillentlich zum Aufstehen bewegt wird (und sich dann offenbar doch etwas schämt), fühlen wir uns in den Bewegungen des Bewegtbildes mittels der unwillentlichen Mimikry der Einfühlung eingebunden. Die grundsätzliche Fähigkeit zur Einfühlung fußt nach Ansichten des Philosophen und Psychologen Theodor Lipps auf einer involuntären, instinktiven Mimikry des Anderen, also auf einer menschlichen Verhaltensweise, die zu Lipps’ Zeit (um 1900) zwar beobachtet, aber noch nicht weiter erklärt werden konnte und deshalb Hypothese bleiben musste. Diese Neigung zur Mimikry zeigte sich zum Beispiel im leichten Wippen oder Schaukeln bei der Beobachtung von Tänzern oder auch in der mitfühlenden Anspannung beziehungsweise in der inneren Nachahmung, die man beim Beobachten des Seiltanzes eines Akrobaten erlebte, um hier Lipps’ eigene Beispiele zu bemühen. Obwohl die menschliche Neigung zur Mimikry häufig sozial unterbunden wird, vollzieht sie sich dauernd auf eine so unfreiwillige beziehungsweise unbewusste und auch unmittelbare Weise, dass sie schließlich als Projektion in das Andere erlebt wird. Nach Lipps:
[E]ben dies mein Streben fühle ich in der optisch wahrgenommenen Bewegung. Ich erlebe es als etwas unmittelbar dazu Gehöriges. Ich fühle also mich in dieser Bewegung strebend, nämlich strebend nach dem kinästhetischen Bewegungsbilde, das der optisch wahrgenommenen Bewegung entspricht, und damit zugleich nach dieser letzteren. Ich fühle, allgemeiner gesagt, mich in einem Wahrgenommenen strebend nach Ausführung einer Bewegung. (Lipps 1903: 120)
Dieses automatische Miterleben gilt als Kern der Einfühlung. Dies betrifft nicht nur die Aktivitäten der tanzenden Figur sondern auch die Wahrnehmung des Raums an sich. Nachdem er die Tänzerin Gret Palucca gesehen hat, hat der Bauhauskünstler László Moholy-Nagy das Interagieren von Körper und Raum durch Paluccas Tanz wie folgt beschrieben:
von der seite des subjekts aus ist also raum am unmittelbarsten erlebbar durch bewegung, auf einer höheren stufe durch den tanz, der tanz ist gleichzeitig ein elementares mittel zur erfüllung raumgestalterischer wünsche. er kann den raum verdichten, ihn gliedern: der raum dehnt sich, sinkt und schwebt – fluktuierend in allen richtungen. (Moholy-Nagy 1929: 195)
Demnach kann die Bewegung des lebenden Körpers von der gefühlten Bewegung des Raums selbst schlecht getrennt werden.
All dies führt zurück zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen – die Beobachtungen Jean-Luc Nancys in 58 Indizien über den Körper. Indizien sind symptomatische Merkmale. Sie verweisen ebenso auf das Vergangene – das, was ehemals anwesend war bzw. stattgefunden und Spuren hinterlassen hat. Das, worauf sie verweisen, ist nicht selbst anwesend. Nancys Liste beginnt so:
1
Der Körper ist materiell. Er ist dicht. Er ist undurchdringbar. Wenn man in ihn eindringt, zerlegt man ihn, löchert man ihn, zerreißt man ihn.2
Der Körper ist materiell. Er ist abseits. Von den anderen Körpern verschieden. Ein Körper beginnt und endet gegen einen anderen Körper. Selbst die Leere ist eine sehr subtile Art Körper. (Nancy 2015: 7)
Ich möchte zu meinen eingangs gestellten Frage zurückkommen: Woran nehmen wir teil, die in den 1980ern und 1990ern sozialisiert wurden und in dem ‚modernen europäischen Autorenfilm‘ ein (Ab-)Bild der eigenen Zeit sahen und sich dort quasi zu bewegen lernten? Im Mai letzten Jahres befand ich mich vor einem Bild, das mich gefesselt hat – ich beginne also in der Fast-Jetztzeit. Das Bild war Teil einer Installation von dem vietnamesischen/amerikanischen Künstlertrio The Propeller Group, die aus einem Block Gel und einem Flachbildschirm, der dahintermontiert war, bestand.
