Linearisierung oder Vervielfältigung des Bildes
Angesichts der jüngsten Terrorattentate auf Symbole der US-amerikanischen Macht und ihres Wirtschaftssystems stellt sich die Frage nach der Wechselwirkung von Phantasmenproduktion/ -distribution und politischem Handeln in bislang ungewohnter Schärfe. Um hier ein kühnes Statement zu wagen: Die Attentäter waren gute Kinobesucher, sie haben das US-amerikanische Phantasma, wie es sich in Hollywoodfilmen obsessiv artikuliert, aufs schönste erfüllt. Wie die Mondbewohner aus INDEPENDANCE DAY (USA 1996) haben sie die Zentren der US-amerikanischen Macht anvisiert und getroffen; nicht nur sind Moslems in eben diesem Kino als einer der Hauptfeinde präfiguriert; die Terroristen haben, stärker gefangen, als ihnen selbst lieb sein dürfte, die Art der imaginären Konfliktaustragung, wie sie dieses Kino für das neue Jahrtausend projektiert, aufs beste erfüllt. Sie haben dem amerikanischen Traum vom Zusammenschluss des Globus unter US-amerikanischer Führung, wie er sich nun anbahnt, zugearbeitet; in diesem Sinn haben sie politisch gehandelt und doch wieder nicht. Sie haben Stereotypen durch Übererfüllung bestätigt, haben der Überwachung des Globus, wie es dieses Kino in grossem Maßstab vorführt, zu ihrer beschleunigten Realisierung verholfen. Und sie haben ihrerseits deutlich gemacht, dass diese Art der Konfliktaustragung für sie libidinös besetzt ist, wie für die USA offensichtlich das Kriegsführen überhaupt. Bush kann davon sprechen, dass er den Krieg des 21. Jahrhunderts gewinnen wird. Als ob man globale Kriege gewinnen könnte, als ob es noch Schauplätze gäbe, auf denen etwas definitiv entschieden werden könne! Bushs Aussage trifft sich mit den Hollywoodfilmen eben darin, dass hier Kriegführen mit politischem Handeln gleichgesetzt wird. Politik aber wäre, um mit Deleuze zu sprechen, aus vorgegebenen Sprach- und Bildmustern, die unsere Art der Begegnung mit dem Anderen und unsere Konfliktbewältigung vorstrukturieren, auszutreten, Probleme anders zu formulieren und damit Zwangshandlungen zu entgehen.
Insofern sehe ich in der Videoüberwachung nur ein Teilmoment dieser intendierten globalen Überwachung mittels vorauseilender Projektion. In gewisser Weise repräsentiert das Medium Video mit der ihm zuerteilten Überwachungsfunktion nur das, was in den westlichen Gesellschaften die um sich greifende Tendenz zu sein scheint: Der formalen Anerkennung des Anderen in juristischen Gleichheitsformeln entspricht eine zunehmende Überwachung des öffentlichen Raums. Paranoische Weltbilder, offensichtlich die Kehrseite der medialen Öffnung des politischen Raums, gehen mit Videokameras merkwürdige Bündnisse ein. Paul Virilio berichtet von dem Fall einer Amerikanerin namens June Houston,1 die eine derartige Angst vor Ansteckung durch Andere hat, dass sie niemandem Zutritt zu ihrem Haus gewährt. Gleichzeitig hat sie in allen Räumen Videokameras installiert und diese an das Internet angeschlossen, so dass ihre Innenräume und ihre alltäglichen Handlungen in Realzeit im Netz zu beobachten sind. Die reale Berührung, die gefürchtet wird, wird durch optische Überausstellung kompensiert; das kalte Auge ersetzt den Hautkontakt. Das wirft die Frage auf, ob Reality Shows wie Big Brother und deren Selbstüberwachungssucht nicht das Komplement zu jener um sich greifenden und in allen Hollywoodfilmen überdimensional vorgeführten Angst vor der Ansteckung durch den Anderen sind. Das virale Phantasma scheint eine videale Selbstüberwachungsgier zu produzieren, die den Körper bis in seine intimen Vollzüge hinein global ausstellungsbereit werden lässt. Um dem Zugriff des Anderen abzuwehren, bemüht man nicht weniger als die Blickkontrolle der Weltöffentlichkeit.
