Version 1.0 eines Kompendiums
Version 1.0 eines Kompendiums, in dem einzelne Begriffe zu James Camerons TITANIC (T97, USA 1997, James Cameron) und ferner zu drei weiteren Titanic-Katastrophenfilmen, A NIGHT TO REMEMBER/DIE LETZTE NACHT DER TITANIC (T58, GB 1958, Roy Baker), TITANIC/DER UNTERGANG DER TITANIC (T53, USA 1953, Jean Negulesco) und TITANIC (T43, D 1943, Herbert Selpin u. Werner Klingler) ausgearbeitet werden. Das Korpus an Texten wird periodisch erweitert und aktualisiert.
Bauen und Rendern: Von den zahlreichen Ankündigungen und Making-Ofs zu T97 ist zu erfahren, dass mindestens zwei Kopien der Titanic notwendig waren, um dieselbe filmen zu können – eine am mexikanischen Studiogelände nahezu im Originalmaßstab errichtete und eine in der Rendering-Farm errechnete. Gemahnen die ‘production values‘ des Nachbaus noch an den monumentalistischen Gestus von Historienfilmen von INTOLERANCE über BEN HUR bis hin zum Auschwitz-Nachbau in SCHINDLER’S LIST, also an die analogen Dispositionen des Kinobildes, so könnte man nun vermuten, dass der Rechenmuskel die Materialschlacht eigentlich abgelöst haben sollte. Doch T97 ist kein Science Fiction Film, dem es nun – nach dem Zeitalter von Latex und ‘special make-up‘ – um die computergestützte Sichtbarkeit neuer oder veränderter Lebensformen ginge. Im Gegenteil: Analoge Abbildung und digital generiertes Bild ähneln einander bis zur Ununterscheidbarkeit, und sehr bald denunziert T97 das ‘Siliziumregime‘ (Deleuze), wenn der alten Rose von den Schatzjägern (eine Mischung aus Abenteurern und Nerds) eine Computersimulation des Untergangs der Titanic vorgespielt wird und diese darauf anmerkt, dass die persönliche Erfahrung „ein bisschen anders“ gewesen sei. Die vom Anführer des Teams daraufhin vorgetragene, für T97 programmatische Bitte, „an dieser Erfahrung teilhaben zu dürfen“, verheißt proairetisch, dass wir eben diesen Untergang just nicht nur sehen, sondern erleben werden können – besser, hochauflösend gerendert und von Menschenmassen bevölkert, gemäß Camerons Projekt des Spezialeffekts mit menschlichem Antlitz. Was ‘fehlt‘ dieser Computersimulation im Kontext von T97? Die emphatische Gewissheit des gelebten Körpers, der in Roses Erfahrungsschatz akkumuliert und aufgehoben ist.
Die Simulation des Untergangs am Bildschirm vermag nur den faktischen, technischen Hergang der Katastrophe zu zeigen (das Ausheben des Hecks, den Rumpfbruch, das Aufschlagen auf den Meeresboden) – ein Modell, das sich aus den Resten, den Fundstücken, den Wrackteilen synthetisieren läßt: Es gilt dem nackten historischen Faktum, dass nämlich (und in technischer Hinsicht: wie) die Titanic untergegangen ist. Was nicht sichtbar ist: das Ereignis unter den Bedingungen einer kollektiven Vergangenheit, die Mikrosozietäten der Passagiere, das Schiff als bewohnbarer Raum. Das entkörperlichte computergerenderte Bild gehört niemandem. Es ist eine schlechte, seelenlose Kopie. Cameron will uns hingegen das lebende Original zurückgeben: die materielle Schwere des Metalls, die lebendigen und atmenden Körper, die Vitalität der Jugendlichen und das müde Fleisch der dekadenten Bourgeoisie.
Freilich bringt die Trennung in analoge und elektronische Bildtypen unter den Bedingungen des Sichtbarkeitsdiskurses von T97 nicht viel. Man kann sich zwar den Spaß machen, die computergenerierten Bilder im Film zu suchen (und manchmal zeigen sie sich auch ganz offensichtlich), doch im Grunde steht das elektronische Bild ganz im Dienst des Kinematografen. Die oben erwähnte Szene lässt sich daher unschwer als Ethik-Lektion in Sachen rechtmäßiger Gebrauch von digitaler Bildsynthese verstehen. Erst wenn die Rechenleistung im Dienste der Erschaffung eines anthropomorphen und die Erfahrung bewahrenden Bildtypus steht, ist ihr Gebrauch für’s Kino legitim.