Ich habe hier, im Arsenale auf der Biennale in Venedig, sicher mehr als 20 Minuten verbracht und obwohl es wirklich noch viel zu sehen gab, bin ich zu dieser Arbeit zurückgekommen. Sie heißt The AK-47 vs. The M16 (Jahr) und bildet die Flugbahn zweier Kugeln ab, die sich in der ‚Luft‘ treffen. Das Medium für dieses Zufallsereignis ist das sogenannte „ballistic gel“, ähnlich wie ein Block Gelatine, das dafür benutzt wird, die Dichte des menschlichen Körpers beim Beschussversuch zu simulieren. Die Waffen – AK-47 und M16 – sind diejenigen, die im Vietnamkrieg jeweils von den Vietnamesen und den Amerikanern benutzt wurden. Ziel der Künstlergruppe war es, den Zusammenstoß zweier Kugeln mit einer Kamera aufzunehmen, die 100.000 Bilder pro Sekunde aufnimmt, um Bewegungen festzuhalten, die für das menschliche Auge sonst nicht sichtbar wären.
Die Video-Dokumentation zweier solcher Zusammenstöße (die wirklich sehr schwer zu bewirken sind), stellt das Zusammentreffen zweier Körper im Raum dar. Ihre Auswirkung auf diesen Raum wird durch die Bewegung des Gels genauso sichtbar wie der Moment des Aufpralls. Somit zeigt sich auch der Raum dieses Ereignisses als beteiligter Körper im Sinne Nancys zweiten Indizes: „Ein Körper beginnt und endet gegen einen anderen Körper.“ Und: „Selbst die Leere ist eine sehr subtile Art Körper.“ Diese Installation stellt die Fluidität des Körpers dar. Zugleich wird diese Fluidität in einen historischen Kontext gestellt, denn während der Körper dicht ist, undurchdringbar, „zerlegt man ihn, löchert man ihn, zerreißt man ihn“, wenn man in ihn eindringt. Dies schwingt mit.
Zugleich aber überträgt sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers hier vom Ereignis des Zusammenstosses (es ist etwas passiert, etwas findet statt) auf das Statische, die Ausdehnung eines Ereignisses bis auf die Ereignislosigkeit (fand etwas statt?). Geht es bei diesen beiden Aufnahmen nicht eben darum, dass man die Aufmerksamkeit vom Körper der beiden Kugeln auf den Raum überträgt, von der Figur auf den Grund?
Wie sehe ich diesen Tanz der Dinge in der Installation The AK-47 vs. The M16 als historisch und kulturell verortete Zuschauerin? Einige Möglichkeiten möchte ich andeuten, um die Schnittmenge der Dinge, die hier zusammentreffen, zu erweitern. Als Kontrast zu den Bewegungsmotiven in den Beispielen aus den Musicals der 1930er (sowie denjenigen der 1950er und 1960er) Jahre aus Amerika und zu denjenigen aus Deutschland der NS-Zeit möchte ich in den kommenden Beispielen Motive des Unterlassens unterstreichen, die – so meine ich – ein einprägsamer Aspekt im europäischen Autorenfilm seit den 1980er Jahren waren.
In diesem französischen Film aus dem Jahr 1981 wird heimlich eine Tonaufnahme einer Sängerin gemacht, die sich weigert, sich aufnehmen zu lassen, und somit die Beteiligung an der kapitalistischen Marktwirtschaft jenseits von Konzerten verweigert. Zu einem Krimi (statt einer Reflektion des Ereignischarakters der Situation des Konzerts) wird der Film, wenn dem jungen Mann, der die Aufnahme gemacht hat, per Zufall und ohne sein Wissen eine weitere Tonkassette zugesteckt wird. Somit wird er in eine Kriminalgeschichte verwickelt. Der Film hebt trotz dieser Entwicklung grundsätzlich ein Gefühl von Stasis hervor, die oftmals durch Bewegung im Bild hervorgerufen wird. Eine Szene:
Die Wellenmaschine, die hier gezeigt wird, wird zu einem Renner der Kontemplationsobjekte der Inneneinrichtung der 1980er Jahre. Dem Film, DIVA (F 1981), wird häufig vorgeworfen, dass er sich zu sehr für Stil interessiert und zu wenig für Handlung. Diese Szene könnte als Paradebeispiel dieses Problems gesehen werden. Jedoch ist mir diese Wellenmaschine wieder eingefallen, als ich über die Erfahrung des Sehens bei The AK-47 vs. The M16 nachgedacht habe. Was ich hier sehe, steht in Kontrast zu dem, was Daniel Stern als Vitalitätsaffekte bezeichnet.