Als Überwachungsinstrument dient die Videokamera dem Phantasma von der allseitigen Durchleuchtung des Raums. In menschlichen und technischen Ballungszentren, die sich der Überschaubarkeit durch das menschliche Auge entziehen, oder an neuralgischen Punkten des öffentlichen Raums kommt ihr die Funktion allseitiger Blickkontrolle zu. Sie hängt über unseren Köpfen und blickt auf ein Gewoge von Haaren, Scheiteln und Behutungen herab. Und sie dient der indifferenten Realzeitaufzeichnung, die aufgrund ihrer mangelnden Tiefenschärfe und ihrer Standortgebundenheit flache Körper in flachen Räumen produziert. Bei einer solchen Verwendung kann von filmischem Einsatz schwerlich gesprochen werden: Sie kennt nur minimale Kameraschwenks und einen zoombedingten Wechsel der Einstellungen; sie banalisiert und uniformisiert das Leben, indem sie es einem absolut gleichförmigen Zeitablauf unterwirft. Stumpf und dumm registriert sie, liefert einen statistischen Eindruck der Welt und dient vorwiegend der Identifizierung, dem deiktischen Moment des 'Dies ist hier, jenes ist dort' oder auch einer Ontologie des 'es ist tatsächlich da'.
Ohne hier die gesamte Qualität des fixen Videobildes und des Weltbildes, das sich daraus ergibt, ermessen und auch ohne die Manipulationen in Rechnung stellen zu wollen, die dank seiner Anschlussfähigkeit an digitale Bearbeitungssysteme möglich sind, soll es hier um die Frage gehen, wie sich der Kinofilm des Videomediums bedient, inwiefern er dessen üblich gewordene Kontrollfunktion verlängert oder vielleicht doch einen künstlerisch-subversiven Gebrauch davon macht. Zu beobachten ist in jedem Fall, dass Filmemacher wie die Kanadier David Cronenberg und Atom Egoyan mit der Verwendung von Videobildern im Film experimentieren und aus der Spannung der beiden Bildschienen eine dezidiert gegen Hollywood gerichtete Filmreflexion entwickeln; aber auch in den Katastrophen- und Kriegsfilmen Hollywoods werden zunehmend Bilder aus Video- und Satellitenkameras eingesetzt, die als zweite Schiene der Sichtbarkeit das analoge Filmbild diversifizieren. Zu fragen ist nun, inwiefern sie der Verdoppelung und Bekräftigung des fiktiven Geschehens und der häufig zwanghaften Bezugnahme auf die Welt dienen oder vielmehr der filmischen Geschlossenheit zuwiderlaufen, vielleicht sogar die Verselbständigung der Bildebene ermöglichen, die Narration aus ihrer Geradlinigkeit treiben und dem Film erst eine genuin filmische Qualität verleihen.
Zunächst lässt sich feststellen, dass in den Grossproduktionen Hollywoods die Verwendung von Video- und Satellitenbildern in der Regel der Kontrolle und Beglaubigung des fiktiven Geschehens dient. In INDEPENDANCE DAY von Roland Emmerich wird der Angriff der Mondbewohner aus dem All zunächst als Störsignal auf den Radarschirmen der NASA hörbar, bevor das feindliche Objekt in den Bereich der Sichtbarkeit und auf die Monitore tritt. Der mediale Verbund aus Verkehrsüberwachungskameras, Satelliten- und Radarschirmen, der elektronischen Kanäle und Fernsehnetze dient der Ortung und Bestimmung des Feindes, aber auch der Ausstrahlung der Botschaft des amerikanischen Präsidenten über den ganzen Globus und dem Appell zu dessen informationstechnischer Vereinigung. Die vom Film vorgeführte, gleichsam als weiterer Schauspieler mitagierende Bild- und Tonübertragung steht so einerseits im Dienst der Kontrolle über die Erde und das Ausserirdische; andererseits wird nun dieser Übertragungsweg auch von den Ausserirdischen genutzt und gegen die Erde eingesetzt. Und schliesslich werden die elektronischen Kommunikationswege dazu verwendet, ein Virus einzuspeisen und den Feind unschädlich zu machen. Die Schiene der parallelen Kommunikation erscheint dank ihrer Leistungsfähigkeit und gleichzeitigen Anfälligkeit ambivalent; die durch sie ermöglichte Kontrolle schlägt um in Gegenkontrolle und kann nur dank des Know-How des pfiffigen Elektrotechnikers noch zum Heil der Menschen und des Globus eingesetzt werden.