In diesem Sinne agiert das elektronische Bild lediglich als Geburtshelfer für das analoge, illusionistische Abbild. Es will nicht anders sein, sondern bescheidet sich darauf, dem Analogon immer ähnlicher zu werden. Seine strategische Funktion ist die des „verschwindenden Vermittlers“. Slavoj Zizek ordnet Jack diese Rolle zu: Er, der Bildermacher, muss letztlich verworfen werden, um das narzisstische Selbstbild von Rose, ihre Identifikation und ihre Befreiung aus den einengenden Klassen- und Geschlechterschranken, zu inszenieren und zu komplettieren. (Zizek 1998, 84) Unschwer lässt sich dieses Verhältnis auf die idealistische Konzeption von Camerons Kino übertragen. Die Rose namens Kino ist in die Jahre gekommen und Cameron, der Bildermacher, haucht ihr neues Leben ein, indem er das digitale Bild in das Kino re-investiert, um dieses ein Stückchen näher zu sich selbst kommen zu lassen.
„Der Leitmythos, von dem die Erfindung des Kinos inspiriert war, ist die Vollendung dessen, was all jene Techniken der mechanischen Realitäts-Reproduktion im 19. Jahrhundert, von der Fotografie bis zum Phonografen, mehr oder weniger vage dominiert hat: ein integraler Realismus, eine Neuerschaffung der Welt in ihrem eigenen Bild – ein von der Freiheit der Interpretation seitens des Künstlers und der Unumkehrbarkeit der Zeit unbelastetes Bild. ... Wenn die Ursprünge einer Kunst etwas über ihre Natur zu enthüllen vermögen, dann kann man den Stumm- und den Tonfilm als technische Entwicklungsstufen annehmen, die den ursprünglichen Mythos Schritt für Schritt real werden ließen. Erst von diesem Gesichtspunkt aus zeigt sich, dass es absurd wäre, den Stummfilm als erstmalige Perfektionierung zu erachten, die dann vom Realismus des Tons und der Farbe graduell wieder aufgegeben wurde. ... Jede neue Entwicklung für das Kino muss es paradoxerweise näher an seine Ursprünge heranbringen. Kurz: Das Kino ist noch nicht erfunden!“ (Bazin 1946).
Erste Einstellung: die Titanic in grobkörnigem, sepiagetöntem Schwarzweiß. Zweite Einstellung: ein kurbelnder Kameramann, der das Auslaufen des Schiffes filmt.
Jetzt ist die Titanic versunken, schlichtweg dem Blick entzogen, nicht sichtbar. Doch das Kino und den Film gibt es immer noch. Der Film bewahrt und lässt das Schiff als bewegtes Bild wieder auftauchen. Die Diskursbewegung von T97 kann als Einlösung dieses zu Beginn gegebenen Versprechens verstanden werden: dass wir Bilder haben werden, die fortbestehen. Im Rahmen von André Bazins ontogenetischer, teleologischer Bestimmung des Kinos – dem Realismus – erscheint T97 als weiterer Schritt in die ‘richtige Richtung‘, als weitere Entwicklung des Kinos hin zu sich selbst.
Was in T97 gefeiert wird, ist das Vermögen des Kinos, das Erstarrte, Versunkene, Unsichtbare dem Vergessen zu entreißen. Einige Beispiele: Was von der Titanic im elektronischen Auge des Kameraroboters sichtbar wird, sind zunächst starre Abdrücke, indexikalische Spuren einer lebendigen, vergangenen Existenz: ein hohläugiger Puppenkopf, ein Stiefel, eine Brille, das Wrack selbst als ausrangierter, anorganischer Rest. Gerade in ihrem unheimlichen, insistierenden Vorhandensein unter der Wasseroberfläche mumifizieren diese Relikte zunächst eine Präsenz, die vergangen, verschüttet und nicht mehr zu haben ist. Doch relativ umstandslos kommt Leben in die Phantomwelt.
Bekanntlich geben sich Geister am häufigsten durch akustische Signale zu erkennen; man kann sie besser hören als sehen. Die erste Kamerafahrt über den düsteren Rumpf des Wracks wird leise begleitet vom akusmatischen Geschrei der Passagiere, der Kristallluster klimpert, und das Klavier im Salon gibt verhaltene Töne von sich. Wir hören die Emanationen einer Präsenz, die überlebt hat, aber noch nicht sichtbar, fixierbar geworden ist und die im Akustischen rumort.
