Blick und Berührung
Es ist heute oft die Rede davon, daß das Verhältnis von Bild und Schrift, das in der modernen Medientheorie eine zentrale Rolle spielt, auch schon das religiöse und philosophische Denken des Mittelalters bestimmte. Das würde bedeuten, daß die Fragen von Visualität, die uns heute beschäftigen und um die sich fast alle Fragen nach der menschlichen Existenz der Zukunft drehen – die Visualität steht im Zentrum der Debatten um Simulation und Mimesis, um Illusion und virtuelle Realitäten, und sie taucht ebenso in den Debatten darüber auf, ob es sich bei der multiplen Persönlichkeitsstruktur um ein suggeriertes oder ein "originales", "echtes" Symptom handelt –, die Fragen der Visualität bleiben keineswegs der Moderne und ihren technischen Hilfsmitteln vorbehalten. Tatsächlich entsprechen sie einer Struktur, die von Anfang an dem Denken der christlich-abendländischen Gesellschaft inhärent war. Die Abwesenheit des Bilderverbots in den zehn christlichen Geboten, die eng damit verbundene Menschwerdung Gottes, oder wie es bei Johannes heißt: die "Fleischwerdung des Wortes", auch die Transsubstantiationslehre – all diese Elemente, die das Christentum zutiefst von der jüdischen Religion unterscheiden, erscheinen richtungweisend für ein Denken, in dem das Sehen über die anderen sinnlichen Wahrnehmungsweisen dominiert und zugleich die Frage nach Simulation und Wirklichkeit gestellt wird. Dennoch hat sich von der Audiovisualität des Mittelalters bis heute ein Wandel vollzogen, der auch das Verhältnis der Geschlechter neu bestimmt hat. Dazu zunächst zwei Beispiele:
In den französischen Fassungen der Artuslegende, die ab Mitte des 12. Jahrhunderts entstehen, spielt die verbotene Liebe zwischen Lancelot und der Königin Guenièvre, Ehefrau des Königs Artus, eine zentrale Rolle. Als Lancelot in Gefangenschaft gerät und zweieinhalb Jahre lang in einen Turm eingesperrt lebt, malt er Szenen von sich und der fernen Geliebten auf die Wand seiner Zelle. "Morgens", so heißt es in der Legende, "geht er zu allen Darstellungen der Königin und küßt sie auf Mund und Augen mit solcher Hingabe, als hätte er die Königin selber vor sich, klagt sein Leid und umarmt die Bilder".1 Die Abbildungen der Königin erscheinen hier wie eine Ikone, wie ein religiöses Kultbild, durch das hindurch das Urbild – oder die "wirkliche Person" – herbeigerufen wird. (Das Bild ist hierin vergleichbar mit der Hostie, die nicht als Symbol für den Leib des Herrn sondern für seine reale Präsenz verstanden wird: Die Transsubstantiationslehre wird 1215 integraler Bestandteil des kirchlichen Kanons, entsteht also fast zeitgleich mit der christlich gefärbten Fassung der Artus-Legende, die 1225 niedergelegt wird.)2 Als Artus Lancelots Bilder zu sehen bekommt, glaubt er, was er bisher nicht glauben wollte: Daß die Liebe zwischen Guenièvre und Lancelot nicht platonischer Natur ist. Die Abbildungen lassen bei ihm alle Zweifel an der Wirklichkeit, für die sie stehen, verschwinden. "Ich sehen schinbarlich, " so sagt er, "das er by ir geschlaffen hat."3 Er will die Königin verstoßen. Aber der Papst, hier gegen jeden Bezug zwischen Bild und Wirklichkeit angehend (nach der Renaissance wird sich diese Einstellung der Kirche ändern), droht, das Artusreich in den Bann zu tun. Schließlich, so argumentiert der Papst, habe der König "sie nit by hern Lancelot (...) funden in der missetat".4 Der König gibt nach. Dennoch kommt es zum Krieg gegen Lancelot – ein Krieg, an dessen Anfang Bilder stehen und an dessen Ende beide, der Ehemann und der Geliebte, ihr Leben lassen werden. Guenièvre überlebt und verbringt die letzten Jahre ihres Lebens im Kloster.
Ein zweites Beispiel spielt in der Jetztzeit. Es handelt sich nicht um eine Legende, kreist aber auch um die Frage, ob Bilder etwas über die Realität zu sagen vermögen. Eine junge Frau begibt sich in Psychotherapie, weil sie herauszufinden versucht, ob sie in ihrer Kindheit von ihrem Vater sexuell mißbraucht worden ist oder nicht. (Daß sie diese Frage beschäftigt, stellt sich erst im Verlauf der Therapie heraus.) Parallel zur Analyse unterzieht sie sich einer Hypnose, die aber außer Stimmungsbildern und Gefühlseindrücken keine Erinnerungen zutage fördert. Außerdem wendet sie sich an eine Selbsthilfegruppe von mißbrauchten Frauen, von der sie gefragt wird, ob sie an Eßstörungen leide. Als sie verneint, gibt man ihr zu verstehen, daß sie kein Opfer sexuellen Mißbrauchs gewesen sei – eine Antwort, die ihr nicht viel weiter hilft (im vorliegenden Kontext aber wichtig ist, wie ich später noch ausführen werde). Nun erhofft sie sich also von der Analyse die Gewißheit, die sie einerseits fürchtet, aber – als Gewißheit – andererseits auch herbeiwünscht: So äußert sie immer wieder die Befürchtung, daß ihr Analytiker sie sexuell mißbrauchen könne – eine Vorstellung, die ihren Ängsten die Anbindung an reale Erfahrungen verschafft hätten. Es kommt nicht dazu – aber die Analyse fördert auch keine Erinnerungen zutage. Eines Tages erscheint sie jedoch in der Sitzung mit einem kleinen Super 8-Vorführgerät (ein Apparat, der mit der Hand gekurbelt wird) und einem Amateur-Film, den ihr Vater gemacht hatte und den sie schon seit langem kennt und besitzt. Auf diesem Film sieht man sie und ihre Schwester – das eine Mädchen sechs, das andere vier Jahr alt – unbekleidet auf dem Bett liegen und den Unterleib in rhythmischen Bewegungen hoch- und niederwippen. Der Blick der Kamera konzentriert sich auf die nackten Popos und Geschlechtsteile der Mädchen. – Wenige Monate nach dieser Sitzung ist die Analyse beendet. Die junge Frau hört auf, nach einem eindeutigen Beweis dafür zu suchen, daß sie von ihrem Vater sexuell mißbraucht worden ist. Sie kann damit leben, für diese Tatsache keine konkreten Anhaltspunkte zu finden. Zugleich ist für sie aber etwas anderes formulierbar geworden: Daß sie den Blick des Vaters, der sich hinter dem mechanischen Auge der Kamera versteckt, als sexuellen Mißbrauch erfahren hat.