Die Videoaufzeichnung als Akteur, der die filmische Narration entscheidend bestimmt und sich in gewisser Weise das analoge Bild unterwirft, ist in ENEMY OF THE STATE (USA 1998) von Tony Scott aktualisiert: In diesem Film werden verschiedene Überwachungssysteme, die des NSA und des FBI allen voran, aber auch eines Hobbyfilmers, eines detektivischen Anwalts und eines Ex-Geheimdienst-Guerillero gegeneinander ausgespielt. Die fest installierte Videokamera des Hobbyfilmers, die das Verhalten von Tieren am Wasser beobachtet, zeichnet eines Tages unabsichtlich den Mord an einem Politiker auf, der an diesem Strand unter Aufsicht eines Topbeamten des US-Geheimdienstes NSA ermordet wird. Ein NSA-Agent beobachtet wiederum, wie die Kamera entfernt und nach Hause getragen wird. Der Tierliebhaber, der das gesichtete Material einem Reporter aushändigen möchte, wird auf dem Weg dorthin verfolgt und umgebracht. Noch bevor er umgelegt wird, lässt er seine Videokassette in die Tasche eines ihm unbekannten schwarzen Anwalts gleiten, ohne dass dieser es merkt. Damit wird dieser, der seinerseits halb legale Videoaufzeichnungen zur Überführung gewisser Mafiosi einsetzt, ohne dass er wüsste warum, zur Zielscheibe der NSA-Agenten, die mittels Datenzugriffs und –manipulation und totaler Ton- und Bildüberwachung seine Identität zerstören und ihn aus seinem Leben – Beruf, Familie – herauskatapultieren. Mit Hilfe eines im Untergrund arbeitenden Überwachungsexperten gelingt es ihm schliesslich den Spiess umzukehren, die gegen ihn eingesetzten Computer, Videobilder und Wanzen für die Bekämpfung seiner Gegner zu nutzen, in die Unsichtbarkeit abzutauchen und seine Feinde von dort aus lahm zu legen. Erst gegen Ende findet er das Videoband, das sein kleiner Sohn an sich genommen hatte und ihm im nachhinein den Grund für seine unfreiwillige Überbelichtung wie auch für die Dingfestmachung und Auslieferung seiner Gegner gibt.
Hier erhält das Videoband die Funktion eines Katalysators, das, da es über ein brisantes visuelles Wissen verfügt und dieses in Umlauf zu bringen droht, das Geschehen beschleunigt, Flucht- und Verfolgungsbewegungen auslöst und Informations- und Bildproduktion aller Art vermehrt. Gerade aufgrund seines Fehlens wird es zu dem paradoxen Element, das Handlungsstränge verknotet, verschiedene Personen und Milieus in gegenseitiger Ablichtung zusammenbringt und damit nicht zuletzt die Übermedialisierung unserer Zeit und ihre Gefahren thematisiert. Insgesamt untersteht der Film jedoch dem Phantasma, dass politisches Handeln von der Durchleuchtung des öffentlichen Raumes abhängt und durch Bildsupplemente korrigiert werden kann. Da es nach wie vor unausgeleuchtete Ecken und ungerechtfertigte Überausstellungen gibt, braucht es einen noch pfiffigeren Bild- und Tonkontolleur, der aus dem Untergrund heraus die gerechte Verteilung der Belichtungsverhältnisse – wobei allerdings die Videobilder eine untergeordnete Rolle spielen - überwacht.