Die kinematographische Operation, den Überbleibseln neues Leben einzuhauchen, wird am deutlichsten im Morphing vom Wrack auf das ganze, integrale, nun in Bewegung versetzte Schiff. Fehlt den Relikten – der Fotosammlung, die Rose immer bei sich trägt, Jacks Zeichnung von Rose, die sich im Safe erhalten hat – noch die Dynamis (sie sind in ihrem hartnäckigen Vorhandensein ja bloßes Indexzeichen des Vergangenen), so morpht der Film in ein bewegtes, präsentisches Bild des Schiffes, von Jack und Rose und von ihrer gemeinsamen, nicht minder bewegten gelebten Vergangenheit während der Katastrophe: das Werden eines Liebespaars auf einem sinkenden Luxusdampfer. Ein Prozess, den weder Roses Fotos noch Jacks Zeichnungen abbilden können. Einmal meint Rose, dass sie nicht einmal ein Bild von Jack besitze. Es wird erst in der Macht des Kinobildes liegen, uns ein Bild von Jack – so wie er wirklich ist – zu geben.
„Die essentiellen Saltze von Thieren können dergestalt präpariret und conserviret werden, dass ein gewitzter Mann die gantze Arche Noah in seiner eigenen Studir-Stube zu haben und die vollkommne Gestalt eines Thieres nach Belieben aus der Asche desselbigen zu erwecken vermag; und vermittelst derselbigen Methode vermag ein Philosoph, ohne jede verbrecherische Necromantie, die Gestalt eines jeden todten Ahnen aus dem Staube zu erwecken, zu welchem sein Cörper zerfallen ist.“ (Borellus).
Das Kino ist voll von Gestalten, die wieder lebendig werden, von Vampiren, Untoten, Zombies etc. Für Noël Burch steht das Kino als Kulturtechnik in der Tradition des Frankensteinschen Traums im 19. Jahrhundert: die Neuerschaffung des Lebens, der symbolische Triumph über den Tod (Burch 1990). Thomas Elsaesser spricht von der „untoten Natur“ des Kinos, das uns Vergangenes mit jedem Film als instant Präsentes zurückgibt und damit dessen symbolischen Tod leugnet (Elsaesser 1998). Und bereits für André Bazin ist das Kino nichts anderes als die Konservierung und Mumifizierung der Zeit (Bazin 1945). Das Kino scheint seine Existenzberechtigung und Wirkungsmacht also genau in jenem Zeitabschnitt zu haben, der zwischen dem realen, physischen Tod und dessen symbolischer Anerkennung liegt. So gesehen wird das Kino nie mit etwas fertig und steht unter dem Fluch der Mumie. Die Zombies und Wiedergänger, die das Kino seit dem Zusammenbruch des klassischen Aktionsbildes bevölkern, bezeugen, dass, wenn schon nicht der lebendige Körper, dann wenigstens seine leblose Hülle im Automatismus des Bewegungsbildes überleben und stur weiterlaufen kann (Deleuze 1983, 282).
Doch T97 verspricht mehr als das bloße Weiterlaufen. The Mummy, im klassischen Kino (in der Verfilmung mit Boris Karloff von 1932) noch ein runzeliges, abbröckelndes Wrack, ist nun ein erotomanischer Feschak (The Mummy, 1999). Graf Dracula besiegt seine ewige Melancholie in Coppolas BRAM STOKER'S DRACULA, und T97 überwindet die traumatische Kränkung, die wir (die westliche Welt im industriellen Zeitalter) durch den realen Untergang der Titanic kollektivhistorisch erfahren haben (und für die das Wrack am Meeresgrund symptomatisch steht), indem er das Schiff mit prallem Leben füllt. Eigenartig: Abgesehen von Rose sind die wirklich Lebendigen in T97 vorwiegend unter den Toten zu finden, also unter denjenigen, die an Bord geblieben und ertrunken oder erfroren sind; wohingegen die Überlebenden der Katastrophe, die letzten Vertreter der alten Etikette, immer schon steife Zombies oder zugeschminkte Lackaffen waren. Der Gründungsmythos von Jugendlichkeit, den T97 so emphatisch installiert, verläuft parallel zur triumphalen Gewissheit, dass das Kino das Ver- und Untergegangene, das Tote, nicht bloß präsent hält, sondern es aus der Asche just zu reanimieren, zu re-präsentieren, sprich: in eine gelebte Erfahrung zu verwandeln vermag. Folglich ist es kein Wunder, dass die Abschlussbewegung des Films – die uns mit Rose in das Schiff auf dem Meeresgrund zurückführt, um dort die allzu lebendigen Toten vorzufinden – im Weiß der Leinwand und das großangelegte Reanimationsprojekt im himmlischen Licht des Projektionsstrahls endet.