Zunächst eine Parenthese, die mir angesichts der aktuellen Diskussion um den Mißbrauch mit dem sexuellen Mißbrauch nicht überflüssig erscheint: Es soll mit dieser Geschichte nicht unterstellt werden, daß jeder Vater, der sein Kind nackt filmt oder photographiert, einen sexuellen Mißbrauch begeht. Vielmehr geht es mir darum, daß der Blick als physische Verletzung erfahren werden kann. Hier liegt vielleicht sogar der Schlüssel zum Rätsel, warum so oft in diesem Zusammenhang nach Beweisen für konkreten Mißbrauch gesucht wird, wenn es sich vielleicht "nur" um eine Frage des Sehens handelt5 – eines Sehens, das ich als den "öffentlichen Blick" bezeichnen möchte.
Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Bilder-Geschichten sind offenkundig. Sie bestehen zunächst darin, daß ein Bild den Beweis für eine Sache liefert – aber während im Fall von Lancelot das Bild auf eine Wirklichkeit verweist, die außerhalb der Abbildung liegt, ist im Fall der Analysandin das Bild die Sache selbst: Das Filmen 'ist' der Mißbrauch. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Tatsache, daß in beiden Fällen die Bilder auf verbotene Sexualbeziehungen verweisen – im einen Fall geht es um Ehebruch, im anderen um Inzest. Aber hier offenbart sich ein weiterer Unterschied. Denn wenn Lancelots Darstellungen für die Beschreibung von Wirklichkeit gehalten werden, so deshalb, weil nicht nur Guenièvre, sondern auch er selbst darauf zu sehen ist – mit der Geliebten vereint. Auf dem Super 8-Film hingegen ist nur die Tochter zu sehen. Der Vater ist physisch abwesend und zugleich anwesend durch seinen Blick auf den Körper der Tochter. An diesen Unterschied knüpft sich ein weiterer Unterschied zwischen der einen und der anderen Bilder-Geschichte. Während Lancelot Bilder an die Wand malt, die von seiner Sehnsucht nach der 'abwesenden' Guenièvre bestimmt sind – es sind Bilder, durch die er ihre Präsenz zu beschwören versucht –, erheben die Super 8-Filmaufnahmen den Anspruch darauf, die Präsenz – die physische Wirklichkeit – der Mädchen wiederzugeben. Dabei stellt aber der Blick der Kamera, der die Schamgrenze der Mädchen durchbricht – "Scham" im Sinne der sichtbaren Geschlechtsmerkmale und "Scham" im Sinne der psychischen Grenzen, die das Ich gegen den Anderen schützen – die eigentliche Wirklichkeit dieser Bilder dar. So ist dieses Dokument nicht durch Zufall dem vergleichbar, was der ungarische Historiker Istvàn Rèv über die Rolle der Sexualberichte in den Archiven der Geheimpolizei schreibt (es geht um die Zeit der stalinistischen Schauprozesse um 1950) – Berichte, deren politische Bedeutung nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.
"Wie im Fall der Orgienanschuldigungen des Mittelalters, die mehr über das Denken der Ankläger als über die Gewohnheiten der Angeklagten erzählten, berichten auch die Dokumente in den Archiven der Geheimpolizei von der Geschichte der Vernehmungsbeamten. (...) Diese benutzen Pornographie, weil sich diese Gattung für Polizeiberichte eignet. (...) Die Autoren pornographischer Texte geben vor, daß sie "Augenzeugen der Szenen, die sie beschreiben" waren." (...) D.h. Pornographie taucht in der Verkleidung des Dokumentarischen auf. Sowohl billige pornographische Romane wie die Selbstanschuldigungen der Schauprozesse dokumentieren aber Phantasien: die der Verfasser. Das Zeitalter der Schauprozesse stellt das Ausagieren der Phantasien der Vernehmungsbeamten dar. Deshalb können sich Historiker auf die politische Pornographie verlassen. Sie offenbar etwas über die wahre Natur des Systems."6
Auch die Bilder, die der Vater von seinen Töchtern gemacht hat, geben vor, "Augenzeugen der Szenen, die sie beschreiben" zu sein. In Wirklichkeit erzählen diese Dokumentaraufnahmen aber etwas über den Blick des Vaters – und damit auch über die Geschichte des Blicks.
Benjamin hat in seinem oft zitierten Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit darauf aufmerksam gemacht, daß das Kunstwerk dank Photographie und Film die Aura des Originals verliert. Nun könnte man sich aber fragen, ob das Original im Zeitalter der technischen Bilder nicht im Werk sondern vielmehr im Blick zu sehen ist, den einzelne Werke auf sehr unterschiedliche Weise auszulösen vermögen. Oder um den Wandel mit den Worten von Gottfried Boehm zu umschreiben:
"Was sich wandelt, ist die Rolle des Sehens. Es wird Fundament und Medium der Malerei, ein Vorgang, dessen Struktur an jene Revolution der Denkungsart erinnert, die wir mit dem Namen Kopernikus bezeichnen."7
Der Blick verfügt über alle Merkmale, die man einst nur dem Original zuschrieb: Er ist einmalig, ist das Produkt eines unverwechselbaren Individuums, steht in enger Beziehung zu den Bildern und Worten des Unbewußten und läßt sich nicht reproduzieren. Er ähnelt in dieser Hinsicht dem Traum, der – obgleich aus Bildern bestehend – niemals über Bilder, sondern nur über Worte mitgeteilt werden kann. Eine solche Konzeption von "Original", bei dem der Blick an die Stelle des Werks rückt, 'konnte' freilich erst entstehen, nachdem die technischen Bilder – Photographie, Film etc. – das traditionelle Konzept des einmaligen Kunstwerks obsolet gemacht hatten.
Was hat nun dieser Wandel, bei dem der Blick zum "Original" wird, mit dem Verhältnis von Schrift und Bild zu tun und warum soll er so tief in die Geschlechterordnung eingegriffen haben? Zur ersten dieser beiden Fragen gibt es schon sehr viele theoretische Schriften – die moderne Medientheorie beschäftigt sich vorwiegend mit dem Verhältnis von Schrift und Bild –, deshalb will ich nur kurz darauf eingehen.
