Überblendungen von filmischen und schulischen (Wissens-)Ordnungen anhand von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (USA 1930)
Seit seiner Uraufführung im Jahre 1930 ist der Film ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (R: Lewis Milestone, USA 1930) zum Gegenstand und Kristallisationspunkt verschiedenster Debatten und Diskussionen geworden. Ausgehend von nationalen In-Besitz-Nahmen und daraus folgenden Umschnitten, Zensuren und Verboten,1 stellt sich bis heute anhand dieses Films die Genre bestimmende Frage nach der Unterscheidbarkeit von Kriegs- und Antikriegsfilm.2 ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT bleibt einer der wenigen Filme seiner Zeit, die bis heute bei Filmkritikern und Publikum nichts von ihrer Faszination eingebüßt zu haben scheinen.3 Als Literaturverfilmung, Zeitzeugnis und pädagogisches Lehrstück über die Sinnlosigkeit des Krieges findet er vermehrt den Weg in die Schule, in den Deutsch-, Geschichts- und Religionsunterricht.4 Diese verschiedenen Formen der Rezeption, der (Um-)Deutungen und Diskursivierungen lassen sich als Prozesse und Problemstellungen von Vermittlung beschreiben, als Fragen nach historisch und national variierenden Aufladungen und Lesarten, als Fragen nach filmisch vermittelbaren Aussagen und politischen Einschreibungen sowie nach der Vermittlung von moralischen Konflikten, von Wissen über historische Ereignisse und der Vermittlung von „Weltliteratur“ mithilfe filmischer Gestaltungen. Diese unterschiedlichen Beziehungen lassen sich zurückführen auf die grundlegenden Dispositionen von filmischem Text und Zuschauer, anhand derer diese Diskurse immer wieder neu aufgerufen, kontextualisiert und infrage gestellt werden können. ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT denkt in entscheidenden Sequenzen selbst über diese Beziehung nach – und zwar in dem analog zum Kinodispositiv konstruierten Motiv des Klassenzimmers. Die schulische Vermittlungssituation, die an zwei zentralen Wendepunkten der filmischen Narration inszeniert wird, funktioniert hier in besonderer Weise als medialer Reflektionsraum, über den der filmische Illusionsraum und der kinematografische Projektions- und Rezeptionsraum erschlossen und reflektiert werden.
Die räumlich-dispositiven Analogien zwischen Kinosaal und Klassenzimmer sind bereits Ausgangspunkte für medienwissenschaftliche und bildungstheorische Überlegungen geworden. Im Anschluss an Überlegungen zu Kinematograph und Zeigestock5 und zu filmischen Lehr-Performances6 liegt der Fokus der folgenden Betrachtungen in besonderer Weise auf den räumlichen Verortungen, Kompositionen und Bezugnahmen, denen es sich mithilfe filmwissenschaftlicher Perspektivierungen zu nähern gilt. Hierbei werden die verschiedenen Architekturen und Anordnungen auf unterschiedlichen Ebenen in ihren gegenseitigen, wechselnden Beziehungen erfasst. Relevant werden in der Filmanalyse folgende Raumdimensionen (in ihrer Reihung vom Ausstattungsstück bis hin zum Rezeptionsraum): Spezifische Gegenstände der mise-en-scène, wie z.B. der Globus oder die Landkarte verkörpern Vorstellungen von Raum und Territorien. Der „(modal) dargestellte Raum“, in dem diese props positioniert werden, entspricht dem diegetischen Handlungsraum, hier insbesondere dem Klassenzimmer, das in geometrisch-autoritärer Weise strukturiert ist und in spezifischen Relationen zu anderen diegetischen Orten wie der Straße vor der Schule oder der Kaserne steht.7 Einblicke in und Durchgänge zwischen den Räumen werden von spezifischen Vermittlungsinstanzen wie Türen und Fenstern ermöglicht und strukturiert. In Relation zu diesem Raum der mise-en-scène verhält sich nach Joachim Paech der filmisch generierte „(mediale) Bildraum“, der mithilfe von Einstellungsgrößen, Perspektive, Wahl des Bildausschnitts sowie – auf zeitlicher und akustischer Ebene – mithilfe von Einstellungsdauern, Schnittfrequenz und Ton/Musik gestaltet und „eingerichtet“ wird.8 Insbesondere in den Schulszenen inszeniert der Film Übergänge aus diesen filmisch inszenierten Illusionsräumen in den „(dispositiven) Beobachterraum“, dessen Beschaffenheit in den Bildern von Schule und Unterricht aufgerufen und mitgedacht wird.9 Dieser Rezeptionsraum ist in der Tradition der filmischen Aufführungspraxis das Kino, heute jedoch der heimische Fernseher, der Computer oder ein anderes portables Wiedergabegerät – oder aber in der Logik eines Rückverweises das schulische Klassenzimmer selbst, in dem ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT heute vermehrt als Unterrichtsmaterial und -gegenstand Anwendung findet.
