„Im [Experimental-]Film arbeitet man der bekannten [filmischen] Realität entgegen und verändert sie [...]. Die Veränderungen beschränken sich nicht nur auf das Bild, den Bildschnitt [...] sondern [beziehen sich] auch auf den Film in seiner Gesamtheit, in der Art der Beziehungen und Verbindungsweisen der einzelnen Elemente untereinander.“1
„Indem der Film sein Material wiederentdeckt, wird er zur bildenden Kunst.“2
Das bildende Potential von Experimentalfilmen ist, Deren und Minas folgend, mindestens in zweifachem Sinne zu verstehen: zum einen wirken sie mit an einer fortlaufenden Bildung des Films, seinem Werden und versuchen dabei noch nicht erschlossene Dimensionen des Films zu erschließen. Gleichsam vollziehen sich diese Bildungen des Films immer in Beziehungen zu diversen Publica, die wiederum durch die Filme gebildet werden.
Um diesem bildenden Zusammenhang von Experimentalfilmen, Filmkultur und Filmerfahrung noch etwas weiter zu folgen, stelle ich meinem Überlegungen zum Experimentalfilm drei Vorbemerkungen voran: zur Perspektivierung des Textes hinsichtlich des Zusammenhangs von Experimentalfilm und Vermittlung, zu meinem Konzept von (der) Medialität (des Films) und zu meinem Verständnis von künstlerischen, experimentellen Arbeiten im Medium Film als Forschungsarbeiten.
Sie können diese Vorbemerkungen als theoretische Rahmungen der folgenden Notizen zu den filmvermittelnden und bildenden Potentialen von Experimentalfilmen lesen. Anschließend wende ich mich mit dem Found Footage-Film L’ ARRIVÉE (R: Peter Tscherkassky, AT 1997/98) des österreichischen Filmemachers Peter Tscherkassky einem Experimentalfilm etwas genauer zu, um mit ihm einige Thesen zu einem Begriff der Filmvermittlung zu formulieren, die vom singulären Film ausgeht.
1. Ganz im Gegensatz zu den mit Maya Deren formulierten Bildungspotentialen der Experimentalfilme gehören diese nach wie vor zu den marginalisierten filmischen Formen schulischer und außerschulischer Filmvermittlung. Und das obwohl die filmvermittelnden Qualitäten vieler experimenteller Filme bereits beforscht3 und deren Einsatz in diversen Vermittlungszusammenhängen erfolgreich erprobt wurde.4 Diese Randständigkeit des Experimentalfilms kann man nun bedauern oder sie produktiv wenden, wie Stefanie Schlüter und Volker Pantenburg in ihren „Zehn Anmerkungen zur Filmbildung“ vorschlagen:
„Um eine besondere Seherfahrung zu machen, ist prinzipiell jeder Film von Interesse; gerade das Ungewohnte schult die Wahrnehmung oft mehr als das Geläufige. Daher sind auch scheinbar marginale filmische Formen wie Experimentalfilme von zentralem Wert [für die Filmvermittlung], weil in ihnen die Wahrnehmung des Films häufig Dreh- und Angelpunkt des Films ist“.5
In diesem Sinne fragt der vorliegende Text in bildungstheoretischer Perspektive am Beispiel von Peter Tscherkasskys L’ ARRIVÉE nach den spezifischen Potentialen eines Experimentalfilms für die Filmvermittlung: Was und wie zeigt dieser Film – und was (und wie) vermittelt er? Welche Effekte und Spuren hinterlässt er in der Zeit seiner Erfahrung bei seinen Zuschauern/innen?6 Und wie lässt sich an diese Spuren – im Sinne der Ästhetischen Bildung – lesend und übersetzend anknüpfen?7
Ich schließe damit auch an einige Gedanken zum Verhältnis von Film und Vermittlung an, die ich 2009 in dem Text Filmvermittlung ist? – damals für ein Dossier zur Filmvermittlung und Filmpädagogik des Forschungsprojekts „Kunst der Vermittlung“ – formuliert habe.8 In Bezug zu und mit Gustav Deutschs FILM IST. 1-6 (R: Gustav Deutsch, AT 1998) plädiere ich darin für eine differenzsensible FilmPädagogik, die – will sie den Film als ein hybrides und sich immer weiter ausdifferenzierendes Medium Ernst nehmen – ihren Vermittlungsansatz immer wieder neu an und mit dem jeweiligen zu vermittelnden Film entwickelt. Dazu ist allerdings eine Einübung in ein bestimmtes Sehen, eine bestimmte Wahrnehmung unhintergehbar. Eine Wahrnehmung des Films, die sich Zeit nimmt, die sich von den Filmbildern affizieren lässt, ohne sie zu schnell auf ein schon vorhandenes Wissen zurückzuführen oder sie einer Interpretation, einem Urteil zu unterwerfen.