Im Mittelalter – also in der Entstehungszeit der Artuslegende – werden "malen" und "schreiben" fast wie Synonyme benutzt. Mal heißt es von einem Bild, daß es "geschrîben" wurde, ein anderes Mal von einem Text oder einer Dichtung, daß sie "gemâlt" seien.8 Die italienischen Worte für Feder (penna) und für Pinsel (pennello) sind fast identisch.9 (Daß beiden zudem eine phallische Bedeutung in Wort und Bild zukommt, darauf kann ich hier zunächst nur aufmerksam machen). Diese enge Verwandtschaft von Schreiben und Malen bedeutet freilich nicht, daß die beiden Medien miteinander verwechselt wurden; die Unterschiede zwischen Bild und Text wurden deutlich wahrgenommen, aber als gegenseitige Ergänzungen begriffen. So schreibt der Mediävist Horst Wenzel:
"Das Bild repräsentiert die optische Wahrnehmung und über diese auch das Sprechen; Schrift repräsentiert die Sprache und über diese auch das Sehen. Grundsätzlich zielen beiden Medien ab auf eine ganzheitliche Repräsentation der audiovisuellen Wahrnehmung. Aber der Primat des Hörens und des Sehens ändert sich mit dem Wechsel von der Schrift zum Bild und umgekehrt von Bild zur Schrift." (Wenzel 1993: 115)
Malen und Schreiben fanden also in der Sprache – genauer: dem sichtbaren, sprechenden Körper – ihren gemeinsamen Nenner. Mit dem wachsenden Einfluß der Schrift aber wird sich die Sprache vom sprechenden Körper – vom Körper überhaupt – entfernen und mit ihr auch dem Blick Distanz verleihen.10 Erst im 20. Jahrhundert wird der Tonfilm Hören und Sehen wieder zusammenführen – aber das bedeutet nicht, daß heute die gesprochene und die geschriebene Sprache – oder Bild und Schrift – als gleichberechtigte Medien der Wahrnehmung und Erinnerung begriffen werden.
Daß auch in der Moderne eine intensive Wechselwirkung zwischen Schrift und Bild besteht, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die sogenannte "Bilderflut" von einer Lawine gedruckter Worte begleitet wird. D.h. statt uns am Ende der Gutenberg-Ära zu befinden, treten wir vielmehr in eine neue Phase des Schriftdenkens ein, in der das Wechselverhältnis von Schrift und Bild allerdings völlig anders aussieht als im Mittelalter.11
Genau betrachtet reproduzieren die technischen Bilder der Moderne einen Vorgang, der der Entstehungsgeschichte der abendländischen Schrift gleicht: Unsere Schrift besteht aus phonetischen Zeichen – bei ihrer Verschriftlichung wird die gesprochene Sprache in Zeichen aufgelöst – in Zeichen, die genauso gut mathematische Symbole sein könnten. Sie verweisen auf keine sichtbare Wirklichkeit. Etwas Vergleichbares wiederholt sich bei der Entstehung der technischen Bilder: Auch die Bilder der technischen Sehgeräte setzen sich aus einzelnen Zeichen zusammen – aus Körnern, Bytes – , Zeichen, die für sich genommen keinen Verweis auf eine sichtbare Wirklichkeit geben, die sich aber – paradoxerweise – zu "Dokumenten der sichtbaren Wirklichkeit" zusammenfügen lassen.
Mit den technischen Bildern hat sich die Schrift eine Visualisierung zugelegt, die nicht nur ihrer eigenen Entstehungs- sondern auch ihrer Entwicklungsgeschichte entspricht. Das Lesen und Schreiben der abstrakten abendländischen Schrift setzt die Bereitschaft voraus, auf die Anbindung an das Sichtbare zu verzichten.12 Durch die Erfindung von Photographie, Film und der modernen elektronischen Bildträger entstanden die Bedingungen dafür, daß diese Abstraktion wieder aufgehoben werden konnte und die Zeichen erneut einen Bezug zur sichtbaren Wirklichkeit fanden – freilich, die Anbindung an die sichtbare Wirklichkeit der technischen Bilder. Anders als die mittelalterlichen Bilder stellen die technischen Bilder der Neuzeit keine Ergänzung zur Schrift sondern deren visuelle "Realisierung" dar – oder um Flusser zu zitieren: Die "Photographie wurde als erstes technisches Bild im 19. Jahrhundert erfunden, um die Texte wieder magisch zu laden."13 Die technischen Bilder sind also als Bild gewordene Schrift zu begreifen.
Ein vergleichbarer Wandel vollzieht sich aber auch in der Geschlechterbeziehung. Um diese These darzustellen, möchte ich noch einmal auf die Geschichte des Sehens eingehen. Seit Aristoteles galt das Sehen in der abendländischen Tradition als der "höchste" der fünf Sinne, weil er der Rationalität am nächsten stehe. Der Tastsinn hingegen galt als der niedrigste, weil er auf Lust und Eros verweist. Eros wurde gleichgesetzt mit dem Gegenteil von Rationalität: mit Sprachlosigkeit, Unbeherrschtheit, manchmal auch Wahnsinn. Beides, Wahnsinn und Lust, verweisen auf etwas jenseits der Symbolisierungsfähigkeit. Gleichzeitig wurde der Tastsinn aber auch als der grundlegende aller Sinne betrachtet: als Basis für das Vorhandensein der anderen Sinne.14
In der abendländischen Geschichte des Eros spielt nun die Wechselbeziehung zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Sinn eine wichtige Rolle: Denn durch diese verband sich das Sehen – und mit ihm die Kunst – mit dem niedrigsten der Sinne, der Berührung – und damit auch der Sexualität. Durch die Augen wurde die Sexualität gleichsam von der Rationalität an die Zügel genommen. Denn bei Sehen und Tasten handelt es sich um Sinne, die sich im Extremfall gegenseitig ausschließen. Wirkliches Betrachten setzt die Entfernung vom Betrachteten, also die Aufhebung der Berührung voraus: Das Sehen, so schreibt Sander Gilman, " ist die Ikone des Rationalen – eine Rationalität, die durch die physische Distanzierung vom betrachteten Objekt erworben wird." (Gilman 1991: 37)
Das, was die Schrift mit ihren Schriftzeichen vollzieht – nämlich die Abstraktion von der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit – wiederholt sich also in gewisser Weise im Verhältnis von Sehen und Tastsinn: Ein die Berührung dominierendes Sehen fordert die Aufhebung der Berührung.
Eine wirkliche Dominanz des Sehens über den Tastsinn bildet sich erst im Verlauf der Renaissance heraus – ein Vorgang, der sich auch an der Begriffsgeschichte der "Ästhetik" nachvollziehen läßt: Für Aristoteles beinhaltete der Begriff noch die Einbeziehung aller Sinne; für uns bezieht er sich fast ausschließlich auf das, was wir mit den Augen wahrnehmen können.15 Die Dominanz des Sehens über die anderen Sinne bildet sich also heraus parallel zum Übergang der abendländischen Gesellschaft zu einer "vollen Schriftkultur", wie Aleida Assmann es nennt.16 Damit ist die Entstehung einer Gesellschaft gemeint, die in jeder Beziehung nach den Gesetzen der Schrift geformt ist: Sie wird bestimmt auf der einen Seite vom Gesetz der Abstraktion vom Sichtbaren; und auf der anderen Seite vom Gesetz einer Neuordnung der Welt nach Plänen und Utopien, die in den abstrakten Denkmustern der Schrift entworfen, diese in physische, sichtbare Wirklichkeit zu überführen versuchen. So erklärt es sich, daß in Europa, das mit der Einführung der Druckerpresse zu einer "vollen Schriftkultur" wird, 'zugleich' der Sinn des Sehens an Bedeutung gewinnt. Durch das zentralperspektivische Auge wird der Raum, die Welt neu definiert, geordnet und zusammengefügt. Eben diese Entwicklung – bei der dem Sehen – sozusagen einem schreibenden Sehen – eine neue ordnende Bedeutung zukommt, wird dazu führen, daß auch die Berührung den Gesetzen der Schrift unterworfen und schließlich von dieser neu definiert werden kann.