Die Beziehungen der genannten Räume stellen sich bei einer ersten Betrachtung in Form einer Reihung oder Staffelung dar: Hinter/vor/neben dem einen eröffnet sich ein weiterer, angrenzender Raum. Joachim Paech formuliert die Frage nach den Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Raumdimensionen als Problem der Vermittlung und konstituiert eine neue Dimension der räumlichen Beziehungen:
Die Frage ist dann, wie man die Ebene der Vermittlung zwischen modalem Erzählen und dessen medialen Bedingungen zum Beispiel für die Frage nach dem erzählten Raum und Raum des Erzählens bestimmen kann. Es ist ein paradoxer Ort, der nie gleichzeitig als das eine und das andere wahrgenommen werden kann, sondern zwischen beiden Ebenen oszilliert.10
Wie Paech andeutet, werden bei genauerer Betrachtung die Räume und die scheinbar trennenden (Lein-)Wände zunehmend durchlässig. Grenzen werden unsicher; die Räume erscheinen in der Relation einer Schachtelung, einer Überblendung, einer gegenseitigen Durchdringung. So verweisen die diegetischen Räume auf außerfilmische Raumbedingungen, deren Wahrnehmungseffekte sie wiederum selbst sind. Die Instanzen der jeweiligen Vermittlungsprozesse (im Klassenzimmer/im Kino) überlagern, bedingen und reflektieren sich wechselseitig. In den Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler im Film wird somit die äquivalent konzipierte Beziehung zwischen filmischem Text und Zuschauer aufgerufen. Die Filmanalyse unter dem Vorzeichen „Schule im Film“ wird somit zu einer Betrachtung des „Kinos als Vermittlungsraum“.
[D]ann, wenn ein Lehrer im Film auftritt und die Vermittlung von Wissen praktiziert […,] überlagern sich unweigerlich die Organisationsformen der Institutionen Kino und Schule: der Lehrer steht den Schülern gegenüber und der Film seinen Zuschauern. Wir haben es folglich beim Lehrer im Film immer mit einer doppelten Lehrperformance zu tun […]. In dieser Verdoppelung wird gleichzeitig die Geschichte der Institution Kino erzählt und gespiegelt – als einer Institution, die Wissen speichert und vermittelt.11
Schule und Kino lassen sich in dieser Logik als gegenseitige Verhandlungs-, Projektions- und Reflektionsräume beschreiben. In den Anordnungen dieser Räume konstituieren sich jeweils spezifische Diskurse von Wissens- und Gesellschaftsordnungen, politischer Macht/pädagogischer Autorität, der Beziehung zwischen Individuum und (nationaler) Gemeinschaft sowie der Vermittelbarkeit/Darstellbarkeit historischer Ereignisse und Erlebnisse.
In diesen Vorüberlegungen nimmt der Begriff der Vermittlung in zahlreichen, entscheidenden Passagen prominente Stellungen ein. Bezeichnend bleibt hierbei, dass er sich nicht nur in unterschiedlichsten Kontexten anbietet und bewährt, sondern dass er in verschiedener Weise Bedeutung entfalten kann, z.B. im Sinne einer Übermittlung/Übertragung von Wissen und Werten, eines Mittels zur Kommunikation (bzw. zur Herstellung einer Verbindung), einer Verhandlung in Konfliktsituationen (Moderation), einer Überwindung von (räumlichen) Grenzen/einer In-Beziehung-Setzung, eines Transfers/einer Übertragung, der Frage nach Darstellbarkeit, einer medialen Formgebung oder Umsetzung. Die Unschärfe ist Vor- und Nachteil zugleich, fordert sie doch vielerorts Begriffsschärfungen und auch forschungsdisziplinäre Zuordnungen. Doch – und hier liegt das Potenzial des Begriffs – Vermittlung fordert diese Kategorisierungen nicht nur, sondern sie fordert diese heraus und kann gerade an einem Punkt der medienpädagogischen und medienwissenschaftlichen Forschung, an dem die Bezeichnung noch nicht umfassend und abschließend eingeführt ist, den Begriff füllen und ihn nutzen zur Sichtbar-Machung von bisher und mit anderem Vokabular nicht greifbarer Deutungskontexte sowie zur Überwindung der Grenzen und Neu-Strukturierung der Relationen zwischen erziehungswissenschaftlicher und medienwissenschaftlicher Forschung. In diesem Sinne beinhaltet der Begriff der Vermittlung einen deutlichen Verweis auf die Erziehungswissenschaft und die hieran anschließende Unterrichtspraxis, ermöglicht aber gerade auch im Aufrufen von Mitte/Mittel und seinem englischen Pendant „mediation“ fruchtbare Anschlüsse an in Medientheorien etablierte Begriffe wie Kommunikation, Moderation, Verhandlung, Agency (Agentenschaft) etc. Hier ließe sich der Begriff der Vermittlung an genau jenem zentralen Punkt anbringen, an dem Theorien zur Entstehung von Bedeutung im Wechselspiel von filmischem Text, Aufführungskontext und Zuchauerrezeption zu entwickeln sind. Diesen Überlegungen folgend bleibt an dieser Stelle eine ab- und ausschließende Definition von Vermittlung zwangsläufig aus. Der Begriff wird sich jedoch anhand der folgenden Analysen unter dem Vorzeichen spezifischer Raumrelationen weiter entwickeln und hier selbst die Möglichkeit beibehalten, unterschiedliche Facetten und Bedeutungen zu entfalten. Somit verweisen – wie zu zeigen sein wird – die Filmszenen auf unterschiedliche Formen und Spielarten pädagogisch-schulischer Vermittlung, die sich im wissenschaftlichen Diskurs ihrer Analyse und ihrer schulischen Vermittlung entsprechend oder auch neu formieren.
ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT wählt den Handlungsort des Klassenzimmers an zwei zentralen Wendepunkten der Handlung: Zu Beginn des Films motiviert der Lehrer im Zuge einer allgemeinen nationalen Kriegsbegeisterung seine Schüler zum Militärdienst. Eine parallel strukturierte Szene findet sich gegen Ende des Films, als der Protagonist Paul Bäumer während eines Fronturlaubs seine ehemalige Schule besucht und im Unterricht desillusioniert von seinen Kriegserfahrungen berichtet. In diesen beiden Szenen bilden und manifestieren sich jeweils die ausschlaggebenden Entscheidungen der Protagonisten und konkretisieren sich die Haltungen zum Krieg. Der dramaturgischen Entwicklung entsprechend formieren sich in diesen beiden Szenen und ihren Inszenierungen entgegen gesetzte Vorstellungen von Krieg und Nation und darüber hinaus unterschiedliche Konzepte von Schule, Film, den Beziehungen zwischen ihren jeweiligen Instanzen (Lehrer-Schüler, Film-Zuschauer) und ihren vermittelnden Strategien und Potenzialen.
Der Film beginnt mit einer Militärparade auf den Straßen einer nicht näher spezifizierten deutschen Stadt. Soldaten ziehen unter dem Jubel zahlreicher Zuschauer und begleitet von euphorischer Marschmusik in den Krieg. Diese Ansicht geht scheinbar übergangslos ohne Schnitt in eine Handlungsszene über. Während die Kamera langsam zurück fährt, wird ein Fensterrahmen erkennbar, der nun die Straßenansicht als Ausblick aus einem ebenerdigen Gebäude erkennbar werden lässt.
Bald wird deutlich, dass es sich bei diesem vorgelagerten Raum um ein Klassenzimmer mit zwei überdimensional großen, geöffneten Fenstern handelt, zwischen denen ein betagter Lehrer vor einer Tafel unterrichtet. Der barrierefreien Überwindung der räumlichen Grenzen entspricht die Tonebene, auf der während dieser Kameraoperation die Marschmusik der Straße ungedämpft fortsetzt wird, ohne die Worte des Lehrers hörbar werden zu lassen. In dieser räumlichen Anordnung offenbart sich bereits das praktizierte Unterrichtsprogramm: Die Aussichten auf die Parade dienen gleichsam als veranschaulichendes Tafel-Bild für die Ausführungen des Lehrers; seine Rede entspricht (inhaltlich und formal) der rhythmischen, mobilisierenden aber auch naiv gleichförmigen Marschmusik. In diesem Raumverhältnis manifestiert sich eine spezifische Idee der Relation von Schule und Nationalstaat: Der militärische Raum öffnet sich in den Schulraum hinein; das Klassenzimmer erscheint als verlängerter Ort national-staatlicher Stimmungen und Aufrufe, als deren Vermittlungsinstanz der Lehrer fungiert. In der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler manifestiert sich die Beziehung zwischen Staat(smacht) und Bürger. Der Lehrer spricht im Interesse des Staates, gleichsam im Namen des politischen Machthabers, dessen Bild in derselben Achse, dem Lehrer übergeordnet, an der Wand über der Tafel hängt. Im Sinne dieser Dopplung formuliert der Lehrer: „But now our country calls. The fatherland needs leaders“. Schule ist hier kein neutraler Raum gleichsam unpolitischen, objektiven Denkens und Wissens, sondern ein Ort, an dem sich gesellschafts-politische Machtintentionen kristallisieren und reproduzieren.12
Der nach einigen Sekunden folgende Schnitt auf eine Nahaufnahme des Lehrers ist mit einem Wechsel der Tonperspektive gekoppelt.
Nun beginnt eine mehrminütige politische Rede des Lehrers, die ohne Fragen oder Andeutungen eines verständnisvollen Dialogs mit den anwesenden Schülern in rhetorisch geschickter Weise die Schüler motiviert, sich zum Militärdienst für das Vaterland zu melden.13 Entsprechend formuliert Hans J. Wulff:
Der Klassenlehrer Kantorek mobilisiert die Jungen mit pathetischen Phrasen über Vaterland und Ehre im Geiste einer nationalistisch untersetzten Vorstellung von Bildung, Reife und Männlichkeit, gibt der kollektiven Kriegsbegeisterung rhetorisches Gesicht.14
Erziehung nimmt hier die Form einer militärisch-politischen Mobilmachung an. Schule wird als staatlicher Machtapparat missbraucht und wird so zu einer nationalistischen Rekrutierungsanstalt. Die hier umgesetzten totalitären Vorstellungen von Wissen und Vermittlung sind bereits in die räumlichen, streng symmetrischen Anordnungen des Klassenzimmers eingeschrieben. Die Autorität des Lehrers wird durch hierarchisch strukturierte, frontale Blickordnungen mit produziert. Diese Konstellationen bieten sich nicht nur in der Architektur des Klassenzimmers, sondern auch in der Konfiguration der filmisch produzierten Blickverhältnisse. Der Zuschauerblick wird häufig in der zentralen Raumachse mit der Figur des Lehrers als Fluchtpunkt positioniert, der mithilfe dieser Anordnungen als Autorität legitimiert wird. In diesen Inszenierungen ist auch das vermittelbare Wissen eindeutig, geordnet und absolut: An der Tafel im Hintergrund finden sich die Eröffnungsverse aus Homers Odyssee in griechischer Sprache, die auf die Autorität von Wort/Schrift im Kontext von Wissen und Vermittlung hinweisen sowie das narrative Motiv der Heldenreise evozieren.15 Nationale Herrschaftsräume scheinen auf den zahlreichen territorialen Darstellungen wie Globus und Landkarte geografisch geordnet und klar absteckbar zu sein. Im selben Sinne bedient sich das filmische Bild geometrischer Ordnungsprinzipien und integriert immer wieder Einstellungen aus der Distanz, die dem Zuschauer Orientierung und Übersicht garantieren.
