"Das Verbrechen des Gefreiten Lortie"
Fürwahr, da naht der Gebieter selbst,
In den Armen ein sichtbares Zeugnis –
Darf ich es sagen? – nicht fremden Frevels,
Nein, was er selbst verschuldet!
(Chor, Antigone)
Als ich das Video gesehen habe, hat mir das wirklich
sehr wehgetan. Das war unerträglich...
(Denis Lortie)
Ein Gefreiter der kanadischen Armee, Denis Lortie, stürmte am 8. Mai 1984 die Nationalversammlung in Québec und wollte die Regierung töten. Der Sitzungssaal war zu diesem Zeitpunkt leer, die Versammlung tagte nicht. Beim Amoklauf durch die Flure bis in den Saal wurden drei Menschen getötet und acht verletzt. Gefragt nach den Gründen für die Tat gab Lortie zu Protokoll: "Die Nationalversammlung von Québec trug das Antlitz meines Vaters" (Legendre 1999: 25). Der Fall beschäftigte die amerikanische Presse. Als man dem Täter in der zweiten Gerichtsverhandlung Bilder seiner Tat anhand der Aufzeichnungen der Video-Überwachungskameras der Nationalversammlung vor Augen führte, brach er zusammen.
Gemäss den Ausführungen des Rechtshistorikers und Psychoanalytikers Pierre Legendre handelt es sich bei der Aufzeichnung nicht um ein gewöhnliches Beweisstück in einem Strafprozess. Im spezifischen Fall Lortie füllt die Videokamera die Leerstelle des Subjekts. Die Aufzeichnung zeigt "Lortie im Theater des Todes. Zum einen agiert er auf der Leinwand, zum anderen aber, auf einer zweiten Ebene des Schauspiels, ist Lortie auch der Zuschauer seiner selbst" (Legendre 1999: 98). Aus der Perspektive Pierre Legendres übernehmen die Überwachungsbilder einen Status, der neben der einfachen Beweisführung in einem Strafprozess in letzter Konsequenz die 'Heilung' des Amokläufers in den Blick geraten lässt. Vergleichbar mit dem Spiegel in der Ordnung der Lacanschen Psychoanalyse, der eine zentrale Schnittstelle in der Konstitution des menschlichen Subjekts darstellt, kann der Status der Videoaufzeichnung angesehen werden.
Pierre Legendre nimmt das Tatmotiv des Angeklagten – "Die Nationalversammlung von Québec trug das Antlitz meines Vaters" buchstäblich und behandelt das Verbrechen als einen Fall von Vatermord. Die gedankliche Folie, auf der der Fall ausgebreitet und auf die Funktion der Überwachungsbilder eingegangen wird, ist eine mythologische und psychoanalytische, in der die Frage der Genealogie zentrale Bedeutung einnimmt: um als Subjekt zu existieren, muss der Mensch die Trennung vollziehen. Die Figur des Vaters fungiert im Prozess der Trennung als Figur des Dritten, als Repräsentant des Gesetzes.