Daß in der Renaissance Lust in Schaulust übergeht, dafür gibt es eine Vielfalt von Anzeichen und auch eine Reihe von rationalen – und nicht ganz so rationalen – Erklärungen. Zu den rationalen gehört die Tatsache, daß die epidemische Ausbreitung der Syphilis nach 1495 – und damit die Gefahr, die mit der physischen Berührung verbunden war – erheblich dazu beitrug, die Betrachtung zu einer Form von "safer sex" werden zu lassen – so wie heute Aids dazu beitragen dürfte, daß Telefonsex, Sexgespräche am Computerterminal und bald auch cybersex wachsenden Zuspruch finden. "Ich hoffe," so verkündet Madonna in ihrem Buch mit dem überraschenden Titel "Sex", "daß mein Video den Betrachter sexuell erregt. Das ist die sicherste Form von Sex, die es gibt: Voyeurismus".17 Eine andere Erklärung für die allmähliche Verdrängung der Berührung durch das Sehen ist weniger rational – 'beinhaltet' aber den Wunsch nach Rationalisierung, Planbarkeit und Berechenbarkeit und wiederholt in gewisser Weise den Vorgang, bei dem die Schrift mit den technischen Bildern einen visuellen Leib annimmt.
Berührung, Tastsinn im erotischen Sinne bedeutet immer Begegnung mit einer anderen Haut, bedeutet also die Erfahrung, zu berühren 'und' berührt zu werden, Subjekt wie Objekt eines erotischen Dialogs zu sein. Die Berührung setzt deshalb auch die Bereitschaft voraus, das Ich einer Erfahrung von Ohnmacht und Abhängigkeit auszusetzen. Das Sehen, der rationalste der Sinne, der Distanz vom betrachteten Objekt voraussetzt, entbindet das Ich von eben dieser Erfahrung von Ohnmacht. Es entbindet das Ich freilich nicht völlig, denn das betrachtende Subjekt kann auch zum Objekt der Betrachtung des anderen werden: dann, wenn das andere Auge zurückblickt.
Mit dem Einzug der technischen Sehgeräte aber wird der Blick einseitig. Die technischen Sehgeräte werden die Unmöglichkeit eines Blicks zurück einführen. Es entsteht für das betrachtende Subjekt die Möglichkeiten zum "safer sex" in jedem Sinne des Wortes: als Schutz gegen die (infektiöse) Berührung und als Sicherheit gegen die Erfahrung der Ohnmacht. D.h. mit dem mechanischen Auge entfernt sich der Sinn des Sehens noch weiter von der Berührung. Oder genauer: Das Sehen wird gleichsam zur Berührung selbst,18 es wird zumindest so wahrgenommen – so wie im Anfangs zitierten Beispiel der Analysandin, die den Blick des Vaters durch die Kamera als 'physisch' erlebte Grenzüberschreitung erfährt. Mit anderen Worten: Der zum "Original" gewordene Blick läßt hier eine neue und andere Form der "Urszene" entstehen.
Das Verlangen nach einer Befreiung aus der Ohnmacht – bei gleichzeitiger Wahrung von Lust – erscheint als eine wichtige Triebfeder bei der Entwicklung der technischen Sehgeräte. Wie Sie wahrscheinlich wissen, hätte die Photographie rein technisch schon zweihundert Jahre zuvor entstehen können. Es bedurfte aber offenbar dieser Zeit, um den Tastsinn, der in den allegorischen Darstellungen oft als gefährlich dargestellt wurde – als Biß einer Schlange oder eines Vogels –, zu domestizieren und in ein anderes Wahrnehmungsfeld zu überführen. Der Vorgang zeigt sich übrigens an einem Wandel der visuellen Darstellung des Tastsinns: Die allegorischen Darstellungen des Tastsinns waren immer weibliche Figuren, aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehren sich die Darstellungen, in denen Frauen nicht als Allegorie, sondern als 'Objekt' des Tastsinns und der Berührung gezeigt werden. "Aus der traditionell weiblichen Gestalt der Berührung", so schreibt Gilman, "wird die Ikone für das Objekt des Begehrens ..." (Gilman 1991: 42) – und in eben dieser "Objektivierung" des Weiblichen erfährt der Tastsinn seine eigentliche Domestizierung. Der Renaissance mochte das zentralperspektivische Sehen noch als Mittel dienen, die Berührung zu vermeiden; mit der Entwicklung der technischen Sehgeräte entwickelt sich jedoch ein Blick, der für die Berührung selbst steht. D.h. vergleichbar der Schrift, die ihre eigenen Bilder hervorgebracht hat, erschafft auch der Sehsinn seinen eigenen Tastsinn.
Das sehende Subjekt der Moderne stellt das Ebenbild eines allmächtigen Gottes dar, der alles sehen kann, aber selber nicht zu sehen ist.19 (Diese Vorstellung, daß der Mensch aus seiner "Ebenbildlichkeit" auch das Recht ableitet, an die Stelle Gottes zu treten, ist nur in der christlichen Religion denkbar; der jüdischen ist sie vollkommen fremd, nicht zuletzt dank des Bilderverbots. Dies ist ein Hinweis unter anderen darauf, daß die ganze hier beschriebene Problematik der christlichen Heilsbotschaft inhärent ist). Schuf Gott im Menschen sein Ebenbild, so definiert das sehende Subjekt durch den Blick der technischen Sehgerät den Körper des Anderen: nicht nur den des "Weibes", auch den des "Juden", des "Schwarzen" oder des Homosexuellen. Die Theorien von der jüdischen "Rasse" und der Begriffe "Homosexueller", durch die zum ersten Mal medizinische, physiologische Kategorien zur Definition "jüdischer" und homosexueller "Andersartigkeit" geschaffen wurden, entstehen beide um 1860 – also zeitgleich mit der allgemeinen Verbreitung der Photographie. Ebenso bediente sich auch Galton der Photographie, um seine These zu beweisen, daß sich der "deviante soziale Typ" bzw. der "Jude" durch eine bestimmte Physiognomie auszeichne. Parallel zu dieser Entwicklung findet eine rasante Entkleidung des weiblichen Körpers statt, der nun – sichtbares, aber nicht-sehendes Objekt geworden – jede Gefährlichkeit verloren zu haben scheint. D.h. "Weiblichkeit" wurde mit der Neuzeit zunehmend zu einer symbolischen Kategorie, die zur Definition des kollektiven Ichs (der Nation, der Republik, die durch den Frauenkörper allegorisch dargestellt werden) ebenso herhalten muß wie zur Definition physiologischer "Andersartigkeit". (Das ist einer der Gründe für die Fülle an Sexualbildern im Diskurs des rassistischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts).