In derselben Logik, in der sich der Handlungsraum der Soldaten in den schulischen Lehr-Raum erweitert, scheint sich auch der Kinosaal dem streng geometrisch organisierten Schulzimmer übergangslos anzuschließen. Die Beziehung zwischen Festplatz, Klassenzimmer und Kinosaal ist linear und erweitert sich sukzessive entlang einer zentralperspektivischen Achse, die letztlich zum Ursprungsort des filmischen Bildes, dem Kinoprojektor, führt. Jean-Louis Baudry hat in diesem Sinne das Kino als räumliches Dispositiv beschrieben, in dem sich spezifische Machteffekte in der Beziehung zwischen projiziertem Bild und Zuschauer manifestieren können.16 So, wie die dispositive Anordnung des Kinos auf den Projektor und dessen Lichtquelle zu(rück) läuft, bildet die Figur des Lehrers den Fluchtpunkt der Komposition des filmischen Bildes. So, wie die Marschmusik scheinbar dem Munde des Lehrers entstammt, scheint diese Musik als „Filmmusik“ auch die Intention des Films selbst zu untermauern. Die zahlreichen Großaufnahmen des Lehrers Kantorek adressieren hierbei nicht nur die Schüler, sondern mithilfe spezifischer Inszenierungsstrategien auch den Filmzuschauer direkt. Der Film nimmt schließlich den Jubel und die Euphorie in seinem Schnittrhythmus auf: Die zeitlich länger dauernden Einstellungen am Beginn der Sequenz gehen in eben jenem Moment in eine schnelle Schnittfolge über, in dem sich die Jugendlichen zum Militärdienst melden und von ihren Plätzen aufspringen. Im Sinne einer filmischen Mobilmachung scheint es, als würde der Film die in der Schule vertretenen Ideologien ebenso vertreten, als würde sich die Intention des Lehrers mit der des Films decken.
Die sich entspinnende Rede des Lehrers adressiert die Schüler als Masse, die an diesem Punkt der Narration auch dem Filmbetrachter noch nicht als Individuen bekannt sind. Die rhetorisch und architektonisch konstituierte Zuhörerschaft besteht somit in einer weitgehend homogenen Schülergruppe. Die Anordnung der symmetrisch gereihten Sitzbänke lässt ebenso wie die uniformen, gleichsam geometrisch montierten Kameraeinstellungen von gleichförmig frisierten und gekleideten Schülern kaum Raum für Individualitäten. So, wie der Lehrer immer wieder auf einzelne Schüler namentlich eingeht, zeigt auch der Film einzelne Gesichter der adressierten Schüler, die jedoch in die Gruppe eingepasst und gemeinsam zu dieser geformt werden. Das Individuum wird als Teil einer Masse adressiert, welches Kantoreks rhetorischer Logik des „And You“ entspricht.17
Die Gedanken zweier Schüler, die in diesem Prozess in Form von Spielszenen visualisiert werden, zeigen in diesem Sinne exemplarisch für eine Schülermenge verallgemeinerbare Vorstellungen und Bedenken (wie werden die jeweiligen Eltern reagieren; welche Wirkungen hat die Uniform auf Frauen etc.). Die Schilderungen des Lehrers bestimmen sogar den scheinbar individuellen Denk- oder Vorstellungsraum der Schüler. Deren Entscheidung, gemeinsam in den Krieg zu ziehen, wird schließlich auch als filmische Massen-Reaktion inszeniert. Angestoßen durch das Bekenntnis des vom Lehrer als Führer auserkorenen Paul Bäumer, springen die Schüler der Reihe nach mit den Worten „Me Too“ auf, die als direkte Antwort auf die Ansprache Kontoreks zu verstehen sind.Die hier aufgerufenen räumlich bedingten Subjektkonstitutionen stehen in den (Bild-)Traditionen totalitärer Machtregime wie etwa dem Stalinismus oder dem Dritten Reich.18 Die Ästhetik deutscher Propagandafilme der 40er Jahre bedient sich entsprechender Gestaltungsweisen und Kino- und Zuschauerkonzeptionen sowie spezifischer (schulischer) Vermittlungskonzepte.19
Die Szene endet schließlich damit, dass sich die Jugendlichen im ausbrechenden Tumult zu einem Marsch formieren, der mit dem Lehrer als Anführer aus dem Klassenzimmer hinaus auf die Straße führt und in dem jene räumlich-ideologischen Grenzen zwischen kriegseuphorischem Treiben auf der Straße und dem schulischen Lehrraum aufgehoben werden. Der Raum, der sich konsequent anschließt und sich sowohl den Schülern als auch den Zuschauern in der anschließenden Szene bildlich eröffnet, ist die Kaserne, in der die Ausbildung nun explizit militärisch-nationalistisch konnotiert ist.