"Die Genealogie umfasst für jede Generation zugewiesene und untersagte Plätze. Man ist nicht zugleich Sohn und Vater, Tochter und Mutter für die gleiche Person. Das Gleiten auf der genealogischen Achse, der Übergang vom Kind- zum Elternsein, ist das heikelste Manöver des symbolischen Platztauschs. Es ist nicht selbstverständlich, sondern kostet etwas. Nicht nur kommt der Platztausch um den Preis dessen zustande, was man den symbolischen Mord des Vaters durch den Sohn nennt, er verlangt auch vom Sohn den Preis seines eigenen, ebenfalls symbolischen Todes als Sohn zugunsten des Neugeborenen."1
Denis Lortie wird in seiner Prägung als Sohn beschrieben, der den symbolischen Platztausch nicht vollzogen hat. Als Sohn eines brutalen und rohen Vaters, der keinerlei Beschränkungen kannte, verfolgt ihn die Befürchtung, ebenfalls so zu werden. Mit der Geburt des eigenen Sohnes Luc 1980 wird der Angst ein Körper gegeben.2 Die Geburt der Tochter 1983 wird als Steigerung der Angst beschrieben:
"Je näher die Geburt der zweiten Tochter rückte, desto grösser wurde die Unruhe, die ihn überkam und gleichsam unter sich begrub. "Wenn ich’s genauer sagen wollte, würde ich das Angst nennen." Angst wovor? Die Antwort ist in einem Satz enthalten, in dem Lortie seinen (zugleich zufriedenen und beunruhigten) Zustand bei der Geburt Lucs beschrieb: "Zufrieden war ich, weil ich sagen konnte, 'schön, das ist jetzt das Kind von uns beiden'. Und die Unruhe, von der ich nie jemandem etwas gesagt habe, kam daher, dass ich mich fragte, ob ich nach allem was ich erlebt hatte, genauso sein werde? Wird jetzt dasselbe noch einmal passieren?" (Legendre 1998: 88)
Unter Verweis auf die Befürchtung, zu werden wie der eigene Vater, der ihm (Lortie) und der Familie eine lange Passionsgeschichte mit Misshandlungen und Missbrauch aller Art zufügte, nimmt der Eintritt Lorties in die Vaterschaft eine "apokalyptische Dimension" an. "Noch die kleinste und flüchtigste Erziehungsgeste seinem eigenen Kind gegenüber erscheint Lortie als ein unerträglicher Gewaltakt." (Legendre 1998: 89)
Der nicht vollzogene Platztausch und seine Effekte - die Angst vor der eigenen Vaterschaft und weiter die Schuld gegenüber der Familie – bieten sich rückwirkend als Erklärungen für die verübte Gewalttat an. Im Kontext der Lektüre des Falls durch Legendre werden beide Elemente (der nicht vollzogene Platztausch und die verübte Gewalttat) jedoch gerade nicht in einen einfachen kausalen Zusammenhang gestellt, sondern als Elemente einer Tragödie behandelt.
"Wenn Lortie sich (...) über sein bevorstehendes Verbrechen ausspricht, als Akt, der unbedingt und notwendig ausgeführt werden muss, dann rühren wir an den Kern der Tragödie. "Was ich tue oder noch tun werde, ich weiss nicht warum, ich muss es tun, ich kann nicht anders." (Legendre 1998: 92)
Nachdem sich der tragische Konflikt mit dem (Gesetz des) Vater(s) in den Amoklauf entladen hat, ist die 'Tragödie Lortie', um vorläufig in diesem Bild zu bleiben, noch nicht am Ende. Der Vatermord wurde vorbereitet und angekündigt, wurde aber nicht verübt, auch nicht in einem übertragenen Sinne als Mord an den Mitgliedern der Nationalversammlung. In verschiedenen griechischen Tragödien, so beispielsweise in Euripides‘ Iphigenie, wird eine an sich unlösbare Verwicklung kurz vor der Katastrophe durch den Machtspruch eines mittels Maschinerie von oben auf die Bühne herabgelassenen Gottes (Deus ex machina) gelöst. In der Tragödie Lorties nehmen die Überwachungsbilder des Amoklaufes, die dem Angeklagten in der zweiten Gerichtsverhandlung vorgeführt werden, eine vergleichbare Funktion ein.
Im Prozess fungieren die Überwachungsbilder für den Angeklagten als Wiederholung im Sinne eines "feierlichen Eingedenkens".