Dieser Wandel des Blicks hat die Geschlechterbeziehung zutiefst beeinflußt. Die Technik selbst impliziert die Herausbildung eines Eros, in dem es das sehende Subjekt und ein blindes Objekt der Betrachtung gibt. E.T.A. Hoffmann hat diese Phantasie in seiner Erzählung Der Sandmann meisterhaft dargestellt. Der Held Nathanael verliebt sich in Olimpia: ein "hohes, sehr schlank, im reinsten Ebenmaß gewachsenes Frauenzimmer", das er 'mithilfe eines Taschenperspektivs' im gegenüberliegenden Hause sitzen sieht:
"Sie schien mich nicht zu bemerken, und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinah möcht' ich sagen, keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen".20
Eben diese Frau, eine Puppe, die er sehen kann, die aber nicht selber zu sehen vermag, wird für ihn zur Idealfrau, der er im Liebeswahn verfällt. Hoffmann sieht also durchaus die Gefahren, die in dieser erotischen Konstellation auch für den Sehenden bestehen – nämlich die Gefahr einer Ohnmacht, bei der der Betrachter zum Objekt seines eigenen Objekts wird und, sich damit selbst aus der symbolischen Ordnung (die immer die Präsenz eines Anderen erfordert) ausschließend, dem Wahnsinn verfällt. (Sprache und Symbolisierungsfähigkeit – und damit auch der Schutz vor dem Wahnsinn – kann es nur geben, wenn die anderen als vom Selbst verschieden und das Ich als vom Du getrennt wahrgenommen werden).
Hoffmanns Erzählung erschien 1816. Wenige Jahre später entstanden die ersten Photographien, die die Phantasie Hoffmanns zum kollektiven Phantasma einer ganzen Epoche werden ließen: dem Phantasma, daß das Begehren seine Erfüllung findet in einem Blick, der sich auf ein blindes – oder totes – Objekt richtet.
Natürlich hatte sich schon lange vor der Entstehung von Photographie und Film, ein "normativer Blick auf die Frau" entwickelt, der, wie Thomas Kleinspehn schreibt, "ihren Körper im Kern als eine Inszenierung männlicher Phantasien erscheinen" (Kleinspehn 1989: 123) ließ. Alle Phantasien, die mit der Photographie einhergehen – die Phantasie einer Macht über Leben und Tod des photographierten Objekts – offenbaren sich schon lange vor der Entstehung der technischen Sehgeräte. So spiegelt sich die enge Beziehung zwischen Photographieren und Töten, die oft behandelt worden ist,21 in den zahlreichen wissenschaftlichen Phantasien wider, in denen eine Vorstellung von Erkennen zum Ausdruck kommt, die zugleich sexuell und tödlich konnotiert ist. In vielen allegorischen Darstellungen der Aufklärung erscheint die Natur als eine weibliche Gestalt, die von der Wissenschaft, dem männlichen Blick "entschleiert" und "durchdrungen" wird. D.h. Der weibliche Körper wird zum "dunklen Kontinent", den es zu "durchleuchten" gilt.22 Daß bei diesem metaphorischen "Eindringen" in den weiblichen Körper auch zugleich das Töten mitphantasiert wird, zeigen die zahlreichen Darstellungen zur Anatomie, die schon ab dem 17. Jahrhundert entstehen (s.a. Arbeiten v. Barbara Duden): egal ob es sich um die florentinische Venus handelt (Wachsmodelle von Frauen mit Idealmaßen und idealen Gesichtszügen, die mit aufgeschnittenem Bauch dem Betrachter die intimsten Geheimnisse des unsichtbaren Geschlechts preisgeben) oder um die Anatomiedarstellungen des 19. Jahrhunderts, nach denen zu schließen, die gesamte Anatomieforschung an den Leichen von schönen, jung verstorbenen Frauen stattfand: Wallendes Haar hängt über den Rand des Seziertisches, auf dem ein spärlich bekleideter Körper in einladender Haltung auf das Messer wartet, mit dem der Wissenschaftler sogleich in das Objekt seiner Begierde eindringen wird. Das Interesse der Aufklärung an der Anatomie und "ihre präziseren Abbildungen" des Körpers, so schreibt die Medizinhistorikerin Ludmilla Jordanova, die sich mit den wissenschaftlichen Darstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt hat; "verweisen nicht auf einen sachlichen Umgang mit den "intimen Teilen" des Körpers sondern auf einen zunehmenden Voyeurismus" (Jordanova 1989: 61). Dieser Voyeurismus konnotiert für den 'weiblichen Körper' aber alles andere als "safer sex."
Gleichzeitig sind aber auch neue Phantasien am Werke: Die Photographie spiegelt sich im Motiv des Doppelgängers oder des Schattens ebenso wider wie im Aufkommen eines neuen Liebesideals der Symbiose, der Zweisamkeit, das von den Paaren die völlige Gleichheit verlangt: das "Miteinander-identisch-Sein". Es ist ein Ideal, das das Du – und damit zumeist die Frau – zur Reproduktion des Ichs deklariert. Diese photographische Phantasie findet im Inzest einen besonders deutlichen Ausdruck: Es gibt kaum einen Autor der Liebesliteratur ab etwa 1800, der nicht das Motiv des Inzests aufgreift, vor allem das Motiv einer inzestuösen Beziehung zwischen zwei Geschwistern, die einander ähneln wie ein Ei dem anderen.23 Die Vereinigung mit demselben Blut, mit einem Du, das als Abbild und Erzeugnis des Ichs wahrgenommen wird, wird zum erotischen Ideal einer Geschlechterbeziehung, in der aus der Frau das Kunstwerk schlechthin "im Zeitalters seiner technischen Reproduzierbarkeit" wird.