THE 6th DAY (USA / KANADA 2000) von Roger Spottiswood, ein in naher Zukunft angesiedelter Science fiction-Film, führt uns das illegale Klonen von Menschen in einem biotechnologischen Unternehmen unter Verstoss gegen das sogenannte Sechs-Tage-Gesetz vor. Zum Kampf des Helden, Arnold Schwarzeneggers, gegen diese Machenschaften gehört ebenfalls eine gewisse Guerillataktik und ein Unsichtbar-Werden, welches nur nach Ausschaltung der Videokameras möglich wird. Hochtechnologie und Videoüberwachung werden hier assoziiert und als gleichermassen unmenschlich ausgewiesen. Die Selbstbespiegelung des Unternehmens auf zahlreichen Monitoren scheint mit seiner Tätigkeit der Reproduktion Hand in Hand zu gehen – wovon Schwarzenegger durch Reduplikation selbst Opfer wird. In gewisser Weise übernimmt er die Überwachungsfunktion der Videokamera, überwacht sein zweites Selbst, um sich schliesslich mit ihm zu verbünden und das doppelte Auge zu verwenden zum Zweck der Zerstörung der Reduplikation. Die Ausschaltung der Videokameras und der Bilder auf den Monitoren ist dabei nur der Anfang eines ikonoklastischen Amoklaufs und eines visuellen Showdowns, in dem sich das Hollywoodkino gegenwärtig gefällt. Seine Ambivalenz gegenüber seiner eigenen unmässigen Bildproduktion artikuliert dieses Kino in einer Artistik der Bildexplosion, die die von ihm angestrebte Überwachung des kollektiven Imaginären zumindest vorübergehend in ihr Gegenteil verkehrt.
Auf die Gefahren privaten und unkontrollierten Videoeinsatzes hat bereits zu Beginn der 80er Jahre der kanadische Filmemacher David Cronenberg in seinem Horrorfilm VIDEODROME (Kanada 1983) aufmerksam gemacht – und die dem Kommerzkino innewohnende mörderische Tendenz offengelegt. Dieser Film führt einen bildkritischen Diskurs, indem er einen Fernsehmanager namens Max zeigt, der die Einschaltquoten seines Fersehsenders erhöhen möchte und sich auf die Suche nach Hardcorepornos begibt. Von einem Elektrotechniker werden ihm solche aus geheimen Übertragungskanälen heruntergeladen. Diese Elektroschocks und Folter an Frauen und Schwarzen vorführenden Streifen sollen aus Malaysia stammen; später wird als ihr Produktionsort Pittsburgh in den USA genannt. Auf der Suche nach weiterer Stimulation stösst er schliesslich auf die Fernsehsendung Videodrom deren Kitzel ebenfalls auf der Koppelung von Sex und Gewalt beruht. Aber nicht nur, dass nun seine Freundin zum Zweck der Stimulierung beginnt, ihren Körper zu malträtieren; er selbst fühlt sich aus dem Monitor heraus direkt angesprochen vom Chef des Videodrom-Unternehmens, Dr. Oblivion, der ausführt, dass seine Videobilder Realität seien, weil diese im Zuschauer zu leibhaftigen Halluzinationen, zu Fleisch würden.
Videodrom ist mithin das Programm, das dem Zuschauer nicht nur Sex mit Folter und Mord gepaart präsentiert, sondern den Zuschauer einsaugt, verspeist und die Grenze zwischen fiktiver und realer Ebene bzw. zwischen Video- und Filmbild zum Verschwinden bringt. Max erblickt seine Freundin mit einem Mal auf dem Videobild; sie lockt ihn, den Zuschauer, zu sich: Damit beginnt das Fernsehgerät wie ein Organismus zu pulsieren, ihr riesiger Mund zieht ihn zum Bildschirm, seine Lippen liegen auf den überdimensionalen Bildschirmlippen. Ab da kann er nicht mehr unterscheiden zwischen Halluzination und Videobild, er glaubt seine Freundin wie auf dem Videofilm geschlagen und umgebracht zu haben. Die Produzenten verhöhnen ihn in seiner Angst, kündigen das wahre Videodrom an, das dem alten ein Ende bereiten wird...
Nun wird eine Verwandlung von Max zum Videocyborg vorgeführt. Er solle sich öffnen, wird ihm gesagt. Daraufhin sieht man, wie sein Bauch unterhalb des Nabels der Länge nach wie eine nach oben verlagerte Scheide aufgeht; das Gegenüber langt mit der Hand in die Öffnung und holt ein Videoband heraus. Er selbst zieht eine Pistole aus der Öffnung, entdeckt, dass seine Adern zu Kabeln geworden sind; ihm sei ein neues Organ in Form eines Videobandes gewachsen, wird ihm erklärt. Mit dem Ruf "Es lebe das neue Fleisch!" erschiesst Max die Videoproduzenten. Als 'zu Fleisch gewordenes Video' wird Max zu einer Reinkarnation des Menschensohns, der sich nach Vorgabe des Videodrombildes, auf welchem sich sein Spiegelbild erschiesst, so dass das Gerät wie ein lebendiger Körper in blutige Teile zerbirst, seinerseits erschiesst, wobei Hand und Pistole als zu einem organischen Klumpen verwachsen erscheinen.