"Ich will damit sagen: Lortie wurde durch diese Bilder dazu gebracht, eines subjektiven Todes zu gedenken. Er ist der Überlebende eines Totalausfalls der Vernunft, jemand, der heil aus dem Zustand eines totalen Sebstverlustes zurückgekehrt ist (...) Zum ersten Mal in seinem Leben ist das Subjekt Lortie dazu aufgerufen, und zwar auf eine radikale Art und Weise, in der Dimension des Dritten sich von sich selbst getrennt zu sehen (...) Der Lortie, der den Videofilm betrachtet, steckt nicht mehr in der Haut des Rächers Lortie." (Legendre 1998: 101)
"Die Videoaufzeichnung spielt, so gesehen, die Rolle des Deus ex machina in einem streng theatralischen Sinn. Sie hat den Status einer symbolischen Vermittlungsinstanz, die den Mord in eine Mordszene verwandelt (...) Diese plötzliche Neudefinition der gesamten Situation durch die Verwandlung eines Mordes in eine Gründungsszene kann freilich nur in dem Maße wirksam werden, wie sie mit einer Veränderung der Problematik des Bildes einher geht, die dem kriminellen Subjekt innerhalb des rituellen Rahmens ermöglicht wird." (Legendre 1998: 102)
Im Hinblick auf den Status der Überwachungsbilder aus der Perspektive Legendres erscheinen drei Aspekte zentral. Der erste Aspekt betrifft die Betrachtung des Falls als Tragödie. Die Überwachungsbilder übernehmen darin die Rolle des Deus ex machina, d.h. sie entwirren die Fäden des für unlösbar gehaltenen Konflikts. Der zweite Aspekt betrifft das Verständnis von der Wiederherstellung der Ordnung und insbesondere die Rolle, die das Gericht darin einnimmt. Das Gericht erscheint als ein Ort, an dem eine Übertragung möglich wird. Die Situation des Angeklagten erinnert stellenweise an die des Analysanden in der Psychoanalyse. Der dritte Aspekt betrifft die Behandlung der Überwachungsbilder anhand ihrer Zurschaustellung vor Gericht als Aufführungsereignis. Die einmalige Situation der Aufführung der Bilder vor dem Angeklagten wird untersucht. Die Semantik der Bilder sowie das Dispositiv der Aufnahme werden vernachlässigt zugunsten der Betrachtung der Reaktion des Angeklagten als Zuschauer.
Das Sich-selbst-Gewahrwerden-als-ein-Anderer wird rückgebunden an den theatralen Rahmen der Ereignisse und mithin an die "formale Durchführung des Akts und deren institutionelle Rhetorik" (Legendre 1998: 94). Diese Ebene der Beschreibung des Falls fokussiert den performativen Gehalt des Verbrechens. Etwa wird der Amoklauf als "delirante Zeremonie" (Legendre 1998: 93) bezeichnet. Anhand seiner Vorbereitungen wird der theatrale Rahmen des Verbrechens veranschaulicht, in dem spezifische Kleidungsstücke und Utensilien zum Einsatz kommen.
"Am Morgen des 8. Mai 1984 zieht der Gefreite Lortie seinen sorgfältig gebügelten Kampfanzug an, schnürt seine sauber geputzten Stiefel und befestigt sein Gefreitenabzeichen an seiner Jacke. Er beginnt den letzten Tag seines Lebens in korrekter Kleidung. Als richtiger Kämpfer nimmt er lediglich seine Erkennungsmarke mit." (Legendre 1998: 95)
Der theatralische Rahmen der Ereignisse3 wird weiter auch im Hinblick auf die Situation vor Gericht herausgestellt. Dabei gerät die Inszenierung der Gerichtsverhandlung in den Blick.
"Für den Fall Lortie bedeutet das, dass die Chance, die dem Angeklagten gegeben wird, seinen Platz als Mensch in der Menschenherde, wenn ich so sagen darf, wieder einzunehmen, sich wesentlich der Ritualität dieses Angebots verdankt" (Legendre 1998: 102). Nur dann, wenn man das Richteramt in einem Raum ansiedelt, in dem die Prozesssituation nicht als Duell zwischen dem Verbrecher und der Rechtsinstanz begriffen wird, "kann es als strukturaler Raum der Übertragung wirksam werden, und zwar mit sämtlichen Effekten, die eine Übertragung für das angeklagte Subjekt mit sich bringt. Das zwingt zu einer Neubewertung der Ritualität des Rechts. Durch sie nämlich, wird die Projektion des Subjekts in einen Raum der Übertragung möglich, in dem es sich als menschliches Subjekt hören und sehen kann, als Subjekt, das de jure gespalten ist, das heisst im Namen des Gesetzes, das über das Subjekt hinausgeht." (Legendre 1998: 101)
In der Vorführung der Überwachungsbilder ist der Angeklagte einem Bild ausgesetzt, das ihn als Rächer und gleichsam als Todgeweihten zeigt. Die Aufzeichnungen des Verbrechens zeigen Lortie identisch mit sich selbst im unmittelbaren Handeln.4 Die Kamera hat die delirante Szenerie aufgezeichnet und insofern eine Position getrennt vom Subjekt eingenommen. Die Kamera füllt die Leerstelle des Subjekts.