Solche Vermittlungsansätze des Films, die bei einer genauen Wahrnehmung des filmischen audiovisuellen Bewegungsbilder beginnen, daran die angewendeten ästhetischen Strategien des Films herausarbeiten, um darüber zur jeweiligen Materialität des Films und seiner Aufführung, seinen ökonomischen, gesellschaftlichen und symbolischen Strukturen, seinen Kontexten, etc. vorzudringen, bezeichne ich als archäologische Ansätze.9
Als filmische Archäologien des Films wiederum lassen sich die Arbeiten von Filmemachern wie Gustav Deutsch, Martin Arnold, Peter Tscherkassky oder auch Christoph Girardet und Matthias Müller verstehen. Sie alle forschen auf unterschiedliche Weise im Medium Film am Film und bringen etwas in ihren audiovisuellen Argumentationen zur Anschauung, zeigen etwas, das zum Anders-sehen, -denken und -sprechen über Film anregen kann. Das ästhetisch-analytische Interesse der Künstler am Film, so meine These, speist sich aus Fragen nach seiner Materialität und Medialität, die sich nie endgültig beantworten lassen, da sie sich mit jedem neuen Film, den je verschiedenen historisch und kulturellen Blickwinkeln auf den Film und seine archivierte Geschichte immer wieder verändert, verschiebt und somit erneuert.
Auf die Potentiale des Experimentalfilms für die Bildung von und Einübung in ein genaues Sehen, werde ich am Ende des Textes noch einmal zurückkommen.
2. Ich gehe, wie schon angedeutet, in meiner bildungstheoretisch interessierten Forschung an Filmen und ihren bildenden Potentialen mit dem Medientheoretiker Dieter Mersch von einer performativen Fassung des Medialen aus;10 davon, dass sich die Beziehung zwischen Menschen und Medien (Medientechniken und -technologien) weder als Beherrschung instrumentell gedachter Medien durch den Menschen noch als eine technische Überformung der menschlichen Bewusstseinsphänomene im Sinne einer Determinierung denken lässt, sondern vielmehr als eine Kooperation oder Korrelation von Materialien, Medientechniken und -technologien, Diskursen, Praxen und Subjekten zu konzipieren ist. Die korrelative Fassung der Medialität betont den Gebrauch, die Anwendung von Medientechniken und -technologien durch Subjekte, in dem beide Relata (sowohl das Medium als das Subjekt) sich in ihrer aktualisierten Form erst herausbilden. Eine endgültige Definition beispielsweise der Medialität des Films lässt sich in dieser Perspektive nicht feststellen – was der Film ist, kann nicht abschließend gesagt werden – denn er kann sich mit jeder Anwendung, hier mit jedem neuen Film potentiell weiterentwickeln. Gleichwohl zeigen sich Facetten der Medialität des Films in Abhängigkeit von Materialitäten und Praktiken, eben durch deren Verwendungen in den einzelnen Filmen. Mit anderen Worten: Der Film existiert ebenso wenig wie eine allgemeine Theorie des Films und seiner Medialität. Es gibt Film und Theorie eben nur als in Bildung befindliche. Um es mit Mersch zu sagen: „Medien [wie der Film, MZ] situieren sich, jenseits operativer Strukturen, in einem indeterminativen Feld von Potentialitäten: Sie sind nicht – sondern sie werden erst“.11
3. In der Perspektive einer performativen Medientheorie bilden und verfestigen sich im Laufe der Filmgeschichte Potentiale des Filmischen zu differenzierten Formen und Strukturen, die in der regelhaften Wiederholung aktualisiert und damit bestätigt werden. So verdankt sich auch das für viele von uns gewöhnliche, genauer: gewöhnlich gewordene Verständnis von Film und seiner Erfahrung dem Gebrauch, bzw. der kulturellen Praxis mit einer ganz bestimmten Aktualisierung des Films, die ich jetzt stark vereinfachend als Erzählkino oder als narrativen Film bezeichne. Gewöhnlich folgen narrativ strukturierte Filme (Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilme) einem Set von Darstellungsregeln, die gewährleisten, dass die filmische Apparatur transparent wird und ‚hinter’ bzw. ‚in‘ der Filmhandlung, ihrer Geschichte und den Beziehungen der Filmfiguren verschwindet. Und man kann zudem sagen: Je mehr die Materialität und Technizität medialer Prozesse unwahrnehmbar wird, desto wirksamer strukturieren diese die subjektiven Welt- und Selbstverhältnisse der an den medialen Prozessen beteiligten Menschen.