Jedoch deutet sich bereits in dieser frühen Schulszene an, dass die schulischen Raum- und Machteffekte nicht ganz bruchlos in die kinematografisch-dispositiven übergehen, dass die Stimme, Intention und Wirkrichtung des Lehrers zwar den Handlungsraum Schule, aber nicht in gleicher Weise den Bildraum des Films und den Rezeptionsraum des Kinos bestimmen. So klingt die Rede des Lehrers in Inhalt und Ausdruck doch stark übertrieben. Sein Gesicht erscheint in extremer Nahsicht, die seine geradezu fanatische Gestik und Mimik bloßzustellen scheint.
Kantoreks penibel geordnete Haare werden ebenso wie seine zunehmend schwitzige Haut und das bis zur Fratze verzerrte Gesicht detailgenau erkennbar. Er wirkt in dieser Inszenierung geradezu wie eine diabolische Bedrohung. Durch eine Kameraperspektive, die den Lehrer eben doch nicht frontal einfängt, sondern seitlich leicht verschoben ist, bietet sich eine Ansicht des Lehrers, die paradoxerweise gerade aufgrund der ungewöhnlichen und unangenehmen Nähe Distanz zum Zuschauer schafft und diesem eine kritische räumliche Position ermöglicht. Der filmische Bildraum macht im späteren Verlauf der Sequenz noch einige Male auf sich aufmerksam, u.a. in der Abschluss-Einstellung, in der die Kamera sich nicht gemeinsam mit den Schülern den Weg auf die Straße bahnt, sondern für einige Sekunden im leeren Klassenzimmer verweilt.
In diesen filmischen Bildraum schreiben sich Bedenken, Zweifel und das (historisch bedingte) Wissen ein, dass der Schritt aus dem Schonraum der Schule keine Entwicklung hin zu erwachsenem Heldentum sein wird, sondern, dass die „Lehren“, die der Krieg für die Schüler bereithält, gewaltsam und traumatisierend sein werden.20
Gegen Filmende findet sich eine zweite, äquivalent strukturierte Schulszene. Paul Bäumer, der sich nach Kantoreks Ernennung zum Anführer auch als Protagonist des Films herausgebildet hat, hat zahlreiche Kriegserfahrungen gemacht, die von Entbehrung, Gewalt und Tod geprägt sind. Während seines Fronturlaubs kehrt er – aller Illusionen und jeglichem ‚falschem’ Patriotismus beraubt – in seinen Heimatort zurück. Hier findet er eher zufällig in sein altes Klassenzimmer zurück, in dem vor knapp vier Jahren alles begann.
Wieder beginnt die Sequenz mit einer Einstellung der Straße vor der Schule. Diese ist jetzt jedoch fast menschenleer. Von den ruhmreichen, gefeierten Truppen ist nun ein einsamer, gebrochener Mann geblieben.
Die Idee einer Nation, die in dem Körper einer entindividualisierten Menschenmasse aufgeht, hat sich als Illusion erwiesen. Auch im folgenden Gespräch in der Schulklasse geht es nicht mehr um Nation und Vaterland, sondern um das Schicksal von Individuen, um existenzielle Fragen von Leben und Tod. Während Paul die Straße entlang und an seiner alten Schule vorbei kommt, vernimmt er die Stimme seines ehemaligen Lehrers, die aus dem Klassenzimmer auf die Straße dringt. In dieser Szene wird über den Ton eine Raumbeziehung konstituiert, die der Inszenierung der ersten Schulszene entgegen gesetzt ist. Hier wird nicht die Kriegsbegeisterung auf der Straße im Klassenzimmer aufgefangen; vielmehr treffen die unverändert patriotischen Reden des Lehrers in Form eines Kontrastes auf eine desillusionierte, vereinsamte, gleichsam ausgestorbene Umgebung. Diese Stimmung dringt nun in der Gestalt Paul Bäumers in das Klassenzimmer ein, wo unterschiedliche Einstellungen, Wissens- und Vermittlungskonzepte aufeinander treffen. Der Lehrer bittet Paul, im Sinne seiner eigenen mobilisierenden Rede von glorreichen Fronterfahrungen zu berichten. Paul entlarvt jedoch die Reden des Lehrers als unrealistisch, berichtet von seinen tatsächlichen Kriegserfahrungen und gibt Einblicke in seine desolate seelische Verfassung.