Jenseits der Perspektive Legendres erweist sich zusätzlich auch die Betrachtung der Bilder selbst als aufschlussreich. Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Sitzungssaal der Nationalversammlung zeigen Lortie auf dem Platz des Präsidenten. Auch ohne zu wissen, dass dies der Platz eines anderen ist, der getötet werden sollte, erscheint Lortie / der Soldat in Kampfmontur hier deplaziert. Welcher Art ist dieser Platz, den Lortie als den Platz des Vaters bestimmt? In Québec trägt der Platz des Präsidenten der Nationalversammlung den Namen "L'Orateur",5 was ins Deutsche übertragen "der Platz des Redners", des "Wortführers" oder des "Sprechers" heisst. Anstatt auf dem Platz des Redners das Wort zu ergreifen, agiert Lortie in einem betont physischen Sinne. Er entfernt seine Zahnspange und wirft sie weit von sich. Sein Barett hat er abgenommen und über das Mikrofon gehängt. Mit dem Bild vom Soldaten auf dem Platz des Präsidenten wird Legendres Theorie des Platztausches ein Bild gegeben.
In MENACE II SOCIETY (USA 1993) eignen sich die Täter des Überfalls auf einen Supermarkt das Videoband, das sie belasten könnte, an. In BENNY'S VIDEO (Ö / CH 1992) wird keine aktive Aneignung des Videobandes im Anschluss an die verübte Tat gezeigt, sondern die Kamera wird als Handlungsimperativ eines Mordes inszeniert. Weiter lassen sich die Selbstbeobachtungen per WebCam anführen, die ebenfalls ein aktiver Gebrauch von Überwachung kennzeichnet; der Umgang mit dem eigenen Überwachungsbild ist hier ein kreativer. Die Selbsterfahrungsbilder sind auf einer ähnlichen Ebene anzusiedeln wie die Aufzeichnungen der eigenen Träume, nach denen die Menschen in Wenders Film BIS ANS ENDE DER WELT (AUS / D / F 1991) süchtig sind.
Anders verhält es sich mit den Überwachungsbildern, die nicht entwendet oder vorsätzlich angeeignet werden und die der Ermittlung von Verbrechen dienen. Das Charakteristische dieser Bilder kann darin gesehen werden, latent zu existieren und erst nachträglich anlässlich einer Straftat oder Auffälligkeit zu Bildern zu werden.6 Sie verweisen auf ein Geschehen im Futur II, das gewesen sein wird. Im Fall Lortie wird der Verweis auf ein Geschehen im Futur II auf eine beinahe geisterhafte Weise verdoppelt. Verfasst in einer Bildform, die auf die vollendete Zukunft verweist, zeigen die Überwachungsbilder im Fall Lortie den symbolischen Platztausch des Sohnes zum Vater, der zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht vollzogen ist und sich erst im Aufführungsereignis der Bilder vor dem Angeklagten vollzogen haben wird.
Legendre, Pierre (1989) Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Freiburg.
Legendre, Pierre (1999) Die Fabrikation des abendländischen Menschen. Wien.
Legendre, Pierre (1985) L'inestimable object de la transmission. Etude sur le principe généalogique en Occident. Paris.
Pornschlegel, Clemens / Thüring, Hubert (1998) Warum Gesetze? Zur Fragestellung Pierre Legendres. Nachwort von Legendre, S. 169-203.
Butler, Judith (1990) Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt, M. 1991.
Pauleit, Winfried (2001) Videoüberwachung und postmoderne Subjekte. Ein Hypertext zu den Facetten einer Bildmaschine, in dieser Ausgabe.