Hier kommt nun die Kunst, genauer: Künstler und ihre forschenden, experimentellen Praxen ins Spiel. Es ist nach Dieter Mersch nicht nur die prominente Domäne der Kunst neue Möglichkeiten und Potentiale von Techniken und Medientechnologien auszuloten, sondern dabei auch Spuren des Medialen wahrnehmbar zu machen.12 Künstler können mittels verschiedenster ästhetischer Verfahren in bestehende mediale Strukturen eingreifen, Brüche, Irritationen, Widerstände und Seherschwernisse erfinden, um etwas von der Medialität eines Mediums hervorzulocken. Dazu bedarf es freilich seitens der Rezipienten einer Einübung in Sicht- und Erfahrungsweisen, die nicht den vordergründigen Funktionen medialer Prozesse folgen, sondern sich bevorzugt für deren Bruchstellen, Irritationen und Dysfunktionen interessieren. In der neueren ästhetischen Literatur wird diese Haltung gemeinhin als „Ästhetische Erfahrung“ bezeichnet.
Mit dem skizzierten Verständnis des Films muss man sich von dem Werkbegriff verabschieden, denn die Medialität des Films als ästhetisches Phänomen betrifft auch im besonderen Maße seine Rezeption. Der Film, der mehr als Ereignis denn als abgeschlossenes Werk wirksam ist, kann nicht länger als klar begrenzter Gegenstand bloßen Zuschauens aufgefasst werden. Der Film entwindet sich in seiner Medialität einer versichernden Gegenüberstellung von zuschauendem Subjekt und angeschautem Objekt. Die Film-Erfahrung kann daher nur als ein Prozess der Entfaltung der spannungsvollen Verhältnisse zwischen Ding und Zeichen sein.13
Die Bezeichnung „filmvermittelnde Filme“ ist ein Zitat. Und dieses Zitat führt mich zu einer Gruppe von Filmemachern, Filmkritikern und -wissenschaftlern namens Entuziazm und deren zweijähriges Forschungsprojekt „Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermittelnden Films“.14 Das Projekt hat verschiedene Formen von filmvermittelnden Filmen recherchiert, diese Filme in Kinovorführungen, Gesprächen und Texten der Öffentlichkeit vorgestellt und sie in einer Datenbank erfasst.15 Die einfachste Definition für „Filmvermittelnde Filme“ findet sich auf der Startseite der Projektdokumentation im Internet. Dort heißt es:
„Filme, die das Kino selbst thematisieren, seine Ästhetik und seine Geschichte, sind filmvermittelnde Filme. Ein filmvermittelnder Film kann eine künstlerische Videoarbeit sein, die in einer Montage typische Einstellungen aus Filmen eines Regisseurs versammelt; oder ein Dokumentarfilm über Bild-Motive eines Genres; oder ein ‚filmkundlicher‘, didaktischer Film zur Kinovermittlung in der Schule.“
Solche filmvermittelnden Filme finden sich gleichermaßen im Fernsehprogramm, auf DVDs, in Bildungs- oder Kunstzusammenhängen. Das ‚Genre‘ des filmvermittelnden Films umfasst viele Formate: experimentelle, analytische, didaktische, essayistische Formen für Kino, Fernsehen, Museum oder Schule. Sie versammeln unterschiedliche Perspektiven auf das Kino. Es gibt Filme von Kritikern, Filmemachern Filmhistorikern sowie von bildenden Künstlern und Pädagogen. Neben den genannten Vermittlungsformaten im Fernsehen, auf DVD oder im Internet widmet sich das Forschungsprojekt „Kunst der Vermittlung“ in mehreren Dossiers dem Experimentalfilm und einzelnen Experimentalfilmern (Martin Arnold, Gustav Deutsch, Peter Tscherkassky). Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Found Footage-Filmen,16 die in der Regel nicht als filmvermittelnde Filme im engeren Sinne, wie beispielweise das „Making-of“ eines Kinospielfilms auf einer DVD produziert werden. Darauf verweist auch Volker Pantenburg, aber spricht den Found Footage-Filmen gleichsam eine spezifische Vermittlungsstrategie zu:
„Dennoch liegt eine Gemeinsamkeit zwischen den ‚Found Footage‘-Arbeiten und den im engeren Sinne Filmvermittelnden Filmen darin, dass sie mit Filmmaterial umgehen und es dabei erforschen. Teils mit konkreten Filmen aus der Geschichte des Erzählkinos (wie Matthias Müller und Christoph Girardet in der Hitchcock-Collage PHOENIX TAPES oder Peter Tscherkassky in INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE), teils mit namenlosem, ephemerem Filmmaterial, auf dem Flohmarkt gefunden oder in Archiven gesucht. Bereits in dieser Beobachtung liegt ein Aspekt von Vermittlung: Filme wie Abigail Childs COVERT ACTION, der Home-Movies neu montiert, oder – auf andere Weise – Guy Sherwins AT THE ACADEMY, weisen daraufhin, dass die Filmgeschichte über Spielfilme hinaus über eine große Anzahl anderer Film-Praktiken und Bildmaterial verfügt. Diese anderen, randständigen Formen der Filmgeschichte werden in vielen Found Footage Filmen zum Protagonisten.“17
Eine entscheidende Gemeinsamkeit der Found Footage-Arbeiten liegt also darin, dass sie mit schon vorhandenem Filmmaterial umgehen – mit einem Material, in dem sich zuvor schon andere Filmemacher/innen eingeschrieben und Spuren hinterlassen haben – und dass sie dasselbe erforschen, kommentieren und reflektieren. Eine weitere Besonderheit dieser Filme ist, dass wir als Zuschauer ihrer Forschung zusehen können, bzw. an ihnen eine forschende Haltung gegenüber Film ausbilden können. Mit anderen Worten: die Forschungen der Found Footage-Filme und deren neue Erkenntnisse entstehen aus der Umarbeitung des Alten. Alle Filme der zuvor genannten Künstler zeichnen sich durch eine intensive Wahrnehmung des filmischen Bildes aus, welche materiale und mediale Strukturierungen des Films freilegt. Sie fokussieren auf je unterschiedliche Weise diese Strukturen, um sie wahrnehmbar, denkbar zu machen und damit neue Deutungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine solche Forschungsarbeit, so unterstelle ich, ist auch der Film L’ ARRIVÉE.
Den zuletzt skizzierten Thesen zum Experimentalfilm als filmvermittelndem Film möchte ich mit der Arbeit des Filmemachers Peter Tscherkassky weiter nachgehen. Denn sein im Jahre 1998 produzierter Film L’ ARRIVÉE verweist meines Erachtens auf die komplexe Medialität des Films. Er legt Spuren hinsichtlich der Materialität und Technik der Filmbilder (insbesondere ihrer Aufzeichnungs-, Bearbeitungs- und Projektionstechniken), ihrer Wahrnehmung und ihrer Geschichte, denen ich lesend folgen werde.