Der Lehrer erscheint in dieser Darstellung nicht mehr als das Zentrum des Wissens und der filmischen Inszenierung. In der ersten Unterrichtssequenz etablierte Autoritäten, Machtverteilungen und Blickstrukturen werden aufgehoben, das machtbesetzte Lehrer-Schüler-Verhältnis wird durch den Protagonisten Bäumer gestört. Bei dessen Begrüßung wirkt Kantorek wesentlich kleiner als sein Gegenüber, im Folgenden wird der Lehrer überwiegend von der Seite gezeigt, während die Kamera den Zuschauerblick auf Pauls Gesicht in der rechten Bildhälfte lenkt.
Die in der ersten Schulszene eingeführten Blickstrukturen werden umgekehrt und aufgebrochen. Es gibt keine machtbesetzte symmetrisch geordnete Struktur mehr, die Seitenansichten der Redner sind verkantet, Paul bricht die frontale Vermittlungssituation zwischen Lehrer und Schüler auf und löst sie wechselnd in einen two-shot (Kantorek und Paul) und eine Halbtotale der Schülergruppe auf; es bilden sich nun drei Achsen zwischen dem Lehrer, Paul und den Schülern. Der animierende Monolog des Lehrers weicht hier einer Gesprächssituation mit dialogischen Ansätzen, innerhalb derer die Instanzen wechselseitig aufeinander reagieren. Die Schüler werden Zeugen eines dialektischen Gesprächs, in dem sich zwei verschiedene Überzeugungen, Erzählformen und Vermittlungsabsichten gegenüber stehen. In diesem Moment sind die Schüler nicht mehr passive Objekte einer Ansprache, denen erwünschte Reaktionen vorgegeben werden; vielmehr wird zusammen mit den politischen Stellungnahmen und einseitigen Deutungen auch das unsicher, was sich vermittelt, was zu lernen und zu denken sei. In diesem ambivalenten Grenzraum werden sie zu selbstständig denkenden Schülern, von denen die Situation fordert, eigenständige Entscheidungen zu treffen und dementsprechend zu handeln. In diesem Sinne sind die Schüler verunsichert und reagieren mit ungläubigen Zwischenrufen und Diskussionen untereinander.
Im Verlauf dieser Sequenz wird auch der filmische Rezeptionsraum als ein eher intimer Gesprächsort erfahrbar, in der nicht das Publikum als Masse, sondern der Betrachter als individueller Entscheidungsträger in die Argumentation integriert wird. Film lässt sich – wie in dieser Szene auch der Schulunterricht – als Ereignis denken, das den Zuschauer als Individuum fordert und ihm eine eigene Stellungnahme ermöglicht und auch abverlangt. Dies funktioniert, wie die Filmszene veranschaulicht, über die Darstellung individueller Schicksale, über Erfahrungsberichte, Emotionalisierungen, über Möglichkeiten der Interaktion, über Vergleiche und dialektisch aufgebaute Diskussionen. Die spezifische Anordnung der schulischen Vermittlungssituation in ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT deutet auf Rezeptionskontexte hin, die nicht an klassische Theorien zum Dispositiv des Kinos gekoppelt sind, sondern die durch variable Arrangements, durch Fernsehen, Computer und andere portable digitale Systeme möglich werden können. Zuschauer sind nicht in gleichförmig ausgerichteten Menschenmassen formiert, sondern rezipieren den Film individuell. Zuschauer sind dem übergroßen Bild im Kino nun nicht ausgeliefert, sondern können auf ihren Monitoren selbst über Blickwinkel, Anfangszeiten, Stop und Play, Lautstärke etc. bestimmen. Was als filmisches Wissen bezeichnet werden kann,21 scheint somit nicht, wie die erste Schulszene in ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT andeutet, absolut und vom Film vorgegeben zu sein, sondern in der medial bedingten Interaktion des Zuschauers mit dem Text immer wieder neu und individuell zu entstehen.22
Das Klassenzimmer und der (kinematografische) Rezeptionsraum sind nun nicht mehr Räume absoluten, unhinterfragten Wissens, des ordnenden Überblicks und einseitiger Macht- und Blickstrukturen. Es finden sich keine autoritär geometrisch kanalisierten Bildkompositionen und kein symmetrisch arrangierter Überblick. Die Gesprächssituation sowie die Weltkarte im Hintergrund werden durch Schattenwürfe des Fensterkreuzes gleichsam „überschattet“ und räumlich verkompliziert; der Text an der Tafel im Hintergrund ist verwischt und hinterlässt eine graue heterogene Struktur, die nun Paul Bäumers Formulierung „I can’t tell you anything“ zu illustrieren scheint und die Auslöschung der Schrift als Ausdruck eines autoritären Diskurses veranschaulicht.