Wie eng die technischen Sehgeräte mit Gechlechterbildern zusammenhängen, zeigt sich auch daran, daß das Vokabular der optischen Reproduktionstechniken in vielen Fällen mit dem der Gentechnologie identisch ist: Die Photographie erscheint wie die Einübung der Phantasie einer technischen Reproduzierbarkeit des Menschen24 – eine Phantasie, die im 20. Jahrhundert zur "Wissenschaft" geworden ist. Nicht durch Zufall bedient sich Steven Spielberg in JURASSIC PARK (USA 1993) zur Darstellung des 'biologischen' Klonings einer Sequenz, in der sich Richard Attenborough 'filmisch' vervielfacht. Der Wandel des Blicks hat also nicht nur dazu geführt, daß der weibliche Körper "enthüllt" und "durchdrungen" wird, daß er seine "letzten Geheimnisse" preisgibt – und sei es als Leiche auf dem Seziertisch –, er hat auch in einer anderen Hinsicht zur Sichtbarmachung des unsichtbaren Geschlechts beigetragen: Der weibliche Körper erfährt sich als Fabrikat des mechanischen Auges. Auch diese Erfahrung tritt im Unbehagen der Analysandin zutage, von der am Anfang die Rede war: Sie fühlte sich von den Blicken ihres Vaters nicht nur durchdrungen, sondern eben auch von diesen Blicken ihres Erzeugers "erzeugt" – in ihrer physischen, und damit weiblichen Identität (auf die sich sein begehrender Blick richtet) erzeugt.25
Dank des mechanischen Auges erfährt die Vorstellung des "universellen Subjekts", das der abendländischen Philosophie eigen ist, eine neue Dimension: Das Subjekt setzt sein eigenes "Du" (oder Nicht-ich, wie es bei Fichte heißt) durch den Blick, der nicht erwidert werden kann. Dabei entzieht sich das "universelle Subjekt" freilich noch mehr als bisher jeglicher Definitionsmöglichkeit. Was Kobena Mercer in seinem Aufsatz "Rassische Differenz und das homoerotische Imaginäre" schreibt (es geht darin um die Photos von Robert Mapplethorpe), gilt auch für die Geschlechterdifferenz: "Wer ist "er"? Die Identität des herrschenden weißen männlichen Subjekts ist 'das' Enigma der zeitgenössischen Kulturpolitik" (Mercer 1991: 206). Eben dieses Enigma ist aber auch die Basis der Macht des "universellen Subjekts". Die einzige Möglichkeit, das "Subjekt" zu definieren, besteht in der Definition seiner Stellung zum "Objekt", besteht also in der Definition des Objekts, das es – gemäß dieser Definition – zugleich tötet und erzeugt.
In gewisser Weise könnte man sagen, daß die Differenz zwischen dem Sehen und Gesehen-Werden die Geschlechterdifferenz überlagert, vielleicht sogar usurpiert hat. Männlichkeit wird durch Sehen, Weiblichkeit durch Betrachtetwerden definiert. Dabei ist es freilich wichtig, festzuhalten, daß sich diese Definitionsmacht des Blicks keineswegs auf die heterosexuellen Beziehungen beschränkt (ebensowenig wie sie in jeder heterosexuellen Beziehung zutage treten muß). Sie prägt auch das Verhältnis gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Entscheidend ist die Erkenntnis, daß der Betrachter wegen der Art, in der das mechanische Auge sein Objekt "penetriert" als männlich gedacht und das betrachtete Objekt als weiblich wahrgenommen wird – und daß sich diese Form der Wahrnehmung über die Geschlechtergrenzen hinweg bewegt und auch die Selbstwahrnehmung des einzelnen, der einzelnen mitbestimmt. (Man kann sich übrigens fragen, ob diese Universalisierung des Blicks nicht auch einer der Gründe für den Untergang des "universalen Meisterwerks" ist (eine Fiktion, die von jeder Epoche neu bestimmt wird): Das Kunstwerk als Regulator des Blicks erübrigt sich gewissermaßen, weil es ohnehin nur noch den "einen Blick" gibt. Oder um es mit den Worten von Andy Warhol zu sagen: "Eines Tages werden wir alle denken dürfen, was wir wollen – und dann werden wir alle dasselbe denken".)
Diese Überlagerung der "alten" Geschlechtermuster mit den neuen, die vom Sehen bestimmt sind, kann, wie Mark Finch in seinem Aufsatz über die Fernsehserie Dynasty schreibt, u.a. dazu führen, daß der eigene Blick den des anderen Geschlechts überlagert – oder andersherum:
"Frauen sind nicht so trainiert wie Männer, Körper zu objektivieren, was impliziert, daß die Kodifizierung des Mannes in Dynasty nach dem Schema von Playgirl/Cosmopolitan einen schwulen erotischen Bick auf den Mann über die Augen der Frau erlaubt."26
Der "schwule erotische Blick" auf den Männerkörper erklärt auch, warum angebliche "Frauenzeitschriften" wie Cosmopolitan oder Playgirl zumeist von Männern gestaltet werden – und nur dann Verkaufserfolge erzielen: Da wo die technischen Sehgeräte mit ihrem einseitigen Blick ins Spiel kommen, betrachten auch Frauen den Männerkörper mit den Augen von Männern.
Welche Konsequenzen hat diese vom Blick bestimmte Definition von Geschlechtlichkeit für die Geschlechterbeziehung? Eine der wichtigsten Konsequenzen ist die Austauschbarkeit der Geschlechter selbst. Wo der Blick – und nicht etwa die körperliche Beschaffenheit – über die Definition von Geschlecht bestimmt, wird das biologische Geschlecht gleichsam beliebig. Eine andere Konsequenz dieser Entwicklung scheint mir in einem wachsenden Bedürfnis nach Gewalttätigkeit in der Geschlechtlichkeit zu bestehen. D.h. hier geht die Definitionsmacht des einseitigen Blicks über in die Definitionsmacht der einseitigen Berührung. (Das Extrembeispiel dieser Form von einseitiger "Berührung" ist die Folter. An ihr offenbart sich eine der politischen Dimensionen des hier beschriebenen Vorgangs.)
Aber es stellt sich auch die Frage: Gibt es trotz des Einflusses, den das mechanische Auge auf unsere Sehweisen ausübt (und dieser Einfluß gilt für alle, egal ob wir aktive oder passive Benutzer der technischen Sehgeräte sind), gibt es noch eine Art der Betrachtung, die den Dialog 'nicht' ausschließt, eine Art zu sehen, die Eros im Sinne einer gegenseitigen Berührung – die nicht Gewalt beinhaltet – bestehen läßt? Ich will einige 'denkbare' Antworten zu geben versuchen.
Es hat in den letzten hundert Jahren verschiedene Formen gegeben, mit denen "die Weiblichkeit" versucht hat, auf den "berührenden Blick" des mechanischen Auges zu reagieren. Ich sage nicht, daß "die Frauen" darauf reagiert haben; die moderne Kunst überhaupt setzt sich immerzu mit dem Blick des universellen Subjekts auseinander – und wenn es überhaupt eine Gemeinsamkeit gibt zwischen den Ausdrucksformen in der Kunst seit der Geburt der Photographie (egal, ob es sich um die Abstraktion, Konzeptkunst oder Videos handelt), so ist sie vielleicht in der Bemühung zu sehen, den "universellen Blick" zu brechen. Aber die Reaktionsformen, auf die ich eingehen möchte, sind unter Frauen weiter verbreitet als unter Männern. Dabei zeigen sich drei oder vier Grundmuster, die in verschiedenen Varianten auftauchen und die ich kurz skizzieren will.