Cronenberg thematisiert hier nicht nur die Kontrolle und Konditionierung unseres Körpers und unseres Imaginären durch Bildvorgaben, sondern projiziert die vollständige Ununterscheidbarkeit von Körper und Videobild. Er sieht die Videobilder zum körperlichen Symptom werden, bei Gefahr psychotischen Realitätsverlusts bis hin zur vollständigen Auslöschung der Person in einer Bildschirmexistenz. Mit einem Sinn für Paradoxie schiebt er dabei den Buhmann dem Videobild zu, um desto ungestörter weiterhin Filme machen zu können.
Einen doppeldeutigen Einsatz erfährt das Videomedium in dem Film FAMILY VIEWING (Kanada 1987) des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan. Bei seiner Familienbeobachtung nimmt die Videokamera ebenso die Funktion der Überwachung wie die Funktion einer Hilfestellung bei der Subjektkonstitution, der Stimulierung des Begehrens und des Nachtrags von Erinnerungen ein. Sie ist einerseits die Verlängerung des kalten, väterlichen Blicks und läuft andererseits direkt gegen diesen an.
FAMILY VIEWING lässt sich als der Versuch beschreiben, die Biografie eines Sohnes, sein Verhältnis zu Vater, Mutter, Stiefmutter, Grossmutter und Geliebter nicht-ödipal zu konstruieren, unter Einsatz von Videobildern, die das Filmphantasma dekonstruieren. Der 18-jährige Sohn, der soeben seine Schule beendet hat, wohnt mit seinem Vater und dessen zweiter Frau, seiner Stiefmutter Sandra, zusammen, während seine Mutter unbestimmt verschwunden ist und seine Grossmutter Armand in einem Pflegeheim lebt. Da sich Van auf die Suche nach seiner eigenen Geschichte macht, besucht er häufig Armand, für die er mehr und mehr Anteilnahme empfindet und die er schliesslich mit Hilfe der jungen Frau Aline, deren Mutter die Bettnachbarin seiner Grossmutter ist und die später seine Geliebte wird, aus dem Pflegeheim entführt. Die ans Bett gefesselte Grossmutter, Van und Aline unternehmen in der Folge eine absurde Odyssee in dem Versuch, sich den Nachstellungen des Vaters zu entziehen und eine Art neuer Familie zu konstruieren.
Dabei wird die Familiensituation bzw. ihre innere Störung vor allem durch Video- und Fernsehbilder nahegebracht. Die Begegnung von Vater und Sohn findet meist vor dem Fernseher statt; die Grossmutter, die nicht mehr sprechen kann, tut nichts anderes als fernsehen; Vater und Stiefmutter lassen sich bei ihren Sexspielen durch eine Videokamera beobachten und sehen sich selbst im Fernseher zu; die spätere Freundin des Sohnes, die als Callgirl Telefonsex anbietet, wird an ihrer Arbeitsstelle, aber auch bei ihren Stelldicheins in Hotels durch eine Videokamera überwacht; vor allem aber wird die Geschichte der verlorenen Familie, die Geschichte von Vater, Mutter und Kind durch alte Videofilme nachgetragen. Dabei machen sich diese Bilder gegenseitig Konkurrenz: Der Vater ist dabei, die alten Videobänder für die Aufzeichnungen seiner Sexspiele zu überspielen und die Erinnerung durch Gegenwarten zu ersetzen; der Sohn entwendet ihm diese Bänder, um sich bruchstückhafte Erinnerungen zu sichern, einen kleinen Jungen zu entdecken, der er selbst gewesen sein soll, und seine Mutter und Grossmutter wiederzufinden; die entwendeten, gefundenen und wiedergefundenen Bilder, die Serie der ins Filmbild eingelegten Videobilder, die den Film fragmentieren und zu einer offenen Konstruktion werden lassen, werden durch umlaufende Tonserien in ihrer fragmentierenden Wirkung noch verstärkt.