Camerons Film ist kein aus Leichenteilen zusammengeschusterter tollpatschiger Automat wie Frankensteins Monstrum, sondern ein aus Resten geklontes und gerendertes, prachtvolles Schmuckstück in high definition. In der Konvergenz von digitalem und analogem Bild erfährt das Kino seine nochmalige Epiphanie als ganzes, schönes Objekt und kompensiert den Verlust und die Kränkungen der Zeit und des Alterns, die noch in den starren Abdrücken, den Fotos, Gemälden und Zeichnungen wohnen. Durch die Reanimation des Vergangenen forciert Cameron die wiedergewonnene ewige Jugend des Kinos.
Hier zeigt sich der ganze Konservativismus dieses Unternehmens. T97 reanimiert einen klassischen Kinobildtypus, der zwar schon längst totgeglaubt war, dessen nachhaltige Wiederkehr und dessen Nichtverschwindenwollen aber stets suggerieren, dass er noch jung und verbesserungswürdig sei. Die Mumie hat sich herausgeputzt.
Eine Wiederbelebung verdankt sich häufig einer intensiven Beatmung zur Wiederherstellung der Atmungsfunktion. In solchen Fällen kommt der Atemtätigkeit des zu reanimierenden Körpers – einem Vorgang, der ansonsten automatisiert und unbemerkt abläuft – größte Aufmerksamkeit zu: Das Atmen wird zum Anzeichen dafür, dass der Mensch lebt. Dies gilt für die Unfallmedizin ebenso wie für Gebrauchspoesie und Common Sense, die den Atem emphatisch als Ausdruck sinnlicher Selbstgewissheit und Beseeltheit, also von zutiefst menschlicher Lebendigkeit verstehen (‘endlich einmal richtig durchatmen und sich selber spüren können‘, Hyperventilationstechniken zur Selbsterfahrung, etc.). Entgegen dieser verbreiteten Ein- und Wertschätzung machen Genre-Spielfilme vorwiegend dann auf das Atmen (zumal auf dessen Hörbarkeit) aufmerksam, wenn der menschlich-beseelte Status des solchermaßen indizierten Lebendigen prekär ist. Man denke an das monotone Atemgeräusch zu Steadicam-Fahrten aus der Perspektive von Michael Myers (in den Halloween-Filmen) und anderen psychotisch automatisierten Slasher-Figuren oder an das Atmen der Astronauten in 2001: A Space Odyssee und in Alien, deren Menschlichkeit von ihrer cyborghaften Reproduktion qua umfassende Ankoppelung an lebenserhaltende und denkende Maschinen in Frage gestellt wird; die Fusion dieser Aspekte einer nicht-menschlichen Atmung – Dämonologie des Bösen bzw. technologisierter Vollzug – begegnet uns im prominentesten Keuchen der Filmgeschichte, das in der mittlerweile mittleren Teil Star Wars-Trilogie aus der Stahlmaske von Darth Vader hervordringt.
Demgegenüber erfährt das ostentative Atmen bei Cameron eine von vulgärphänomenologischem Common Sense inspirierte (Re-)Humanisierung: Ich atme, also bin ich – nämlich ganz Mensch. In The Abyss (1989) verweist die Atmung dramatisch auf die Selbstwahrnehmung expressiv sich bekundender Seelenzustände (das subjektivierte Hören des eigenen Atemgeräuschs durch einen verängstigten Taucher) und indiziert pathetisch die Wiedergewinnung von Lebensenergie (die Beatmung und Wiederbelebung der Heldin nach ihrem zeitweiligen Atem- und Herzstillstand). Szenen, die vom heftig durchlebten Übergang zwischen Luft- und Flüssigkeitsatmung handeln, gestalten sich metaphorisch als Momente des Rebirthing im Sinne einer wiedererlangten Ursprünglichkeit des nackten Mensch-Seins.