Die erste von ihnen hat sich vor allem in der Literatur niedergeschlagen und läßt sich als "Umsemantisierung des Todes" (Elisabeth Bronfen) beschreiben: D.h. die Zuweisung der Rolle, 'Objekt des Blicks' zu sein und damit gleichsam als Leiche auf den Seziertisch zerlegt zu werden, wird von einer Frau literarisch aufgegriffen. Aber indem sie darüber schreibt, macht sie sich zum Subjekt dieses Blicks, der auf sie gerichtet ist.27 Auf dieser Reaktionsform basiert die zentrale Rolle des Themas Tod in den Texten vieler Frauen – von den Brontë-Schwestern über Virginia Woolf bis zu Ingeborg Bachmann oder Sylvia Plath.
Eine zweite, diesem Muster verwandte Form der Reaktion sind die weiblichen Eßstörungen: Die Anorexie wird schon wenige Jahre nach der Geburt der Photographie in den Industrieländern zu einer breiten Symptombildung, die seitdem ständig zugenommen hat. 1873 erscheinen im Abstand von wenigen Monaten in London und Paris (also den Wirkungsstätten von Talbot und Daguerre) die ersten großen Untersuchungen über eine Form der Nahrungsverweigerung, die fast nur bei Frauen zutage tritt.28 Auch diese Reaktionsform läßt sich als Versuch begreifen, den weiblichen Körper seiner "Objektivierung" zu entziehen. Durch das Aushungern verweigert er sich dem verschlingenden Blick des sehenden Subjekts. Zugleich weigert sich der anorektische Körper aber auch, von diesem Blick "erzeugt" zu werden; d.h. jene "Weiblichkeit" zu inkarnieren, die ihm das mechanische Auge zugewiesen hat.
"Wenn andere sich ein Bild von mir machen," so hat es eine anorektische Patientin ausgedrückt, "muß ich sterben ...Ich muß dann nämlich dieses Bild sein, wenn ich es nicht mehr bin, bin ich für andere nicht mehr erreichbar."29
D.h. die Nahrungsverweigerung – oder die Beherrschung der eigenen leiblichen Beschaffenheit – dient der Bewahrung einer Definitionsmacht über das Ich; sie wird zum Mittel, Subjekt des eigenen Körpers zu bleiben.30
Es gibt noch eine dritte Reaktionsform, die vor allem in den bildenden Künsten zutage tritt und von die sich am deutlichsten innerhalb der Gesetze bewegt, die das mechanische Auge geschaffen hat: Es geht um Selbstinszenierungen wie etwa denen von Friederike Pezold31 oder um einen maskeradenhaften Umgang mit den Rollen, die der Weiblichkeit zugewiesen werden. Bezeichnend dafür sind die Arbeiten von Cindy Sherman oder die Videoclips von Madonna. Auch die Ensembles von Anna Oppermann, in denen die Künstlerin sich selbst im kreativen Prozeß – beim Sehen – zusieht, gehören in diesen Kontext. Die Maskerade offenbart und karikiert zugleich das Künstliche der "erzeugten Frau". D.h. auch hier macht sich eine Frau, die Künstlerin zum Subjekt einer Rolle, die sie zum Objekt deklariert hat. Daß diese Form des Umgangs zumeist mit der Produktion von Videos einhergeht – also dem Versuch, den eigenen Körper zu präsentieren 'und' sich dabei zu filmen – verweist auf eine Form von Ich-Spaltung, bei der das Ich sein eigenes Du fabriziert. Das Objekt der Betrachtung wird also zum Subjekt, indem es sich selbst objektiviert – hierin dem Vorgehen des mechanischen Auges folgend, das seinen eigenen Anderen erzeugt. Genau diese Form der Vervielfältigung des Ichs spielt auch wiederum in Philosophie und Psychoanalyse32 eine zunehmende Rolle und spiegelt sich in Begriffen wie dem vom "fraktalen Subjekt" bzw. dem Bild der "multiplen Persönlichkeit" wider.
Diesen drei Grundmustern ist jedoch durchweg eigen, daß es sich um eine Form von Entzug handelt: von Entzug aus dem Blickfeld des mechanischen Auges – und sei es in Form einer Ich-Spaltung oder Selbstspiegelung. Es geht also nicht um einen Eros oder einen Dialog der Blicke. So bleibt die Frage bestehen, ob es einen zweiseitigen Blick gibt, der sich innerhalb der einseitigen Sehwelt des mechanischen Auges ansiedelt. Auf diese Frage scheint mir Jane Campions Film THE PIANO (NZ / AUS / F 1993) in mancher Hinsicht eine mögliche Antwort zu geben. Jane Campion, deren Kurzfilme inzwischen auch in einigen deutschen Kinos zu sehen waren, hat sich übrigens in drei von vieren dieser Kurzfilme mit verschiedenen Formen von Mißbrauch auseinandergesetzt. Auch ihr Film AN ANGLE AT MY TABLE (NZ / AUS / GB / USA 1990) kreist um die Frage weiblicher Subjektwerdung – hier allerdings durch das Schreiben.
In THE PIANO geht es vordergründig um ein Dreiecksverhältnis – zwei Männer konkurrieren um eine Frau –, dahinter steht aber die Konkurrenz zwischen einem mechanischen Auge und einem Auge, das die Angst vor der Ohnmacht der Berührung verliert.33 Nicht durch Zufall spielt der Film um 1850, zu einer Zeit also, in der die Photographie begann, die Geschlechterrollen neu zu definieren. Auf eine Daguerrotypie hin entscheidet sich Adas Mann für seine künftige Frau; er mißt die Neuangekommene an dieser Reproduktion, die er zu Rate zieht, bevor er ihr real begegnet: "Ich dachte, Sie seien größer", sagt er. Bates, der später Adas Liebhaber werden wird, blickt auf sie mit dem Wissen, daß sich ihr Anblick – anders als auf dem Photo – von einem Augenblick zum nächsten ändern kann. "Was hältst du von ihr?", fragt ihn Adas Ehemann. "Sie sieht müde aus," antwortet Bates. Eine Hochzeitsfeier findet nicht statt. Ein Photograph erklärt die beiden zu Eheleuten – Ada hat sich dazu als Braut verkleidet. Es kommt auch zu keiner Hochzeitsnacht, zu keiner Berührung. Denn der Ehemann – der die Bedeutung des Pianos für die sprachlose Ada nicht wahrnimmt und ihr deshalb den Transport ins Haus verweigert – der Ehemann sieht in Ada ein Abbild, nicht einen selbständigen Körper, mit dem sein Körper in Dialog zu treten vermag. Adas Weigerung zu sprechen, die an einer Stelle des Films als unerklärlicher Willensakt in der Jugend beschrieben wird, erinnert übrigens in mancher Hinsicht an die anorektische Nahrungsverweigerung. Ich zitiere zum Vergleich aus Valerie Valères "Haus der verrückten Kinder", in dem die Autorin ihre Anorexie und Therapie beschreibt:
"Er kann stundenlang, ja tagelang hier bleiben, er wird meine Stimme nicht vernehmen. Ich werde wenigstens etwas bei mir, für mich behalten. Sie werden mich nicht kriegen, sie werden weder meine Stimme kriegen noch meine Gedanken, nichts...immerhin besitzen sie schon meinen Körper, meine Freiheit, immerhin haben sie einen Teil meines Geistes an sich gerissen. Er wird nichts erfahren, nur ich allein weiß Bescheid."34
Die Beziehung zwischen Ada und ihrem Mann bleibt auf der Ebene des mechanischen Auges: Es ist ein einseitiger Blick. Aber diese Einseitigkeit wendet sich im Verlauf des Films: Der Ehemann, der als Voyeur an der Liebesszene zwischen Ada und Bates teilgenommen hat – die ganze Szene ist so gedreht, daß wir kaum etwas von der Berührung der beiden zu sehen bekommen, wohl aber seinen Blick auf die Szene – dieser Ehemann schließt Ada ins Haus ein. Er vernagelt die Fenster, so daß kein Licht mehr eindringt, so daß sie nichts mehr zu sehen vermag – und ausgerechnet in dieser Situation, als Gefangene seines Blicks, beginnt Ada, ihn streicheln, zum ersten Mal seine Haut zu berühren. Sie erregt ihn – aber sobald er die Berührung erwidern will, entzieht sie sich. D.h. Ada versetzt ihn, der sie in ein Objekt verwandelt hat, in eben jene Situation, mit der nach dem Gesetz des mechanischen Auges Weiblichkeit definiert wird: Er wird zum Objekt, das nicht zurückblicken und auch nicht Subjekt der Berührung sein darf. Er wird der Passivität übergeben und ist in seiner sexuellen Erregung zugleich das Erzeugnis ihrer Berührung.