Tscherkasskys Film zeigt, so lässt sich in einer ersten Annäherung sagen, eine dreifache Ankunft:
1. Die erste Ankunft ist die des Filmstreifens selbst. Das Material des Films tritt in Form des Bildträgers auf, wenn der Film den Celulloid-Filmstreifen mit seinen Einzelbildern und der Perforation in Teilen zeigt. Dabei sind Spuren des Gebrauchs und der Bearbeitung des Filmstreifens zu sehen, Verschmutzungen, Kratzer, u.ä. L’ ARRIVÉE zeigt in negativer Weise auf das Dispositiv des Films. In der ungestörten Projektion ist das projizierte Bild gewöhnlich kongruent mit dem Bildausschnitt; das bedeutet beispielsweise für das Kino, das projizierte Bild füllt die gesamte Fläche der Kinoleinwand. Indem das in L’ ARRIVÉE nicht der Fall ist, wird auf die technisch-materiale Rahmung des sichtbaren Bildes angespielt.
2. Die zweite Ankunft in L’ ARRIVÉE ist die eines abgebildeten Zuges in einer Bahnstation. Auf dem ins Bild drängenden, zitternden Filmstreifen sind zuerst Häuser und wartende Menschen zu sehen, die sich etwas später identifizierend zusammenfügen lassen und sich als dem Bild einer Bahnstation zugehörig erweisen. Diese Bild-Sequenz kollidiert mit ihrer Spiegelung und tritt wieder auseinander, wobei das projizierte Bild in zwei dunkle Flächen und einen – mal mehr mal weniger breiten – weißen Spalt unterteilt wird.
Nach mehreren diagonalen Verschiebungen drängt eine weitere Einstellung von der rechten unteren Ecke ins Bild, bis sie die anderen verdrängt und den gesamten Bildausschnitt füllt.18
Zu sehen ist dann (zumindest kurz) – wie 1895 bei den Brüdern Lumière in L’ ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT (R: Gebrüder Lumière, F 1895) – die Ankunft eines Zuges in einer Bahnstation. Am rechten Bildrand ist während dieser kurzen Zugeinfahrt-Sequenz gut der Lichtton-Streifen des 35mm-Films zu sehen.
Zurück zu den Bildern von L’ ARRIVÉE: Ein Zug fährt ein, kollidiert mit seiner Spiegelung – und nicht der Zug, aber die Bilder seiner Einfahrt „entgleisen“. Die Ereignisse beginnen sich zu überschlagen. Tscherkassky lässt die Bilder aus ihrer sicheren Führung, mit anderen Worten, aus ihrer gewöhnlichen Projektions- und Sichtweise kippen. Einzelne Bildfragmente sind zu erkennen: Gleise, der Zug, Rauch. Und dann aber auch Fragmente des Filmstreifens selbst: Tonspuren, Perforationsstreifen, positiv wie negativ, verdoppeln und kreuzen sich, legen sich wie Schleier über das Bild. Genauer: das Filmmaterial selbst wird hier zum „Inhalt“ des Bildes, es wird Bild.
3. Zuletzt „kollidiert“ Lumieres Zug mit einem anderen filmischen Bild eines Ankommens in einem Bahnhof. Diese dritte Ankunft in L’ ARRIVÉE ist die einer Frau, die den „Bild-Trümmern“ entsteigt und von einem auf sie wartenden Mann in die Arme geschlossen wird. Sie küssen sich – das Happy-End.
In Tscherkasskys L’ ARRIVÉE wird Filmgeschichte und -dramaturgie wiederholt, dabei verdichtet und verschoben. Der Film inszeniert so den Übergang vom frühen Kino zum narrativen Spielfilm:
„Reduziert auf wenige Minuten bietet L’ ARRIVÉE eine kurze, präzise Zusammenfassung dessen, was die Kinematographie (nach ihrer Ankunft mit Lumières Zug) zu einer Großmacht werden ließ: Action, Emotions. Oder, wie eine amerikanische Hausfrau (zitiert nach T.W. Adorno) die Dramaturgie Hollywoods beschrieb: ‚Getting into the trouble and out of it again‘“.19
Die produktive Verschiebung dieser Wiederholung kommt durch das von Tscherkassky verwendete Filmmaterial zustande. Die Sequenz der Zugeinfahrt, welche die materielle Grundlage für L’Arrivée bildet, ähnelt eben nur dem zuvor genannten Film der Lumières, ist aber ein anderer: die Szene stammt aus dem Film MAYERLING (R: Terence Young, F/GB 1968) des englischen Regisseurs Terence Young aus dem Jahr 1968. Trotz der benannten Ähnlichkeit der Szenen, könnte ihre Differenz kaum größer sein, da MAYERLING das Hollywood-Kino samt seines zugehörigen Starsystems repräsentiert. Die Farbigkeit des 35-mm-Filmmaterials hat Tscherkassky in Schwarz-Weiß-Bilder umgewandelt.