Unter Wasser kann der Mensch nicht atmen. Die sinnliche Intensität dieses physiologischen und existenziellen Faktums drängt sich uns auch in der zweiten Halbzeit von T97 auf. Zuvor jedoch wird körperliche und seelische Atemnot als Funktion der bedrückenden Atmosphäre einengender Geschlechter- und Familienverhältnisse inszeniert: Die Szene, in der Rose von ihrer Mutter in ein Korsett geschnürt und dabei in weiblicher Schicksalsergebenheit unterwiesen wird, zählt zu jenen brachial-illustrativen Momenten wasserdichter wechselseitiger Abbildung von Psychologie und Leiblichkeit, anhand deren Claus Philipp in seiner T97-Rezension (Philipp 1998) über Cameron als „Gestalter atmender Charaktere“ und über dessen „Mut, Atemzüge noch wahrnehmbar werden zu lassen“ schwärmt. Tatsächlich führt T97 einen dicht vernetzten, weniger metaphorischen als auf die Plastizität des Schauspiels und der Inszenierung gestützten, mithin sinnlich sich vom Bild aus übertragenden Diskurs, der rund um Motive des Atmens bzw. der Atemnot ein Bild leiblich-seelischer Integrität im Vollzug expressiver Selbstvergegenwärtigung beschwört.
Auch Roses durch Jack vermittelte Wiedergeburt als gereifte, emanzipierte Frau gestaltet sich im Sinne von Rebirthing, von Urschrei-Therapie und Wiederauftauchen an die Luft: Im zunehmend heftigen Schlagabtausch der Sätze zwischen Rose und ihrem Verlobten Cal erheben sich die Verstöße der Frau (gegen Etiquette, Schweigegebote und Zensur) von der Rhetorik des Ihre-Meinung-Sagens zum Sich-Luft-Machen als kathartischen Befreiungsakt. Die Emphase der Unmittelbarkeit verbindet die Romantisierung oraler Kommunikation mit der Metaphysik der Rede als Odem und kulminiert in deren skandalöser Materialisierung als Schlatz: Bei ihrer Trennung von Cal bekundet Rose ihre Verachtung, indem sie ihn anspuckt – in Ausübung ihrer zwei Tage zuvor durch Jacks Spuckunterricht erworbenen Fähigkeiten.1
Roses Wiederbelebung, ihre (wieder)gewonnene Freiheit und Vitalität, substantiiert sich im Ausspucken als expressiver Sonderform des atmenden Redens. T97 zelebriert die Problemlosigkeit der Übersetzung, Abbildung und Objektivierung des Geistigen im Physischen, beharrt darauf, dass sich eine Seele im Sinne restloser Selbstbestätigung in der Materie ausdrückt, im Rahmen von Camerons Ästhetik, der grundsätzlich alles realistisch darstellbar ist. Alles lässt sich zeigen, sicht- und hörbar machen – sei es unter immensem Kapitalaufwand und Materialverschleiß, sei es dadurch, dass die Charaktere atmen und ihre Atemzüge wahrnehmbar werden. Sichtbar wird das Atmen nicht zuletzt unter Einwirkung von extremer Wärme oder Kälte: Es intensiviert sich und schlägt sich als Dampf nieder, oder es gefriert zum Hauch und stockt. Nicht nur das Versinken im Wasser droht den Diskurs der Liebenden zum Verstummen zu bringen, sondern auch gegen die Kälte muss sich ihr zunehmend zum weißen Hauchen gefrierender und stotternder Redefluss behaupten; bis gegen Ende von T97 die halberfroren auf dem Floß liegende Rose ihre Stimme neuerlich verloren hat und sich bei den Insassen des zurückgekehrten Rettungsboots kein Gehör verschaffen kann: Der quälende Suspense mit den ahnungslos davonrudernden Rettern löst sich in dem Moment, als sie sich ein letztesmal expressiv Luft macht und mit Nachdruck ihre Existenz bekundet, indem sie in die Pfeife eines erfrorenen Matrosen bläst.
T97 betreibt eine groß angelegte, mitunter nahezu fetischistische Semiotik des Menschlichen. Der Film heftet sich an Dinge, die mit Nachdruck auf Menschen verweisen – sowohl an Spuren, die Menschen hinterlassen haben, Rückstände, die zeichenhaft ihre vergangene Präsenz bezeugen, als auch an Anzeichen für die beschworene Gegenwärtigkeit dessen, was an Menschlichem im Menschen ist. In beiden Fällen geht es, gemäß der Peirceschen Terminologie, um Index-Zeichen; die Spuren des Vergangenen fungieren als Abdruck, die Anzeichen des Gegenwärtigen als Ausdruck. Die Verbreitung und Vernetzung von Indices erreicht eine besonders hohe Dichte in jener Sequenz, in der die Titanic mit dem Eisberg kollidiert.