Der Vater erhält bei seinen Sexspielen mit der Stiefmutter stimmliche Unterstüztung durch die Anrufe des Callgirls, welches ihn anheizt und ihm schildert, wie sie sich selbst berührt, woraufhin der Vater die Stiefmutter veranlasst, eben solches mit sich zu tun. Das Kausalitätsverhältnis von Actionfilmen, welches bestimmte Handlungsabläufe auslöst, wird hier in ein Oberflächenverhältnis transformiert, in welchem der stimmliche Effekt zu einem visuellen Effekt führt und umgekehrt; die medialen Zeichen errichten eine Art Quasi-Kausalität.
Der Vater ist mithin derjenige, der die Familiengenealogie durch überspielen der Videoaufzeichnungen löscht; an ihre Stelle setzt er das perverse Geniessen der Selbstüberwachung, des Bildes als Dauerpräsenz. Die Suche des Sohnes nach der Mutter verläuft über die Rettung der Videoaufzeichnungen aus der Kindheit. Das medial vermittelte Bild des vergangenen Kleinfamilienlebens dient allerdings nur schwer zur Reidentifizierung, es erhöht gleichzeitig das Fremdheitsgefühl gegenüber sich selbst. Der junge Mann erkennt sich nicht und sieht, dass die Frau, die seine Mutter sein soll, zum Opfer des durch die Videokamera verlängerten sadistischen Blicks seines Vaters wird; wäre nicht der Authentizität beglaubigende Blick der Grossmutter, er wüsste nicht um sich.
Wie in PEEPING TOM (GB 1959) von Michael Powell wird gezeigt, wie der Sohn durch die väterliche Beobachtung durch eine Videokamera einerseits zum Sehenden wird und eine privilegierte Beziehung zu Videobildern entwickelt, andererseits sich von dieser Allpräsenz der Kamera bedroht fühlt, das väterliche Auge hasst und den Arm abwehrend über die Augen legt. Der Film weist das überwachende Video-Auge als Verlängerung dieses väterlichen Kameraauges auf und stellt es in seiner voyeuristischen Bedrohlichkeit aus: Bei der Überwachung des Callgirls, bei der Beobachtung der Stiefmutter im Schlafzimmer. Die libidinös besetzte Überwachung, die in PEEPING TOM den Sohn dazu gebracht hat, in der Wiederholung des väterlichen Blicks andere und sich selbst zu töten, wird hier dank der Gegenverwendung des Videos durch den Sohn und dessen Einsatz als diversifizierende und ablenkende Gegenwaffe unterbrochen. Der zweite Videoeinsatz wie auch das Filmbild selbst brechen den kalten und tödlichen Blick des Vaters, indem sie ihm suchende und wünschende Blicke und unvollständige Bildfolgen entgegensetzen. Die Suche nach verlorenen Personen und verlorenen Bildern, ein therapeutischer Einsatz des Mediums tritt an die Stelle seiner Verwendung zum Zweck der sterilen und auf unendliche Wiederholung angewiesenen kalten Inszenierung. Wie Egoyan selbst sagt, geht es beim Einsatz der Videokamera darum, das Filmbild zu entmystifizieren, ihm seinen blendenden Charakter zu nehmen, den Betrachter aus dessen Bann zu entlassen, auf dass er gegen seine Entfremdung aufbegehre.2
Gegen die Blendung durch das Filmbild aufbegehren: Der Einsatz des Videobildes wird hier nicht nur als Therapeutikum vorgeführt, das den Personen hilft, ihr Begehren zu konstituieren, sondern dieses tritt dank der diversifizierten Montage als Verkettung mit Anderen, als gesellschaftliches Gefüge in Erscheinung. Egoyan gelingt die Entmystifizierung, indem er die mediale Bedingtheit des subjektiven Begehrens vorführt und zeigt, dass sich dieses aus der komplexen Verknüpfung von Bildern, Räumen und Personen ergibt. Räume, Personen und Medien interpenetrieren sich; das Begehren wird stets über ein Medium vermittelt: Die Eingangsszene, in der sich die Stiefmutter an den Sohn heranmacht und beide ihre Gesichter wie zum Küssen annähern, gefriert kurz und spult dann zurück, als sei sie bereits von der Videokamera aufgezeichnet. Vater und Stiefmutter kommunizieren nur über Fernseher, Videokamera und Telefon, aber auch Van und Aline kommen zusammen dank eines kursierenden Videobands und des gemeinsamen Fernsehens mit der Grossmutter, wobei diese häufig schläft und in ihrer bloss körperlichen Präsenz sinnliche Begegnungen möglich werden lässt. Das Fernsehbild, auf das die Grossmutter blickt, erweist sich umgehend als das Beerdigungsvideo, auf welchem Aline ihre verschwundene Mutter sucht; die Blickachsen schliessen mithin direkt aneinander an, verlängern sich unbewusst; das gesellschaftliche Gefüge ergibt sich aus diesen erwiderten Blicken und deren unbewusstem Achsengeflecht.