L’ ARRIVÉE verweist darüber hinaus mit dieser Anspielung an den frühen Film vielfach auf das materielle Dispositiv des Films, auf seine materiellen und technischen Existenzbedingungen. Dieser Verweis funktioniert aber nur indirekt, da das Material zwar als Voraussetzung des Filmbildes gedacht werden muss, aber ja als solches nie direkt mitvermittelt werden kann. Daher kann Tscherkassky mit L’ ARRIVÉE auch nicht das Material des aktuellen Films selbst sichtbar werden lassen, sondern er kann auf es nur, quasi „entmaterialisiert“, in Form von Bildobjekten (der Filmstreifen, Perforationslöcher, Bildstriche, die Lichttonspur) anspielen oder als Störung, Irritierung oder Durchkreuzung der, am klassischen Erzählkino eingewöhnten und habitualisierten, Film-Erfahrung wirken lassen.
Man kann das auch noch einmal so formulieren: Tscherkasskys Film, insbesondere die „Entgleisung“ der Bilder (ab ca. 01:20 Min.), kann als eine Erinnerung, als Vergegenwärtigung einer historischen Film-Erfahrung verstanden werden, die sich im Zusammenhang mit dem frühen Kino – das von Tom Gunning als ein „Kino der Attraktion“ beschrieben wurde – gebildet hat und dieses dominierte.20 In den ersten Jahren seiner Geschichte stellte das Kino für seine Zuschauer eine Provokation dar, die mit der Intensität der durch die sich bewegenden Filmbilder gegebene Wahrnehmung zu tun hatte. Die Bilder des frühen Kinos überfielen die Sinne ihrer Betrachter und wurden als Attraktionen wahrgenommen.
Die angesprochene Bildersequenz, in der einzelne Bildfragmente und Fragmente des Filmstreifens sich kreuzen, überlagern und ineinander einbrechen, kann als der Versuch gelesen werden, in die Film-Erfahrung eines gegenwärtig dominierenden post-klassischen, narrativen Kinofilms, die intensive Erfahrung der kinematographischen Aufführung selbst einzutragen. Die angesprochene Sequenz ist nicht mehr narrativ, zumindest nicht in erster Linie, sie unterbricht vielmehr den narrativen Fluss (die Einfahrt, die erwartet Ankunft) und die gute Form der abgebildeten Geschichte/Situation, um intensive Bilder hervorzubringen, die erst einmal wahrgenommen werden müssen – und wenn überhaupt erst nachträglich signifiziert und mit Bedeutung versehen werden können. In diversen Beschreibungen und Kritiken zu L’ ARRIVÉE ist an dieser Stelle oft von einem „Materialgewitter“ die Rede. Diese Metapher, die als eine mögliche Übersetzung der Erfahrung genannter Filmsequenz gelten kann, trifft m.E. Ich kann in der Erfahrung dieser Filmsequenz (wie bei einem Gewitter) nicht sagen, wann sie beginnt oder enden wird, sie ereignet sich, widerfährt mir und muss durchgemacht werden. Sie erinnert mich daran, dass die Film-Erfahrung zuerst ein responsives Geschehen ist, ein automatisches Wahrnehmbar-machen, das meine Wahrnehmung immer auf ein Außer-sich-sein verweist. Zuletzt wird dieses intensive Wahrnehmungsgeschehen aber im Narrativ der Begegnung zweier Liebenden auf dem Bahngleis „gerahmt“ und beschwichtigt. Dem „trouble“, in den Filmbilder gerieten, „entsteigt“ der weibliche Star des postklassischen, narrativen Kinos, genauer, die Großaufnahme des weiblichen Stargesichts von Catherine Deneuve.