Paul beschreibt weitgehend nüchtern die Umstände an der Front und führt hiermit all jenes auf, was der Zuschauer zuvor bereits im Film gesehen hat. Pauls Unsicherheit und Uneindeutigkeit bezüglich dessen, was, in welcher Form und mit welchem Ziel er erzählen soll, trifft hier mit dem Textprolog zusammen, der zu Beginn des Films dessen Programm aufzeigt: „This story is neither an accusation nor a confession, and least of all an adventure […]. It will try simply to tell of a generation of men who, even though they may have escaped its shells, were destroyed by the war."23 Die Attribute der Nüchternheit, Unsicherheit und Fassungslosigkeit, die Paul in der schulischen Vermittlungssituation erkennen lässt, entsprechen also auch der filmischen Erzählhaltung, den Intentionen der medialen Vermittlung. Pauls Rede und der Film als Ganzes sollen nicht politisches Statement, sondern Bericht sein. Wie sehr in dieser Situation filmische und schulische Vermittlungsdimensionen gekoppelt sind, wird in obiger Einstellung bildlich veranschaulicht. Die Rahmung des Bildraumes entspricht hier der schulischen Vermittlungsinstanz der Tafel, vor der sich die Figuren gleichsam als Projektionen abzeichnen.24
Wie diese Betrachtungen der zwei Schulszenen gezeigt haben, sind Schul- und Kinosituation in ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT wechselseitig aufeinander bezogen. Ihre jeweiligen Räume scheinen über-/ineinander geblendet zu sein; ihre Vermittlungskonzepte durchdringen sich, ergänzen sich oder unterlaufen einander. In besonderer Weise können sich diese Räume jedoch in den Schulszenen und in ihrer Betrachtung wechselseitig reflektieren und infrage stellen. So, wie der Film in der Inszenierung der Schule über sich selbst, seine Vermittlungsprozesse, Zuschauerkonzepte und Aussagemöglichkeiten nachdenkt, wird das Kino zu einem Ort, an dem eine (kritische) Reflektion der Schule möglich wird. Um eine dritte räumliche Dimension erweitert sich nun diese Konstellation in jenem Moment, in dem der Film als Unterrichtsgegenstand seinen Weg (zurück) ins Klassenzimmer findet. An den modalen diegetischen Aktionsraum der Schule und den medialen Rezeptionsraum des Kinos schließt sich nun ein weiterer Vermittlungsraum an, in dem jedoch nicht nur die oben beschriebenen filmischen und kinematografisch-dispositiven Raumdimensionen thematisierbar werden. Vielmehr gilt es hier, anhand der oben entwickelten In-Beziehung-Setzungen die aktuellen schulischen Vermittlungsstrategien selbst zu reflektieren und infrage zu stellen. In diesem Rückbezug offenbart sich das spezifische „mediale“ Potenzial des Films für den Schulunterricht.25 Anhand des Films können die Schule und die hier verorteten Wissensstrukturen und Vermittlungsstrategien selbst denk- und verhandelbar werden.
In diesem Sinne gilt es, abschließend zusammenzutragen, in welcher Weise sich Konzepte und Konstruktionen von Wissen, Vermittlung und ihren räumlichen Anordnungen und Verhältnissen, die mithilfe der Filmanalysen erfahrbar werden konnten, im Hinblick auf konkrete schulische Vermittlungssituationen – ihre Inhalte und Methoden – produktiv beziehen lassen. Wie können die verschiedenen Denkräume und Bedeutungsdimensionen eröffnet und vermittelt werden, wenn nun nicht mehr in erster Linie spezifische Gegenstände schulischer Wissenstraditionen (wie z.B. ein Roman, ein historisches Ereignis, ein moralischer Konflikt) zum Objekt von Vermittlung werden, sondern vielmehr die Prozesse medialer und schulischer Vermittlungen selbst und, daran gekoppelt, die Unsicherheiten und Grenzen traditioneller, räumlich bedingter Wissensordnungen?
In bzw. anhand von diesen filmischen Anordnungen hat sich in vielerlei Hinsicht die Frage nach den Modi der Vermittlung gestellt. Film als Medium bietet hier ganz andere Potenziale als beispielsweise das Geschichtsbuch und besitzt die Möglichkeit, Zweifel und Grenzen (schulischen) Wissens in spezifischer Weise zu thematisieren und zu vermitteln, hierbei über Schilderungen und Erklärungen von politischen Zusammenhängen hinauszugehen, eine Ahnung von der Komplexität umfassender Fragestellungen (z.B. wie erklärt man Krieg?) zu vermitteln und bewusst assoziativ, bruchstückhaft und vielperspektivisch Reaktions- und Positionierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Filmisch generiertes und vermitteltes Wissen unterscheidet sich somit von jenem, welches mithilfe des klassischen Geschichtsbuchs entstehen und vermittelt werden kann. Hieran schließen sich Überlegungen der Historiografie an, die narrative Strukturen in scheinbar objektiven Geschichtsschreibungen nachweist und einen unverstellten Zugriff auf Vergangenheit und Wirklichkeit infrage stellt.26 Dies sind Fragen, die sich besonders effektiv an den Film ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT stellen lassen, an seine Geschichtsinszenierung und an die Modi der Literaturverfilmung, Fragen, die in filmtheoretischen Schriften diskutiert werden und die sich im Anschluss an diesen Film auch als Gegenstände von Vermittlungssituationen anbieten.