Auf diese Weise dekonstruiert der Film zusammen mit der Linearität die herkömmliche symbolische Ordnung, vertikalisiert die Erzählung durch gegenläufige Videobilder und stellt transversale Bezüge zwischen den verschiedenen Zeitebenen her; durch seine Montage, bewusst gewählte falsche Anschlüsse unterläuft er die Vorhersehbarkeit der Handlung, das Vorwissen um psychologische Dimensionen und jede finalistische Konstruktion des Films verunmöglicht. Er verwirrt den Zuschauer, indem er die gewohnten Blickachsen durchbricht und uns auf die Situation des Sehens verweist.
Während der Vater die Möglichkeit medialer Verbindung nur zu narzisstischen Zwecken nutzt, verbindet der Sohn die verschiedenen Räume und die Wünsche der unterschiedlichen Personen, führt sie ins Freie, setzt sie in Interaktion und stellt neue soziale Gefüge her. Der an den Überwachungsbildern hängende Vater dagegen wird ungewollt von seinem Sohn mitgerissen, stapft diesem hinterher ins Pflegeheim, in die Wohnung Alines und in die Hotelmaschine und verliert dabei sukzessive seine Vaterposition, macht sich zum Anhängsel des Sohnes.
Der Sohn dagegen inszeniert das Wiederfinden der Zeit. Das letzte Bild zeigt die restituierte Kindheitserinnerung, die wiedergefundene Zeit als weibliche Filiation. Durch den wunschgeleiteten Einsatz des Videobildes, welches das Phantasma des eigenen Ursprungs zurückholt und gleichzeitig in der Fragmentierung und Verkleinerung variabel macht, wird der fixierende Charakter des Filmbildes unterlaufen und eine psychische Beweglichkeit des Helden wie des Zuschauers freigesetzt. Was zurückblickt, erschreckt nicht mehr, sondern eröffnet Deutungsmöglichkeiten, stellt offene Selbstbilder vor. Der Held muss nicht mehr töten, da er gelernt hat, das Filmbild umzukehren und es zu einem Instrument der Anamnese und der zukunftszugewandten sozialen Konstruktion, eines 'Wir-Werdens' zu machen.
Unheimliches ruft der Einsatz des Videobildes in LOST HIGHWAY (USA / FRANKREICH 1997) von David Lynch hervor. Das Mysterium dieses Films beruht auf einer Technik der Verfremdung, zu welcher die Einbettung des Videobildes ins Filmbild als eines der Verfahren der Abstraktion gehört, die Lynch für unabdingbar hält.
"Filme müssen abstrakter werden, denn es gibt inzwischen so viele Möglichkeiten für die Leute, sie mehr als einmal anzuschauen. Ein Film muss so aufgebaut sein, dass auch ein mehrfaches Anschauen phantastisch sein kann".3
In LOST HIGHWAY inszeniert Lynch das Abstrakt-Werden als Verrückt-Werden der männlichen Hauptfigur, als deren Aufspaltung in zwei Personen, wodurch sich auch die Narration spaltet, die Geschichte in Variation wiederholt und die Bilder sich dekodieren, häufig nichts zeigen als ihre Bildhaftigkeit. LOST HIGHWAY ist die Erzählung vom Verlust des geraden Wegs, vom Verrückt-Werdens des Films an sich selbst.