Jack und Rose ziehen sich im Laderaum in ein Auto zurück.
Zwei Matrosen halten im Krähennest Ausschau nach Eisbergen; sie zittern vor Kälte, atmen kalten Hauch aus, und einer von ihnen (der allerdings hörbar verschnupft ist), behauptet, er könne Eis riechen, wenn er nah genug dran wäre.
An Deck: Zwei Offiziere lassen uns wissen, dass keine Ferngläser für den Ausguck an Bord sind.
Im Laderaum: das Auto von außen gesehen; Roses Hand presst sich von innen an die dampfbeschlagene Fensterscheibe und hinterlässt einen Abdruck darauf; Rose und Jack haben im Fond des Wagens gerade zum ersten Mal Sex gehabt; sie sind nackt, schwitzen, keuchen, umarmen und küssen einander.
Zwei Stewards suchen im Laderaum nach Jack und Rose.
Roses Verlobter Cal und sein Leibwächter vor dem Kabinentresor; Cal findet darin die von Jack angefertigte Aktskizze von Rose und deren handschriftliche Mitteilung "Darling now you can keep us both locked in your safe. Rose"
Die beiden Stewards entdecken Roses Handabdruck auf dem Fenster des bereits verlassenen Autos.
An Deck: Ein Offizier reibt sich die frierenden Hände und schaut hinunter auf Jack und Rose.
Rose gibt Jack ein, wie sie sagt, „verrücktes“ Liebesversprechen; sie küssen einander.
Der frierende, ebenfalls verschnupfte Offizier wendet sich lachend ab.
Die Matrosen im Krähennest schauen auf die Liebenden hinunter, scherzen und feixen über den Kuss: „Denen ist ein bisschen wärmer als uns.“ – „Also, wenn das die einzige Möglichkeit ist, damit uns hier oben auch ein bisschen wärmer wird, dann verzicht ich lieber drauf!“ Händereiben, Schnupfen, gefrierender Atem, dann der vor Entsetzen erstarrte Blick des einen Matrosen der Eisberg unmittelbar voraus.
Der Matrose läutet Alarm, telefoniert an die Brücke und ärgert sich über das Warten auf die Sprechverbindung: „Hebt endlich ab, ihr Bastarde!“
In vager Anlehnung an altehrwürdige Verfahrensweisen der syntaktischen und semantischen Filmanalyse lässt sich die Sequenz als Wechselspiel von wiederholenden und differenzierenden Prozessen, von Analogien und Oppositionen, beschreiben. Zunächst einmal als eine Serie von Paaren: Mit Ausnahme des verschnupften Offiziers treten alle Figuren in dieser Sequenz paarweise auf – zwei Offiziere, zwei Matrosen, zwei Stewards, Cal und sein Leibwächter, sowie das zentrale und einzige verschiedengeschlechtliche Paar Jack und Rose. Deren erste intime Berührung erfolgt – durch eine mehr offenkundige denn metaphorische Verweisbeziehung – in vorwegnehmender Analogie und Verdopplung zur Berührung zwischen der Titanic und dem Eisberg: zwei entscheidende Kollisionen, irreversible Wendungen (Katastrophen), die entlang der bei Cameron besonders gern und deutlich forcierten Opposition von Wärme und Kälte, anheimelnden Gelbtönen und nächtlich-schwärzlichem Stahlblau, differenziert sind. In die Dopplung dieser Berührungen (die im erzählerischen Zentrum und in der zeitlichen Mitte des Films liegen) ist über die scherzhafte Bemerkung des Matrosen im Krähennest die Andeutung einer homoerotischen Berührung eingeschoben, die der Sichtung des Eisbergs unmittelbar vorangeht. Im textuellen Gefüge von T97 als Liebesfilm ist die Paarbildung von Jack und Rose (dem ‘aufgetauten Eisberg‘) die notwendige, die Liebe der Matrosen hingegen eine zwar entlang kultureller Klischees denkbare, aber auszuschließende Regelüberschreitung.