Wie die Analyse exemplarisch gezeigt hat, sind filmische und schulische Vermittlung nicht auf ihre Inhalte reduzierbar, vielmehr sind die Bedingungen und medialen Formen ihrer Vermittlung selbst wesentliche Bestandteile der zustande kommenden Bedeutung. Film kann nicht ohne das Bild oder seinen Aufführungsort (traditionell das Kino) denkbar werden; äquivalent hierzu bestimmt der Ort der Vermittlung jenes Wissen, welches im Raum der Schule oder Universität möglich wird.27 Dies lässt sich im Anschluss an die Filmszenen insbesondere auf die räumlichen Arrangements beziehen. Das vermittelte Wissen steht in einem bestimmten Verhältnis zu den (Macht-)Strukturen, die sich über die räumlichen (An-)Ordnungen und Positionierungen vermitteln. In diesem Sinne können der Fernseher und der Computer andere Rezeptionsdimensionen und Prozesse der Wissensproduktion ermöglichen als die Rezeption im Kino. In selber Weise verbinden sich jeweils spezifische Implikationen mit dem „klassischen“ Frontalunterricht oder aber mit einem individualisierten Lehrgespräch, das durch den Einsatz von Medien im Schulunterricht neu gestaltet werden kann.28
Bei der hier durchgeführten Form der Filmanalyse liegt der Fokus in besonderer Weise auf den medienreflexiven Tendenzen der filmischen Inszenierungen. Nicht nur was gesagt und vermittelt wird, ist Gegenstand von Filmanalyse und Schulunterricht. Diese Reflexivität bezieht sich sowohl auf die rhetorischen Modulierungen der Sprache als auch auf die szenischen und film-technischen Gestaltungsmodi, mithilfe derer Lehrer und Schüler in Beziehung gesetzt werden. Diese gilt es, sowohl anhand der filmischen Inszenierungen zu beschreiben, als auch in den jeweiligen Vermittlungssituationen zu reflektieren und zu thematisieren.29 Im Film bietet sich in diesem Sinne für Paul Bäumer die Möglichkeit, das erlernte Wissen im Kontext des Alltags zu erproben und anschließend infrage zu stellen: „We used to think you knew. The first bombardement taught us better”. Letztlich zeigt sich anhand der detaillierten Filmanalysen, dass Medientexte nicht auf eine Aussage und schulische Vermittlungssituationen nicht auf jenes vermittelte Wissen reduziert werden können. Vielmehr gilt es, den komplexen Situationen und Mechanismen der Vermittlungsprozesse Rechnung zu tragen, die neben Wissen auch durch andere Faktoren wie etwa soziale Beziehungen, Emotionen, politisch-moralische Überzeugungen und Körpererfahrungen bestimmt sind. Hierbei gilt es, bestimmte Modi der Adressierung zu reflektieren, die eine Menschengruppe oder aber den Schüler/Zuschauer als Individuum ansprechen. Im Vermittlungsprozess werden somit unterschiedliche Lesarten und Erkenntnisse möglich, die es zu identifizieren und im Hinblick auf die selbständige Entwicklung individueller Einstellungen und Entscheidungen zu fördern gilt.
Wie deutlich geworden ist, haben sich in diesen Betrachtungen von medialen Raum-, und Wissensbeziehungen jeweils unterschiedliche Facetten des Begriffs Vermittlung entfaltet. In der Eingangsszene des Films wird Vermittlung im Kontext traditioneller Wissens- und Wertevermittlung sinnhaft, deren Prozesse durch autoritäre Wissens- und Machtunterschiede bestimmt sind. Objekte und Ziele der Vermittlung bleiben klar definiert; der Vermittlungsprozess zielt auf die bewusste und gesteuerte Produktion eines Gemeinschaftskörpers ab. Anhand der abschließenden Filmsequenz bieten sich anders gelagerte Aufladungen des Begriffs Vermittlung. Dieser zielt hier auf ein bewusstes „Dazwischen“ ab, auf Prozesse des Austauschs zwischen Film/Lehrer und Zuschauer/Schüler, der Herstellung von Übergängen und Verhandlungen, der Artikulation, der Bildung von individuellen Perspektiven, der Grenzmarkierungen und -aufhebungen sowie der Sichtbar-Machung von gesellschafts-politischen und medialen Ordnungen. In diesem Sinne sollte auch schulische Filmvermittlung nicht nur auf das Lehren von filmrelevanten Inhalten ausgerichtet sein, sondern auch und gerade anhand des Begriffs der Vermittlung seine eigene Funktion als Verhandlungsort von gesellschaftlichen Bedeutungen und räumlich manifestierten Machtrelationen bewusst machen und nutzen.
In den Filmanalysen zweier Schlüsselszenen aus ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT haben sich spezifische Vermittlungskonzepte herausgebildet, innerhalb derer filmische und schulische Wissens- und Erfahrungsräume nicht geordnet, fixiert und geschlossen werden, sondern innerhalb derer über Filmbetrachtungen und durch die Analyse ihrer Raumkonzepte reflexive Denkräume als Möglichkeitsräume eröffnet werden können, in denen sich Individuen einrichten, positionieren und entwickeln. Medien (Film/Kino, Fernseher, Computer) und Schule sind gleichermaßen und in den gegenseitigen Überblendungen und Durchdringungen Austragungsorte dieser Prozesse.
Alle hier verwendeten Bilder sind Screenshots von der deutschen DVD des Films IM WESTEN NICHTS NEUES (1930). Die Bildrechte liegen bei Universal Pictures Germany.
Für Literaturhinweise danke ich Martin Schlesinger und Maxi Braun, für gewissenhafte Lektorate Solveig Ottmann und Veronique Sina.
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