Der Plot ist, grob gesagt, die Geschichte eines jungen Mannes, der an der Treue seiner Ehefrau zweifelt, sie ermordet neben sich im Bett vorfindet, dafür ins Gefängnis wandert, dort zu einer anderen Person mutiert und eine andere Identität annimmt, das Gefängnis verlässt, sich in eine Frau verliebt, die seine Ehefrau von früher und zugleich eine andere ist, mit dieser flieht und dafür am Schluss von dem 'Mystery-Man', der von Anfang an sein Leben durchkreuzt hat, bestraft werden soll. Es gelingt ihm zu entkommen, er verwandelt sich in die anfängliche Person zurück, die nun, als beginne der Film von vorne, das Haus betritt, in dem das Verhängnis begann.
In LOST HIGHWAY exzelliert Lynch in einer Kunst der Abstraktion. Die Absetzung vom Realen, die Evokation des Mysteriums, das Schizophren-Werden, wird durch unterschiedlichste Gestaltungsmomente erzielt: durch spärliche Ausleuchtung der Bilder, kaum wahrnehmbare und wieder zurücktauchende Abbildungen, wenig Ton, lange Grossaufnahmen von rot ausgeleuchteten Gesichtern vor schwarzem Hintergrund, leere Räume, stilisierte Interieurs, blaue Stroboskopbilder, Aufnahmen von Mann und Frau aus leichter Untersicht mit verlangsamten Bewegungen, verhaltenen Aktionen, zaghaften Fragen, skeptischen Blicken in langsamem Fading usf.
Dem Videoeinsatz kommt in diesem Verfahren der Abstrahierung eine bedeutsame Rolle zu: Die Handlung beginnt damit, dass dem jungen Paar eine Videokassette mit der Post zugesandt wird, auf welcher zunächst das Haus von aussen, später auch von innen, ein langsamer Gang durch den Flur in ihr Zimmer und ihr Bett mit ihnen beiden aus Obersicht zu sehen ist. Damit spaltet sich das Filmbild selbst in zwei Perspektiven und lässt das Sehen in seiner Doppelläufigkeit sichtbar werden, als Sehen und Gesehen-Werden. Wie im zweiten Teil des Films, in welchem der Mann als ein Anderer agiert, steht das Videobild für die nach aussen verlagerte Projektion seines Begehrens. Nur sieht er sich nun nicht mehr selbst im Bild als Subjekt des Begehrens der Frau, sondern muss diese überdimensional von einem Videoschirm auf ihn herabblicken sehen, während sie von einem anderen Mann gevögelt wird.
Der Einsatz des Videos verdeutlicht in diesem Film die psychoanalytische Einsicht, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind, dass unser Begehren immer das Begehren des Anderen ist und wir im Phantasma die Szene des Ursprungs unseres Begehrens einzuholen suchen. Der Prozess des Schizophren-Werdens wird als die Folge der visuellen Medialisierung ausgewiesen, in der das schon normal abgründige Verhältnis von innerem und äusserem Bild und die Schwierigkeit von deren Trennung noch verschärft wird. Wie dem Protagonisten die Fähigkeit, zwischen Innen und Aussen, zwischen Ich und Welt zu unterscheiden, abhanden kommt und selbst Landschaft und Architektur rätselhaft werden, so verdeutlicht das Videobild, dass wir in unserem begehrlichen Sehen je schon gespalten, immer schon gesehene und aufgezeichnete sind.
Die Wiederholung dieser vorgängigen (Selbst)überwachung, die Zurückgewinnung des Begehrens, das sich auf anderen Schauplätzen, in anderen Dimensionen und unter Umständen in vorgestanzten Mustern abspielt: Die genannten Filmen lassen es als fraglich erscheinen, dass uns die visuellen Medien dabei behilflich sind. Die durch das Videomedium erleichterte Möglichkeit der Selbstüberwachung arbeitet der Fixierung eher als der Auflösung von Selbstbildern zu. Gleichwohl kann das Videobild, wie die Filme auch aufscheinen lassen, wohltuende Korrekturen in der Weise visueller Irritation dort leisten, wo die Imagination durch filmische Grossprojektionen gefesselt und in der Faszination unterworfen wird.
Fischer, Robert (1992) David Lynch. Die dunkle Seite der Seele. München.