Im Unterschied zu Jack und Rose tief unten im Schiffsbauch gibt es zwischen den Matrosen, die ebenfalls an einem entlegenen Ort des Schiffs, nämlich hoch oben, isoliert sind, keinen Kuss und keine Wärme. Diese Differenz zwischen den beiden Paaren wird nicht zuletzt durch den jeweils stark betonten Aggregatzustand ihres Atems – gefrierender Hauch bzw. heißer Dampf als Beschlag – indiziert, wobei das Index-Zeichen die Psycho-Physiologie des ‘leidenschaftlichen‘ respektive des (unter der Kälte) ‘leidenden‘ Menschen ausdrückt und vergegenwärtigt. Dieses ist wiederum mit der indexikalischen Funktion von Händen assoziiert, mit der heißen Hand von Rose, deren bildliche Isolation und Gespreiztheit (ein wenig wie in Identificazione di una donna oder Wild at Heart) sexuelle Leidenschaft ausdrückt, und mit den behandschuhten Händen, die der einzelne Offizier aus Leiden an der Kälte aneinanderreibt, unmittelbar nachdem der Abdruck von Roses Hand auf dem dampfbeschlagenen Autofenster entdeckt worden ist.
Entgegen der naheliegenden Erwartung, Cameron würde den Eisberg als überwältigendes, monströses Naturgebilde inszenieren (etwa in der Art der Himmelskörper in Deep Impact und Armageddon), kommt dieser in T97 nur klein, kurz und (in jedem Sinn) lapidar ins Bild. Die Eigenschaft des Eisbergs, die T97 von allen Titanic-Filmen am stärksten betont, ist sein problematischer Status im Feld des Sichtbaren, denn Camerons Eisberg ist fast durchsichtig. Darüber hinaus ist er im Rahmen einer Sequenz, in der die Körper der Menschen, ihr Atem und ihre Hände, die Tiefe ihrer Empfindungen indizieren, das, was sich gerade nicht anzeigt oder abzeichnet. Das Attribut der Zeichenlosigkeit ist dem Eisberg durchaus nicht inhärent, sondern verdankt sich einer Wahl seitens der Inszenierung von T97: In den drei anderen Titanic-Filmen, T43, T53 und T58, sind die Anzeichen, die der Begegnung mit dem Eisberg vorangehen, und deren falsche oder unterlassene Interpretation Standardmotive im übergreifenden Suspense der Erzählung (all die Großaufnahmen von funkvermeldeten Eisbergwarnungen, die achtlos unter einem Stapel von privaten Eiltelegrammen abgelegt werden). In T53 geht der Kollision gar eine verhängnisvolle Missdeutung der Eisberg-Indizes voran – die Überlegung, die Treibeiswarnungen könnten sich auf zwei verschiedene Eisberge an verschiedenen Positionen beziehen, behält ein Offizier fatalerweise für sich –, und eines der prägnantesten Bilder dieses ansonsten dialogreich dahinplätschernden Films zeigt, wie die Kappe, die der junge Liebhaber in romantischem Überschwang ins Meer wirft, zwischen einige Eisschollen fällt, die von den Menschen an Bord unbemerkt im Wasser treiben.
Auch ohne sonderlich monströs zu sein, haftet dem Eisberg in T97 eine sture ‘Dinghaftigkeit‘ im Zizekschen Sinn an – nicht aufgrund einer obszönen Materialität, sondern kraft seiner asymbolischen Unerschütterlichkeit.2 Der Eisberg kann zwar Träger aller möglichen kulturellen Bedeutungszuschreibungen sein, im textuellen Gefüge von T97 die Kollision von Jack und Rose qua Verdopplung repräsentieren und letztlich sogar als Index-Zeichen seiner selbst betrachtet werden (die sprichwörtliche Spitze, die anzeigt, dass da noch mehr ist); im Rahmen der Cameronschen Phänomenologie ist er jedoch gerade das Objekt, das aus dem Prozess der Verbreitung wahrnehmbarer Zeichen herausfällt und Störungsanfälligkeiten der Semiosis offenkundig macht. Er ist, wie gesagt, schwer zu sehen und überdies im Rahmen der Kollisionssequenz, die die Intimität zwischen Jack und Rose bzw. die Nähe zwischen den Körpern und ihren Indizes (Atem und Hand) so sehr betont, mit einer prekären Distanz assoziiert: Die Telesemiosis, die Zeichenverwendung auf Distanz, versagt oder erweist sich als problematisch, weil die Ausschau haltenden Matrosen keine Ferngläser haben, weil sie das Eis doch nicht riechen können (aufgrund von zu großer Entfernung bzw. kältebedingtem Schnupfen) und weil die Verzögerung, mit der die Telefonverbindung zwischen Krähennest und Brücke zustandekommt, der Dringlichkeit der Situation unangemessen ist.