Tscherkasskys Film erzeugt so eine Aufmerksamkeit für das Gewordensein des heute dominanten und allgegenwärtigen Verständnis’ von Film und seiner Erfahrung. Die „Attraktionen“ (also das zugleich Anziehende, Neue und Fremdartige) ästhetischer Erfahrung früher Kinofilme sind im Laufe der Filmgeschichte vom Spiel der Materialitäten der Bewegungsbilder in die Geschichten, die sie erzählen, „migriert“. Die Attraktionen des narrativen Films waren und sind ihre Stars. Ihre Körper, Affekte, Beziehungsspiele, Probleme, Dramen und die gleichsam unterstellten Psychologien halfen (und helfen auch heute noch) das materiell-technische Dispositiv des Films und die Performanz seines Wahrnembar-machens zu vergessen, ins Außerhalb der diegetischen Welt des Films zu verdrängen.
Sucht man im Anschluss an L’ ARRIVÉE in systematischer Perspektive nach filmimmanenten Merkmalen für Experimentalfilme, so lässt sich zuallererst festhalten, dass sie scheinbar keine oder nur einen sehr geringen Grad an Narrativität aufweisen. Nur wenige Zuschauer dürften bei der Film-Erfahrung von L’ ARRIVÉE den Eindruck gewinnen, eine Geschichte erzählt zu bekommen, vielmehr verweist der kurze Film auf die Geschichte des Films selbst. Selbstverständlich gibt es aber auch Experimentalfilme, die Figuren und Ansätze einer Handlung enthalten.21 Ein Beispiel hierfür wäre HOME STORIES (R: Matthias Müller, D 1990) von Matthias Müller der Ausschnitte aus klassischen Hollywood-Filmen derart geschickt montiert, dass neue Bedeutungen entstehen. Jedoch kommt auch dieser Film im strengen Sinn ohne erzählte Geschichte aus. Stattdessen lenkt er, wie fasst alle anderen experimentellen Filme auch, die Aufmerksamkeit auf die Gemachtheit der Filme, auf ihre Materialität und Produktionsbedingungen, auf die symbolischen Strukturen, die ihre erzählten Geschichten organisieren – und auch auf die spezifischen Erfahrungsformen, die im Laufe der Filmgeschichte ausgeprägt wurden.
Die letzte These legt nahe, dass Experimentalfilme nicht nur die Ergebnisse der Experimente mit Formen, Farben und Materialien des Films darstellen, sondern eine ebenso große Anzahl an experimentellen Filmen, einem Plan oder einem Konzept folgen, das mit den meist am Spielfilm gebildeten Erfahrungen und Erwartungen der Filmzuschauer rechnet. Wie Tscherkasskys L’ ARRIVÉE erzählen Experimentalfilme meist keine erwartete Geschichte, sondern durchkreuzen bewusst die Sehgewohnheiten und Illusionierungswünsche ihrer Zuschauer. Sie präsentieren Bewegungen, Bilder und Töne, die den Zuschauer bestenfalls dazu auffordern, sowohl ihre Form und Verknüpfungen als auch die eigenen Erwartungen und Rezeptionshaltungen gegenüber Filmen zu erkunden und zu reflektieren.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die experimentellen Filme, ähnlich wie viele Arbeiten der bildenden Kunst, ihre Aufmerksamkeit von der Ebene des Was (des Dargestellten) auf die des Wie (der Darstellung selbst) und deren spannungsreiches Verhältnis verlagern. Das bedeutet nicht, dass Experimentalfilme keine Aussagen tätigen könnten oder dass das Dargestellte selbst irrelevant ist. Das Dargestellte ist jedoch aufgrund des geringen Grades an Narrativität im Vergleich zum Spielfilm schwerer zu beschreiben. Experimentalfilme ‚brechen‘ somit mit den durch den klassischen, narrativen Spielfilm etablierten Konventionen der Film-Erfahrung. Dieser Bruch ist zugleich eine Öffnung und Herausforderung von neuen, genaueren Wahrnehmungen und einem reflexiven denkenden Bezug sowohl auf die Medialität des Films als auch der historisch gewordenen, konventionellen Film-Erfahrung. Das prädestiniert den Einsatz von Experimentalfilme für eine an individuellen Bildungsprozessen interessierte Filmvermittlung.