Die Gleichsetzung von Blick, Berührung und Wirklichkeit taucht auf vielschichtige Weise an vielen Stellen des Films auf – etwa in der Szene des Schattentheaters, wo Blaubart seine Frau mit einem Beil dafür strafen will, daß sie sehen wollte, und die Maoris das Schattenspiel wiederum mit der Wirklichkeit verwechseln. Später, als der Ehemann Ada mit dem Beil einen Finger abschlägt, erweist sich, daß sie recht hatten, das Schattentheater für physische Wirklichkeit zu halten. D.h. das einzige Mal, wo der Ehemann Adas Körper tatsächlich zu berühren vermag, geschieht es, um sie zu kastrieren – nicht nur wegen der phallischen Symbolik des Fingers, sondern auch weil sie diesen Finger braucht, um zu sprechen: am Piano. Als er sie später (in eben diesem kastrierten Zustand) begehrt – Ada liegt inzwischen mit einem Verband an der verwundeten Hand im Bett – und mit ihr schlafen möchte, ist es ein Blick von Ada, der ihn zurückweist und verstummen läßt. Da hört er sie zum ersten Mal sprechen.
Die Beziehung von Bates und Ada, die ebenfalls mit einer einseitigen Machthandlung beginnt, verändert sich im Verlauf des Films in umgekehrter Richtung: Aus einem Handel um Tasten, diesen schwarzen Buchstaben, mit denen Ada schreibt und spricht, wird allmählich ein Dialog des Tastens. Mit fortschreitender Beziehung verlagert sich der Blick in die Berührung – in eine beiderseitige Berührung. Aber nicht nur die Berührung, auch das Sehen wird zweiseitig – und bei der Entstehung dieser Zweiseitigkeit spielt wiederum der Zuschauer eine entscheidende Rolle. Hier offenbart sich für mich der entscheidende Kern der Möglichkeiten, von denen dieser Film erzählt: Der Zuschauer wird gleichsam zum Garanten dafür, daß auch innerhalb einer Sprache, die vom mechanischen Auge bestimmt wird, ein Dialog entstehen kann. Er nimmt den Ort des Dritten ein, der verhindert, daß Ada 'oder' Bates zum alleinigen Objekt des Blicks und der Berührung werden. Bates wird zwar zunächst als das Subjekt des Begehrens dargestellt – er ergreift die Initiativen, die das Drama in Bewegung setzen – doch für den Zuschauer wird er zum Objekt des Begehrens: nicht nur weil sein Gesicht auffällig markiert ist, nicht nur weil wir wiederholt seinen – und nicht Adas – entkleideten Körper zu sehen bekommen (er ist das "erotische Objekt", ohne daß sein Körper dabei den Anschein der "Männlichkeit" einbüßt), sondern auch weil Adas Stummheit, die dem Zuschauer Raum für eigene Worte und eine eigene Wahrnehmung läßt, auch ihr Blick, mit dem sie den Ehemann abweisen oder die Nähe des begehrten anderen herbeizurufen vermag – all das (mehr noch als die Tatsache, daß wir sie am Anfang des Films "ich" sagen hören) lädt den Zuschauer dazu ein, sich selbst an ihre Stelle zu setzen. Damit wird aber auch das Begehren des Zuschauers auf Bates gelenkt. Der Film ist so konstruiert, daß sich hinter der Dreiecksbeziehung von Bates, Ada und ihrem voyeuristischen Ehemann ein Dreieck zwischen Ada, Bates und dem voyeuristischen Ich des Zuschauers entfaltet: Bates betrachtet Ada, die wiederum mit unseren Augen auf Bates blickt. Wir sind Subjekt und Objekt der Betrachtung, des Begehrens und der Berührung: Wir sehen uns selbst beim Sehen zu. Durch eben dieses Dreieck aber öffnet sich die Möglichkeit eines dialogischen Blicks – und damit eröffnet sich auch innerhalb der technischen Sehwelt ein Raum, in dem allein sich das Unberechenbare und Unverfügbare – kurz: Eros – und das Subjekt selbst zu bewegen vermag.
Es gibt kein Subjekt ohne die Präsenz eines Anderen. Innerhalb einer Welt des Sehens, in der sich das Ich und das Du überlagern, bedarf es eines dritten Auges, das die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen sichert und aufrechterhält – und in Notsituationen erschafft sich das Selbst diesen Dritten in Eigeninitiative. Ich erinnere an den berühmten Fall von Miss Beauchamps – der um 1905 zum klassischen Beispiel des borderline35 – wurde. Bei der Behandlung von Miss Beauchamps, deren verschiedene Persönlichkeiten nichts voneinander zu wissen schienen, trat eine dritte Persönlichkeit zutage – "Sally" –, die die anderen beobachtete und jede ihrer Bewegungen im Auge hatte. "Sally" entsprach diesem dritten Auge, das dem Ich die Spaltung in viele Ichs – oder Andere – erlaubte und es zugleich vor dem Absturz in die psychotische Katastrophe schützte.
Der Beitrag ist in überarbeiteter Fassung Teil des neuen Buches von Christina von Braun (2001) Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Zürich/ München: Pendo.