Von hier aus, von der Unterscheidung zwischen der körpernahen, sich unmittelbar ausdruckhaft gebenden Indexikalität von Atem und Hand einerseits und der Telesemiosis anderseits, lässt sich ein Prozess rekonstruieren, durch den T97 eine Selektion und Hierarchie von Bildern, Zeichen und den sie hervorbringenden Aufzeichnungspraktiken bzw. Medien erstellt. Kriterium der Auswahl und Rangordnung ist dabei die Nähe und Wiedergabetreue, die das Bild-Zeichen zum jeweils Aufgezeichneten unterhält, nicht nur zu dessen Objekthaftigkeit, sondern zu dessen beschworener plastischer Sinnlichkeit und Lebendigkeit. Ganz unten in dieser Hierarchie rangiert die Computersimulation vom Untergang der Titanic: Deren Seelen- und Körperlosigkeit steht in offenkundigem Kontrast zur Dichte jener ‘gelebten Erfahrung‘, zu der Roses Erzählung, die durch sie motivierte Rückblende und im Grunde Camerons ganzer Film uns Zugang verschaffen sollen. Die Video-Aufnahmen vom Inneren des Wracks zu Filmbeginn entsprechen ebenfalls einem illegitimen Zugriff, weil sich die Intentionalität ihres kontrollierenden Blicks bloß auf die Identifizierung und den Tauschwert toter Objekte richten und das in ihnen inkarnierte bzw. durch sie spurenartig indizierte Lebendige nicht zu zeigen vermögen. „Drei Jahre lang hab ich an nichts anderes gedacht als an die Titanic. Aber ich hab es nie ganz begriffen. Ich ließ es nie an mich ’rankommen“, resümmiert der Anführer des videografierenden Schatzsucher-Teams am Ende des Films zerknirscht.
Fotografien, indexikalische Lichtabdrücke dessen, was sie zeigen, können die gewesene Präsenz eines Lebendigen bezeugen, aber nicht durch Re-Präsentation wiederherstellen; sie machen gerade die Unvollständigkeit und Abwesenheit geltend, die jegliche Erinnerung anerkennen muss. Die Fotos in T97 bilden zwar gleichsam die erste Pforte zur Vergegenwärtigung, die dann mit der mündlichen Erzählung von Roses Erinnerungen einsetzt und sich sogleich von dieser abhebt (die erste und die letzte Einstellung, in der die alte Dame in T97 zu sehen ist, beginnt jeweils mit einer Kamerafahrt über die kleine Galerie gerahmter Porträtfotos, die Rose, wie sie sagt, immer bei sich haben muss); die Unzulänglichkeit des fotografischen Abdrucks gegenüber der Sinnlichkeit seines Gegenstands allerdings wird schon dadurch markiert, dass Rose gerade von Jack kein Bild hat: „Er existiert nur noch in meiner Erinnerung“, lautet der letzte Satz ihrer Erzählung. Außerdem steht in beiden Szenen, die zu Filmbeginn die Galerie der Erinnerungsfotos zeigen (in ihrem Haus und an Bord des Forschungsschiffs), ein kleines Goldfischglas in deren unmittelbarer Nähe – eine Art Verweis auf Roses Intimverhältnis zur Unterwasserwelt, der jedoch dem traumatischen Gewicht ihrer Erfahrungen in ostentativer Weise ebenso wenig gerecht wird wie die unbewegten Lichtbilder dem Anspruch auf getreuliche Wiedergabe des Lebendigen.
Bazin, André (1945) The Ontology of the Photographic Image, in ders. (1967) What is Cinema? London, Los Angeles, Berkeley, Vol. 1
Bazin, André (1946) The Myth of Total Cinema, in ders. (1967) What Is Cinema? London, Los Angeles, Berkeley, Vol. 1, S. 21 (Übersetzung M.P.)
Borellus, zit. nach H.P. Lovecraft, Der Fall Charles Dexter Ward
Burch, Noël (1990) Life to those Shadows. London, Kap. 1
Deleuze, Gilles (1983) Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M., S. 282
Elsaesser, Thomas (1998) Specularity and engulfment: Francis Ford Coppola and Bram Stoker’s Dracula, in: Neale, Steve u. Smith, Murray (Hg.) (1998) Contemporary Hollywood Cinema. London
Philipp, Claus (1998) Rettung durch Untergang, Der Standard, 9. Jänner 1998, S. 34
Zizek, Slavoj (1991) Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin
Zizek, Slavoj (1998) Das Picknick der Aliens. Traumatische Begegnungen mit dem unmöglich-realen Ding, in: Lettre International, Winter 1998