Ich fasse die mit dem Film entwickelten Gedanken in Thesen zusammen, um sie hinsichtlich des Anschlusses an den Diskurs der Filmvermittlung bzw. Filmbildung zuzuspitzen:
1. Experimentalfilme sind, wie ich am Beispiel von Tscherkasskys L’ ARRIVÉE zu zeigen versucht habe, insofern filmvermittelnd, da sie für die Dauer ihrer Erfahrung bei ihren Zuschauer/innen eine spezifische Aufmerksamkeit für die materielle und medialen Aspekte des Films bilden können. Sie verweisen die Wahrnehmung ihrer Zuschauer auf die Gemachtheit des Films, seine materialen, technischen Bestandteile, sowie auf die ästhetischen Entscheidung der Produktionsprozesse und auch auf deren Medialität wie Historizität der Produktionstechniken des Films, die symbolischen Codes sowohl bestimmter Raumkonstruktionen, aber auch von Handlungsstrukturen wie in den unterschiedlichen Genres, u.v.a.m. Kurz: sie verweisen ihre Zuschauer/innen auf die filmischen Strukturen und Formen, in denen sich die dargestellten und erzählten Inhalte/Geschichten präsentieren.
All die genannten Aspekte sind auch in jedem Spielfilm am Werk, werden aber in unserer gewöhnlichen Wahrnehmung zumeist verstellt durch die Konzentration auf die handlungstragenden Figuren, deren Psychologie und Geschichten, die sie erleben, durchleiden etc. Der für mich entscheidende „Blickwechsel“ der Experimentalfilme besteht darin, dass Materialien und Formen des Films zum Inhalt der Filme werden. Mit anderen Worten: während die Spielfilme immer von uns wollen, dass wir auf die Inhalte schauen auf die der Film zeigt (und gleichsam den Kinematograph als Zeigeapparatur zu vergessen), ‚lehren‘ uns die Experimentalfilme, den Blick leicht zu verschieben, weg von den gezeigten Inhalte hin zur Zeigeapparatur selbst.
2. Die experimentellen Filme haben dabei einen forschenden Gestus. In einem analytischen Sinne wollen sie bestimmte filmische Formen und Mechanismen verstehen und zugleich in einem erweiternden Gestus, neue Möglichkeiten filmischer Darstellung (eben jenseits konventioneller Erzählstrukturen) erschließen. Sie erzählen daher in der Regel nicht, sondern, so meine These, machen etwas wahrnehmbar, sie lassen etwas als etwas in bewegten, meist tönenden Bildern erscheinen, und zwar jenseits narrativer Strukturierungen, jenseits von einer in einer Handlung organisierter Bewegungsbildern. Sie lassen somit die Medialität des Films erscheinen, also das, was Film m.E. als Film auszeichnet. Film ist gerade nicht primär als Medium der Kommunikation, des Geschichtenerzählens zu verstehen, sondern als ein Medium des Wahrnehmbar-machens.22
3. Experimentalfilme werfen Fragen auf – und wie wir mit L`Arrivée gesehen haben nicht nur die nach ihrer Herstellung: „Wie ist das gemacht?“. Sie scheinen mir daher geeignet für eine fragengeleitete Vermittlung von Film sowohl in schulischen und außerschulischen Kontexten. Man kann auch sagen, die Filme legen eine induktive Methode nahe: Von der Begegnung mit einem Film aus werden Fragen entwickelt und festgehalten, die wiederum an diesen Film, dann auch vergleichend an andere Filme gestellt werden können – und darüberhinaus auch an Filmtheorien gerichtet werden können, ob diese Antworten auf die durch den Film aufgeworfenen Fragen haben. So entstehen in der forschenden Suche vom experimentellem Film aus neue Verbindungen zwischen Filmen, ihrer subjektiven Erfahrung und bestehenden Filmtheorien.23
Experimentelle Filme wie Tscherkasskys L’ ARRIVÉE können so helfen einen genaueres Sehen, eine ästhetische Haltung gegenüber Filmen einzuüben, wie sie beispielweise für eine induktive Filmvermittlungspraxis von Nöten ist, die Bettina Henzler in ihrem Text „Stadtbilder“ beschreibt.24
Alle im Text verwendeten Abbildungen sind Screenshots von L` Arrivée von der DVD "Peter Tscherkassky: Films from a dark room", 008 index DVD-edition 2006.
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