In seiner 1985 erschienenen Untersuchung zu präverbalen Säuglingen, The Interpersonal World of the Infant, beschreibt der Psychologe Daniel Stern eine Reihe von sogenannten „Vitalitätsaffekten“ in Kontrast zu den Basisaffekten (wie z.B. Wut, Trauer, Glück usw.). Bei diesen abstrakten, für den Säugling wahrnehmbaren Repräsentationen handelt es sich nicht um „Bilder, Töne, haptische Eindrucke und benennbare Objekte, sondern vielmehr um Formen, Intensitätsgrade und Zeitmuster – die eher ‚globalen‘ Merkmale des Erlebens“ (Stern 1985: 80). Diese sogenannten „Vitalitätsaffekte“ können sowohl im eigenen Körper erlebt wie auch in den Körpern von anderen Personen erkannt werden und lassen sich laut Stern am besten mit dynamischen, kinetischen Begriffen charakterisieren wie „aufwallend“, „verblassend“, „flüchtig“, „explosionsartig“, „anschwellend“, „berstend“, „sich hinziehend usw.“ (Ebd.: 83). Stern beschreibt also eine Kapazität der Wahrnehmung, die viel eher mit qualitativen, fast atmosphärischen Aspekten zu tun hat als mit konkreten „Handlungen“. Nichtsdestotrotz werden sie von Stern explizit mit der Wahrnehmung der Vitalität in Verbindung gebracht. Dies ähnelt übrigens der Tatsache, dass Theodor Lipps sich die Einfühlung nur als positiven und nicht als negativen Impuls vorstellen kann, denn ‚positive‘ Einfühlung wird grundsätzlich als lebensbejahender ästhetischer Impuls wahrgenommen. Leben und Aktivität sind für Lipps gleichbedeutend: „Denn was ich einfühle, ist ganz allgemein Leben. Und Leben ist Kraft, inneres Arbeiten, Streben und Vollbringen.“ (Lipps 1906: 100) Das Gegenteil hiervon ist das, was Lipps „negative Einfühlung“ nennt, ein Vorgang, der seiner Ansicht nach kaum als ästhetische Betätigung vorstellbar ist und den er daher nur flüchtig behandelt.
Wäre es jedoch nicht denkbar, dass es ähnliche Qualitäten der Erfahrung bzw. der Rezeption gibt, die weniger mit „Vitalität“ als mit der Passivität, mit dem Sein-Lassen, dem Unterlassen, der Weigerung, schlicht dem Nicht-Stattfinden-Lassen zu tun hätten? Und hierzu ein letztes Beispiel für einen Tanz der Dinge, die sich weigern – nun zehn Jahre später in LES AMANTS DU PONT-NEUF (F 1991). Der Film handelt von einem Paar, das aus zwei individuell Resignierten besteht, die zueinander finden und doch auch Abstand halten. Sie verweilen, schlagen Zeit tot, beobachten, nehmen nicht teil.
Die Frau bleibt vor der Disco stehen und legt sich schließlich auf den Boden, um die tanzenden Figuren durch das lange, schmale Fenster zu beobachten. Der Mann steht: Wir sehen seine Füße neben ihr, die sich sehr explizit gar nicht bewegen. Er steht sehr still.
In seinen 58 Indizien über den Körper geht Jean-Luc Nancy weitgehend von Aktivitäten aus. Unter der Nummer 52 schreibt er:
Der Körper geht durch Krämpfe, Anspannungen und Entspannungen, Faltungen, Entfaltungen, Verknotungen und Entwirrungen, Verdrehungen, Zuckungen, Schluckauf, elektrische Entladungen, Entspannungen, Anspannungen, Zuckungen, Stöße, Erzittern, Erschauern, Erektionen, Brechreiz, Sprünge. (Nancy 2015: 28)
Ja, was ist, wenn wir uns nach der Immobilität der Dinge sehnen, uns daran anpassen, die Verlangsamung des Ereignisses bis hin zur Ereignislosigkeit zu beobachten? Denn ist das nicht genau das, was in dem vermeintlichen Ereignis des Zusammentreffens zweier Kugeln enthalten ist: das Sich-Auslöschen des Potentials dieser beiden Kugeln? Das Video ermöglicht es, dass wir dies in seiner Komplexität miterleben.
Kracauer, Siegfried (1979) Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Übers. Ruth Baumgarten und Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lipps, Theodor (1903) Grundlegung der Ästhetik. Erster Teil. Hamburg: Leopold Voss.
Lipps, Theodor (1906) Einfühlung und ästhetischer Genuß, in: Die Zukunft, Nr. 54, Januar 1906, S. 100–114.
Moholy-Nagy, László (1929) Von Material zu Architektur. München: Albert Langen.
Nancy, Jean-Luc (2015) 58 Indizien über den Körper, in: Ders.: Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, Zürich/Berlin: diaphanes, S. 7–31.
Panowsky, Erwin (1937) Style and Medium in the Moving Pictures, in: transition, Nr. 26, S. 124–125.
Stern, Daniel N. (1985) The Interpersonal World of the Infant: A View from Psychoanalysis and Developmental Psychology. New York: Basic Books.
Stern, Daniel N. (2010) Forms of Vitality: Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development. Oxford: University Press.